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Junges Glück mit Rückschlägen

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So schön die Hochzeitsfeier mit den rund 30 Kommilitonen auch gewesen war, so glücklich das junge Paar auch in die gemeinsame Zukunft startete – schon bald war der erste private Rückschlag zu überwinden. Raissa wurde zwar schwanger, doch es traten Komplikationen auf. Erst 2012 äußerte sich Michail Gorbatschow zu dieser schweren Phase.

Wir vergaßen alles um uns herum und waren nicht darauf vorbereitet, dass Raissa schwanger wurde. Die Sache war die, dass sie ein Jahr zuvor eine schwere Form des Rheumas durchleben musste. All das – die Krankheit und die Behandlung – wirkten sich sehr auf ihre Herzfunktion aus. Die Ärzte sagten: „Wir können nicht garantieren, dass es mit der Geburt klappt. Daher wird zu entscheiden sein müssen: entweder das Leben der Mutter oder das Leben des Kindes.“ Wir wussten nicht, was wir tun sollen. Raissa weinte die ganze Zeit. Ich sagte zu ihr: „Wir werden noch Kinder gemeinsam haben. Aber jetzt müssen wir tun, was die Ärzte sagen.“ In der Geburtsklinik an der Schabolowskaja [Moskauer Ausfallstraße Richtung Süden – I.L.] unterzog sie sich dann der Operation.“19

2014 offenbarte Gorbatschow gegenüber der populären Zeitung Komsomolskaja Prawda, dass es ein Sohn geworden wäre, und noch etwas später, anlässlich seines 88. Geburtstags 2019, verriet er der Zeitung, wie er hätte heißen sollen: „Sergej. – Sergej Michailowitsch – das wäre schön gewesen.“20 Raissa erholte sich. Die Ärzte hatten ihr empfohlen, sich in ein gesünderes Klima zu begeben. Da bot sich der Nordkaukasus an, zumal sie sich dort auch endlich den Schwiegereltern vorstellen musste.

Im Sommer 1954 ist es so weit: Als Michail und Raissa in Priwolnoje ankommen, schauen sie zuerst bei Großmutter Wasilisa vorbei, weil es auf dem Weg zum Haus der Eltern liegt und weil Großvater Pantelej im Herbst 1953 gestorben ist. Die Witwe empfängt beide sehr herzlich und mit offenen Armen, macht Raissa sogar Komplimente zu ihrem Aussehen. Danach geht es zum Haus der Eltern:

Raissa hat meinem Vater sofort gefallen. Er nahm sie wie eine Tochter auf. Seine Gefühle gegenüber Raissa bei dieser ersten Begegnung blieben und hielten für immer an. Aber bei meiner Mutter war alles ganz anders. Eine warmherzige Begegnung kam nicht zustande. Im Großen und Ganzen war sie auf Raissa eifersüchtig. In jenen Tagen machte sie mir Vorhaltungen: „Was hast du da für eine Schwiegertochter mitgebracht? Die wird doch nicht anpacken und sie wird keine Hilfe sein.“ Ich entgegnete: „Sie hat das Universitätsstudium abgeschlossen und wird lehren.“ Mutter darauf: „Und wer wird uns helfen? Du hättest lieber eine Frau von hier nehmen sollen!“21

Doch Gorbatschow stand unverrückbar zu seiner Frau und zeigte klare Kante. Nie zuvor und nie danach war er so deutlich gegenüber seiner Mutter Maria: „Ich will dir jetzt mal was sagen, was du dir für immer merken musst! Ich liebe sie. Sie ist meine Frau. Nie wieder wirst du zu mir irgendetwas in dieser Richtung sagen!“ Sie fing an zu weinen, was dem Sohn zwar leidtat, aber er hielt es für nötig, „das ein für alle Male klarzustellen“.22 Dennoch gab sich die energische Maria wenig versöhnlich gegenüber Raissa, die nur mit den besten Absichten nach Priwolnoje gekommen war. Einmal nötigte die Schwiegermutter sie, Wasserkübel aus dem Brunnen zu ziehen, um damit den Garten zu wässern. Schwiegervater Sergej sah das jedoch, erfasste sofort die Situation und sprang Raissa mit den Worten bei: „Lass uns beide das zusammen machen.“23 Es sollte lange dauern, bis sich die Spannungen zwischen Gorbatschows Mutter und Raissa legten und alles in halbwegs normalen Bahnen lief.

