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4. VOM JURISTEN ZUM PARTEIFUNKTIONÄR

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Die Arbeit in der Staatsanwaltschaft Stawropol behagt Michail Gorbatschow nicht, was er schon nach einigen Tagen merkt. Daher entschließt er sich zu einem sehr ungewöhnlichen Schritt, der mit Systemkritik zwar nichts zu tun hat, aber doch persönlichen Mut erfordert. Gorbatschow sucht das Parteikomitee der Region Stawropol auf. Wem dort das Verdienst gebührt, die wichtige berufliche Weiche – weg vom Juristen und hin zum Politiker – im Leben Gorbatschows gestellt zu haben, ist unstrittig. Es war der damalige stellvertretende Abteilungsleiter für Parteiorganisation, Nikolaj Timofejewitsch Porotow.

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Ich suche Porotow im Herbst 2019 auf, und er empfängt mich in seiner Stawropoler Wohnung in der Dserschinski-Straße. Er ist 95 Jahre alt, noch rüstig, und er erzählt gern. „Diese Wohnung habe ich 1975 zugeteilt bekommen mithilfe von Gorbatschow, der damals hier Erster Parteisekretär war; seither lebe ich hier.“1 Als ich ihn bitte, mir die Geschehnisse der 1950er-Jahre zu schildern, gibt er bereitwillig Auskunft.

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Porotow bekommt im Sommer 1955 einen Anruf vom Wachmann am Eingang des Parteigebäudes. Ein junger Mann bitte darum, empfangen zu werden. Diesem Besucher, keinem anderen als Michail Gorbatschow, wird Einlass gewährt. Er stellt sich Porotow vor, skizziert seine bisherige Vita und erkundigt sich nach Möglichkeiten der Beschäftigung. Porotow drängt entsprechend der ungeschriebenen Kadergesetze zunächst darauf, einen möglichen Wechsel mit seiner Dienststelle abzuklären: „‚Nur unter der Bedingung‘, sagte ich zu Mischa, ‚dass der Staatsanwalt dich gehen lässt. Wenn das der Fall ist, sprechen wir uns wieder.‘“2 Gemeint war Wasili Petuchow (1916–2003), der höchste Staatsanwalt der Region und ein angesehener Mann, der in der Chruschtschow-Ära viel für die Rehabilitierung der Stalin-Opfer tun sollte. Bedrückt erwidert Gorbatschow, er glaube nicht, bis zum Staatsanwalt vorgelassen zu werden. Doch als er das Büro verlässt, ruft Porotow den Staatsanwalt an und bittet diesen, Gorbatschow zu empfangen.3

Wie das Gespräch zwischen dem Staatsanwalt und Gorbatschow verlaufen ist – darüber gibt es zwei Versionen. Nach Gorbatschows Darstellung war es unangenehm, und er habe sich Vorwürfe anhören müssen. Dagegen behauptet Porotow, Gorbatschow sei später zu ihm ins Büro zurückgekommen und habe sich sehr freundlich und positiv über den Staatsanwalt geäußert. Gorbatschow habe gesagt, Staatsanwalt Petuchow sei schwer in Ordnung. Letzterer schickte Gorbatschow Jahrzehnte später zwei seiner Bücher mit persönlichen Widmungen. Darin gratuliert er ihm zu seinem Aufstieg und hebt seine damalige Entscheidung als richtig hervor, Gorbatschow keine Steine in den Weg gelegt zu haben. Letzterer legt in seinen Memoiren dennoch dar: „Damals [1955 – I.L.] hinterließ das Gespräch mit Petuchow einen unangenehmen Nachgeschmack.“ Im selben Atemzug lobt er den Staatsanwalt als prinzipienfesten Mann, wovon er sich auch später wiederholt habe überzeugen können.4

Wie auch immer die Unterredung zwischen dem Staatsanwalt und Gorbatschow tatsächlich ablief, sie verschaffte Porotow, der sie eingefädelt hatte, Handlungsspielraum. Nach Porotows Darstellung habe ihm der Staatsanwalt erlaubt, Gorbatschow zu nehmen, weil dieser ein anständiger Bursche zu sein scheine.5 Seinem ersten Vorschlag, als Komsomol-Sekretär für die Landwirtschaft anzufangen, sei Gorbatschow allerdings ausgewichen, so Porotow. Er habe gesagt, seine Frau leide an einer Schilddrüsenerkrankung. Zudem sei diese Stelle weit weg, irgendwo in der Steppe. Dort werde sie sicher keine adäquate Arbeit finden. Das zweite Angebot hingegen, als Instrukteur des Komsomol zu arbeiten, schlug er nicht aus. Gorbatschow nahm es mit den Worten an: „Wenn Sie mir das zutrauen, ja“. Daraufhin – so die weitere Darstellung Porotows – habe er den Leiter des Komsomol der Region Stawropol angerufen, Viktor Mironenko, den er bat, Gorbatschow zu empfangen und zu schauen, ob er Verwendung für ihn habe, da er einen guten Eindruck mache. 6