Das junge Paar reiste zurück nach Moskau, wo sich die Frage stellte, wie es beruflich weitergehen sollte. Raissa legte ihre Abschlussprüfungen schon im Sommer 1954 ab und setzte ihr Studium in der für das sozialistische Bildungssystem typischen „Aspirantur“ fort, eine Art Forschungsstudium zum Erlangen höherer wissenschaftlicher Grade. Michail hatte ohnehin noch ein Jahr Studium vor sich.

Mit dem Ende der Stalin-Ära wurde das gesellschaftliche Klima insgesamt liberaler – auch oder gerade an der Universität. Gorbatschow zufolge herrschten dort eine gewisse Freizügigkeit und eine durchaus schöpferische Atmosphäre. Das habe viel dazu beigetragen, dass er anfing, Dinge neu zu betrachten und zu hinterfragen.24

Am meisten vermittelten uns einige hervorragende Professoren. Zum Beispiel einer wie Ketschekian, der Vorlesungen über die Geschichte des politischen Denkens hielt. Er entdeckte uns die Welt der verschiedenen Ideen, der indischen Wissenschaften, brachte uns Konfuzius, Platon, Aristoteles, Machiavelli und Rousseau nahe. Letzten Endes hat mir die Universität auch den Marxismus vermittelt. Vor allem fesselten mich Polemiken, die auch die Argumente der Opponenten offenlegten.25

Dass Gorbatschow offensichtlich kein glühender Jurist war, sondern eher zum Politiker taugte, zeigte sich erneut beim Einstieg in die Arbeitswelt. Im damaligen System hatte ein Berufsanfänger nicht die freie Wahl, in welcher Stadt er oder sie arbeiten wollte, und auch die Arbeitsstelle wurde von staatlicher Seite bestimmt und zugewiesen. Genauso wenig war es möglich, einfach den Wohnort ohne Erlaubnis zu wechseln und sich niederzulassen, wo es einem gefiel.

Gorbatschow glaubte allerdings, als Sekretär der Komsomol-Organisation einen Vorteil zu haben. Denn kraft dieses Amtes saß er in der Kommission, die darüber entschied, wo die Universitätsabsolventen nach ihrem Abschluss eingesetzt werden würden. Er wollte in Moskau bleiben, auch weil Raissa hier mit dem Graduiertenstudium begonnen hatte. Doch es kam anders:

„Als ich die letzte Prüfung hinter mir hatte, kam ich nach Hause, genauer gesagt ins Wohnheim. Da finde ich einen Brief. Ich solle bitte in die Staatsanwaltschaft der Sowjetunion kommen. Ich war sehr froh. Doch mit meiner tollen Stimmung war es schnell vorbei. Der Personalchef teilte mir mit – ein gewisser Sajzew, den Namen weiß ich noch – , dass es Änderungen mit der Zuordnung gibt. Die sowjetische Regierung habe im Mai 1955 verordnet, dass die Absolventen nicht mehr in den zentralen Rechtsorganen eingestellt werden dürfen.“26

Als „zentral“ wurden jene Organe bezeichnet, die sich in der Hauptstadt befanden. Das war vorerst das Aus für Gorbatschow in Moskau, aber auch für alle anderen Absolventen, die dort bleiben und ihre Arbeit als Jurist oder als Juristin aufnehmen wollten. „Offen gestanden, war ich verletzt. Mir wurde Krasnojarsk angeboten. Ich habe all die Namen schon vergessen. Oder die Staatsanwaltschaft der Republik Tadschikistan. Oder ich sollte in Stupino als Staatsanwalt in einem Rüstungsbetrieb arbeiten.“

Michail Gorbatschow beriet sich mit seiner Frau. Nichts kam infrage. „Ich habe alles abgelehnt, dann aber gefragt: ‚Haben Sie die Möglichkeit, mich nach Stawropol zu schicken?‘“ Das erwies sich als möglich. „In der Arbeitszuweisung wurde dann die Passage ‚… der Staatsanwaltschaft der Sowjetunion zuzuordnen …‘ durch die Passage ‚… der Staatsanwaltschaft der Region Stawropol zuzuordnen …‘ ersetzt.“27