Das Treffen zwischen Mironenko, dem Ersten Sekretär des Komsomol, und Gorbatschow verlief beiden Seiten zufolge sehr gut und war entscheidend für die berufliche Neuausrichtung des unglücklichen Nachwuchsjuristen. Entsprechend habe Mironenko Porotow angerufen und gesagt: „Ein guter Bursche. Moskauer Universität, kennt sich auf dem Land aus, schnelle Auffassungsgabe, kann gut reden. Was will man mehr? Wir haben hier eine freie Stelle: stellvertretender Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda. Das würde passen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Porotow hatte keine Einwände.7

In Gorbatschows Büchern findet Porotow, der doch eine zentrale Rolle in seinem Leben spielte und zuständig war für die Parteiorganisation, keinerlei Erwähnung. Fakt ist, dass sich dieser in späteren Jahren negativ über den Kreml-Chef geäußert hat, ihn als „eitel“ beschrieben hat, als „schnell beleidigt“ und sogar als einen „Mann mit zwei Gesichtern“, der „unterschiedliche Dinge zu verschiedenen Menschen sage“.8 Und auch Viktor Mironenko, der beim Wechsel Gorbatschows in die Politik eine wichtige Figur war, findet in dessen Memoiren von 1995 nur kurze Erwähnung. 2015 erinnerte sich Gorbatschow immerhin an die Schlüsselszene von 1955, wenn auch anders als Porotow.9 Im Gespräch mit Mironenko klagte Gorbatschow nach eigener Darstellung weniger über die Arbeit in der Staatsanwaltschaft, sondern er habe vielmehr betont, warum er sich in der Parteijugend engagieren wolle: „Ich war all die Jahre im Komsomol, sodass ich das für meine Berufung halte. Ich habe Erfahrung und vieles mehr, sagte ich zu ihm.“10

Viktor Mironenko war somit der erste Vorgesetzte Gorbatschows. Er war zwei Jahre älter und verstarb 2018. Dass er es war, der Gorbatschow aufnahm und ihm seinen ersten Posten als Parteifunktionär gab, findet jedoch nur selten Erwähnung. Es ist offensichtlich, dass Mironenko nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht mit Gorbatschow in Verbindung gebracht werden wollte, ja, dass er ihre gemeinsamen Jahre in Stawropol verleugnete. Sein ganzes Berufsleben verbrachte er in der Partei oder in staatlichen Funktionen, die von der Partei abhingen. Und in der postsowjetischen Zeit war es in kommunistischen Kreisen, denen Mironenko treu geblieben war, schlicht nicht en vogue, etwas mit Gorbatschow zu tun zu haben – und schon gar nicht als sein früherer Förderer dazustehen.

Ganz anders verhält sich der ehemalige Frontkämpfer Porotow: Er verleugnete nie, dass er Gorbatschow in den Parteisattel half, selbst wenn auch er offenbar noch heute damit hadert. Er veröffentlichte 1992 sogar eine Broschüre mit dem Titel: „Unvergessenes aus dem Leben und der Tätigkeit von M. S. Gorbatschow in Stawropol“. Diese Broschüre ist Bestandteil seiner mehr als 200 Seiten starken Sammlung von Artikeln, Reden, Interviews und Aufsätzen, die einige Jahre später in Buchform erschien.11 Obwohl er Gorbatschow zum Teil wegen seiner Perestroika-Politik scharf und öffentlich kritisierte, bekennt er: „Ich habe mit ihm auf persönlicher Ebene kein Problem.“12 2018 gratulierte er Gorbatschow sogar telefonisch zum Geburtstag.13 Danach gefragt, wie er dazu komme, jemandem, der öffentlich ein politischer Verräter der Sowjetunion und der kommunistischen Partei genannt wurde, zu gratulieren, erklärt er bloß: „Wir sind doch jetzt alle alt. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“14