Auch wenn Gorbatschow nun in den vertrauten Nordkaukasus zurückkehren würde – für das junge Ehepaar war es dennoch ein herber Schlag, weil Raissa nun ihr Graduiertenstudium in Moskau nicht fortsetzen konnte. Vor dem Umzug nach Stawropol im Sommer 1955 nahm sich das Paar noch eine unangenehme Sache vor: den Besuch bei Raissas Eltern im Dorf Ermolajewka in Baschkirien. Diese waren zu Recht gekränkt und empört, weil sie erst im letzten Moment oder sogar erst im Nachhinein von der Hochzeit in Kenntnis gesetzt worden waren. Der familiäre Hintergrund Raissas spiegelt ebenso wie der ihres Mannes die besonders dunklen und schrecklichen Seiten der sowjetischen Geschichte.

Die Großeltern mütterlicherseits überlebten den Horror der 1930er-Jahre nicht: Großvater Pjotr Parada war einer der Bauern, welche die kommunistischen Machthaber im Zuge der Kollektivierung enteigneten. Sie verurteilten ihn im damals üblichen Schnellverfahren durch eine „Troika“ zum Tode und erschossen ihn aufgrund des konstruierten Tatvorwurfs, „Trotzkist“ zu sein. Seine Ehefrau Anastasia Parada wurde daraufhin von den Dorfbewohnern aus ihrem Haus gejagt und starb vor aller Augen an Hunger und Trauer.28 Ihr Leben sei „nichts als Schinderei gewesen – das war kein Leben“, habe Raissas Mutter Alexandra über ihre eigene Mutter immer wieder gesagt.29

Raissas Großvater väterlicherseits, Andrej Titarenko, saß vier Jahre im Gefängnis, überlebte aber. Er war Ukrainer, kam aus einer Region etwa 120 Kilometer nordöstlich von Kiew und arbeitete als Eisenbahnbauer. Sein Sohn Maxim, also Raissas Vater, schlug beruflich denselben Weg ein, weshalb er oft umzog. Nachdem es ihn 1929 in die Altai-Region verschlagen hatte, traf er Alexandra Parada und heiratete sie.

Maxim und Alexandra Titarenko (geb. Parada) bekamen drei Kinder: die erstgeborene Raissa, Sohn Jewgeni und die zweite Tochter Ludmilla. Auch hier mag es zunächst erstaunen, dass Raissa, die aus einem völlig bildungsfernen Elternhaus kam, als Mädchen gefördert wurde, später zur Universität ging und sich schließlich sogar einen akademischen Titel erarbeitete, der in Deutschland etwa einer Promotion entspricht. Ihre Eltern hatten nicht einmal die Grundschule besucht, waren also beide Analphabeten. Entsprechend las auch Raissa als Kind ihren Eltern vor,30 wie Michail Gorbatschow die Frontbriefe und die Zeitung vorgelesen hatte. Lediglich Raissas Mutter nahm noch als verheiratete Erwachsene am kommunistischen Bildungsprogramm „Likbes“ teil. Diese Abkürzung steht für Likwidacija besgramotnosti, die Liquidierung des Analphabetentums. In diesen drei- bis viermonatigen Schnellkursen lernten Erwachsene lesen und schreiben.

Die allgemeine Grundschulpflicht von vier Klassen wurde 1930 von der Kommunistischen Partei auf dem XVI. Parteitag beschlossen. Die Schulpflicht begann spätestens mit acht Jahren, doch wurden auch ältere Kinder und Jugendliche einbezogen, die bis dahin noch nicht zur Schule gegangen waren. Zusammen mit dem Programm „Likbes“ gelang es auf diese Weise vor allem auf dem Land, den Anteil der Analphabeten deutlich zu senken. Raissas Mutter (1913–1991) bezeichnete die Tatsache, nicht in den Genuss von Bildung gekommen zu sein, als ihre „Lebenstragödie“. Aus diesem Grunde sah sie es als „ihre zentrale Lebensaufgabe an, ihren eigenen Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen.“31 Entsprechend waren die Eltern Raissas anfangs unzufrieden darüber, dass die Tochter das Graduiertenstudium in Moskau aufgab, weil sie einem Ehemann in die nordkaukasische Provinz folgen musste, dessen Berufsaussichten noch eher vage waren. Aber die anfängliche Skepsis und der Unmut wichen bald einem herzlichen Verhältnis.