William Taubman bezeichnet Nikolaj Porotow in seiner Gorbatschow-Biografie als den ersten Vorgesetzten Gorbatschows („Gorbachev’s first boss“).15 Diese Darstellung ist nicht zutreffend. Die Bestätigung dafür liefert nicht nur Porotow selbst: „Ich war nicht Gorbatschows Vorgesetzter. Ich habe ihm lediglich geholfen, von der Staatsanwaltschaft in die Parteiarbeit zu wechseln.“16 Auch Gorbatschow stellte klar, Viktor Mironenko sei sein erster Chef gewesen.17

Porotow kämpfte 1942 im Nordkaukasus gegen die Deutschen und deren Verbündete und wurde mehrfach ausgezeichnet. Ebenso wie Michail Gorbatschows Vater Sergej erlebte er den besonders brutalen Nahkampf. Einmal, so erzählt er, warf er eine Handgranate in Richtung des deutschen Schützengrabens, traf sein Ziel aber nicht. Nach der Explosion streckte ein Wehrmachtsoldat den Kopf aus dem Graben, erblickte Porotow und flehte um sein Leben – mit Worten, die Porotow nicht alle verstand. Doch er hörte den Todgeweihten verzweifelt rufen: „Meine Kinder! Meine Kinder!“ Dennoch streckte er alle drei Wehrmachtsoldaten im Schützengraben nieder. Mitleid habe er keines empfunden, schließlich hatten sie zuvor seine Freunde und Kameraden getötet.18

Porotow, in dessen Wohnung ein großes Stalin-Porträt hängt, war immer Kommunist, und er bekennt, die Partei sei sein Lebensmittelpunkt gewesen und habe ihn als Person geformt.19 Politisch musste es daher unweigerlich zwischen ihm und Gorbatschow zum Bruch kommen. Doch dass Porotow nichtsdestotrotz eine wichtige Rolle gespielt hat, deutet Gorbatschow indirekt selbst an. In seinen Memoiren schrieb er: „Meine Situation wurde dadurch erleichtert, dass Mironenko meinen Wechsel zur hauptamtlichen Tätigkeit im Jugendverband mit dem Regionsparteikomitee abgesprochen hat.“20 Mit wem Mironenko genau sprach, lässt Gorbatschow offen.

Da in der sowjetischen Ära Staatsanwälte und Richter verlängerte Arme der Partei waren, stand im Streitfall fest, wer das Sagen hatte. Ob die Vorgesetzten sich tatsächlich vor den Kopf gestoßen fühlten, weil der Nachwuchsjurist mit Moskauer Universitätsabschluss schon nach einer Woche genug hatte und gehen wollte, bleibt unklar. Doch nach den damaligen Regeln wäre Gorbatschow verpflichtet gewesen, drei Jahre lang die zugewiesene Stelle auszuüben. Entsprechend habe ihn die Personalabteilung der Staatsanwaltschaft – „Abteilung für Kader“ – von oben herab behandelt, klagte Gorbatschow.21 Ob das stimmt, kann nicht mehr verifiziert werden.

Sicher aber war ein junger Jura-Absolvent mit einem ausgezeichneten Diplom der renommiertesten Universität des Landes etwas Besonderes in der Provinz. Hier genoss er die Aura eines „jungen Mannes von Welt“, was möglicherweise auch Neid hervorrief. In einem Brief an Raissa, die zum Zeitpunkt des Berufswechsels ihres Mannes noch gar nicht in Stawropol angekommen war, schrieb er: „Man hat in der Staatsanwaltschaft noch mal mit mir gesprochen.


8 Nikolaj Porotow, geb. 1924, half Gorbatschow entscheidend bei seinem Berufswechsel vom Juristen zum hauptamtlichen Parteifunktionär, zunächst im Jugendverband der KP.

Jeder dort schimpfte mit mir nach Belieben. Man einigte sich auf meinen Weggang – hin zum Komsomol des Gebietes.“22 Dieser Propaganda-Posten stand in der Parteihierarchie zwar ganz unten und gehörte noch nicht einmal zum Parteiapparat selbst. „Aber dann ging es mit der Karriere bergauf“, konstatierte Gorbatschow 2015 nüchtern.23

1955 waren die Rechtsorgane hoffnungslos überfordert mit den unzähligen Rehabilitierungsanträgen von politisch Verfolgten und ihren Angehörigen. Doch diese Fälle waren nichts für Berufsanfänger – damit wurden nur erfahrene Juristen betraut. Und die Aktenarbeit lag Gorbatschow nicht so sehr wie der direkte Kontakt mit den Menschen, was zum Anforderungsprofil seiner neuen Arbeitsstelle gehörte.

Gorbatschow

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