Ende Juli 1955 kehrte Michail Gorbatschow also gezwungenermaßen von Moskau zurück in den Nordkaukasus. Er wohnte vorübergehend in einem kleinen Hotel in Stawropol und kümmerte sich um ein neues Zuhause, während Raissa derweil noch bei ihren Eltern blieb. Schließlich mietete Michail in Stawropol ein elf Quadratmeter großes Zimmer, in der vom Stadtzentrum etwas abgelegenen Kasanskaja-Straße. Besuch zu empfangen, war dort aufgrund der Enge praktisch unmöglich.

Gorbatschows Cousine Maria Michalowa wohnt immer noch in Priwolnoje. Sie erinnert sich: „Wir waren da nie. Sie hatten ja für sich selbst kaum Platz. Nur sein Vater oder seine Mutter war mal dort und erzählte: ‚Man kann sich da nicht einmal umdrehen. Es war ein winziges Zimmer. Es standen dort ein Bett, dann eine Kiste, in der die Bücher lagen. Und auf dieser Kiste mussten sie lesen, schreiben, kochen und essen.‘“32

Fließendes Wasser gab es nicht, es musste mit Eimern von einer draußen gelegenen Wasserpumpe geholt werden. Vor der Ankunft seiner Ehefrau schaffte es Michail Gorbatschow mit seinen kargen finanziellen Mitteln immerhin, zwei Stühle zu kaufen. „Damit war die Möbelfrage dann auch gelöst“, schreibt er selbstironisch in seinem Buch Naedine s soboj.33 Die Vermieter waren ein pensioniertes Lehrer-Ehepaar, nette Leute. Raissa erinnerte sich, der Mann sei eher wortkarg gewesen, was sich nur änderte, wenn er alkoholisiert war. „Und dann belehrte er mich in seinem deutlich angetrunkenen Zustand, ich solle ‚immer klar und nüchtern auf das Leben schauen‘.“34


7 In diesem Haus in Stawropol lebte das junge Ehepaar Gorbatschow ab Sommer 1955 in einem gemieteten kleinen Zimmer, wo auch ihre Tochter Irina zur Welt kam.

Michail und Raissa waren damit ein ganz gewöhnliches junges Paar in der Sowjetunion, das sich ein Jahrzehnt nach Kriegsende seinen Platz im Leben erkämpfen musste, während nicht nur eine große Wohnungsnot, sondern auch quälende Armut herrschte. Der ausgebildete Jurist trat seine Arbeit in der Staatsanwaltschaft von Stawropol vorschriftsmäßig zunächst als Praktikant an. Im Nachhinein haben Journalisten sowie angebliche enge Weggefährten schon in Gorbatschows frühen Berufsjahren Anzeichen für seine Systemkritik, gar für sein revolutionäres Gedankengut erkennen wollen. Diese Interpretationen weist er selbst aber nicht nur weit von sich, sondern betont im Gegenteil, er sei ein treuer und überzeugter Anhänger der kommunistischen Idee gewesen und habe sich mit seinem Staat identifiziert.

Nach dem Kriege kehrten die Soldaten, also vor allem junge Menschen, von der Front zurück, sie waren stolze und selbstbewusste Sieger und hatten ein Stück der durch Krieg zwar zerstörten, aber dennoch anderen europäischen Welt gesehen. Die Zukunft stellten sie sich im Rahmen der kommunistischen Ideologie vor, die sowohl soziale Gerechtigkeit als auch Herrschaft des Volkes verkündete. Die Schulkenntnisse, vor allem Geschichte, bestätigten mir, dass weder der russische Zarismus und der Kolonialismus der europäischen Großmächte noch die Krisen und Kriege Propaganda waren. Sie gab es wirklich. Das bestärkte mich und meine Generation darin, keinen Gedanken darauf zu verschwenden, die Ordnung zu verändern, in der wir lebten.35

Gorbatschow

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