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Das leckerste Eis der Welt

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Diese ruhige Kindheitsphase endete 1941 abrupt, und es brach über dem inzwischen zehnjährigen Michail die dritte Lebenskatastrophe herein: Hitler hatte den Überfall auf die Sowjetunion geplant, und in den Nachtstunden des 22. Juni schlug die Wehrmacht angeblich völlig überraschend los. Tatsächlich waren die Planungen zu diesem Angriff der Sowjetunion jedoch keineswegs verborgen geblieben, sondern Stalin hatte schlicht die Warnungen seines Geheimdienstes – sogar mit korrektem Angriffstag – in den Wind geschlagen. Anlässlich des 70. Jahrestages des deutschen Überfalls wurden in Moskau erstmals Geheimdokumente der sowjetischen Auslandsaufklärung publiziert, die den jahrelang kolportierten Mythos vom Überraschungsangriff endgültig zerstörten.12

Warum wurden diese Dokumente endlich freigegeben, obwohl doch auch Präsident Putin am Bild vom weitsichtigen Stalin festhält, dem letztlich der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zu verdanken sei? Vieles spricht dafür, dass der Auslandsgeheimdienst, in welchem auch Wladimir Putin arbeitete, ins rechte Licht gerückt werden sollte und nicht länger als eine Truppe dastehen sollte, die eine derartige Bedrohung verschlafen hatte. Dennoch wird Stalin auch in dieser jüngeren Publikation nicht offen verantwortlich gemacht. Dort ist lediglich die Rede davon, dass ihm vorab alle Informationen vorlagen. Die nie gänzlich aufgegebene Legende vom kriegsentscheidenden und taktisch klugen Feldherrn Stalin erklärt dessen relativ hohe Popularitätswerte in der russischen Bevölkerung, wohingegen Gorbatschow bei der Mehrheit auch Jahrzehnte nach seiner Amtszeit noch als ein schlechter Staatslenker gilt.

Tatsächlich kostete Stalins Fehleinschätzung aber vielen sowjetischen Zivilisten und Soldaten das Leben. Er selbst konnte die ersten Angriffsmeldungen zunächst nicht glauben. Schockiert zog er sich zurück und überließ es seinem Außenminister Wjatscheslaw Molotow, sich an die Bevölkerung zu wenden. Auch in diesem Schlüsselmoment erfüllte er seine Führungsrolle nicht, wie man es hätte erwarten dürfen, während etwa Winston Churchill mit seiner „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede“ von 1940, in der er seine Landsleute für den „Sieg um jeden Preis“ mobilisierte, nicht nur bei Briten in Erinnerung blieb. Auch Schlusssätze von Molotows Ansprache, die um 12 Uhr mittags Moskauer Zeit am 22. Juni 1941 in das Riesenreich ausgestrahlt wurde, kennt in Russland und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion so gut wie jeder. In Priwolnoje verfolgten alle Bewohner dessen pathetischen Aufruf zum Kampf und zum Widerstand, der aus einem Lautsprecher am Parteigebäude hallte. Auch die Gorbatschows hörten so jene ungemein mobilisierenden und prägenden Worte Molotows: „Unsere Sache ist gerecht! Der Feind wird vernichtet! Wir werden siegen!“

Jetzt begann die Angst um den Vater, den Ehemann, den Sohn oder den Bruder, die in einen Krieg ziehen mussten, der geografisch noch weit weg von Priwolnoje war. Der Bote des Wehrbezirks kam zu Pferd und immer am späten Nachmittag oder frühen Abend, um den Einberufungsbefehl zu überbringen. „Hoffentlich kommt er nicht zu uns“, bangte dann auch der junge Michail, wenn er die Hufschläge des Pferdes von der Dorfstraße vernahm und noch nicht wusste, vor welcher Chata der Bote halten würde. Noch größer war die Angst im weiteren Kriegsverlaufs davor, der Bote könnte der Familie die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen.

Mein Vater wurde am 3. August, also etwas später einberufen, weil er und andere für die Ernte gebraucht wurden. Meine Mutter weinte, packte die ganze Nacht seine Sachen. Dann fuhren wir in die Kreisstadt zum Sammelplatz. Ich sah alles mit eigenen Augen. Es war ein herzzerreißendes Bild. Alle weinten. Man nahm Abschied und wusste nicht, ob man sich wiedersehen würde. Mein Vater schenkte mir zum Abschied eine Balalaika. Ich schnitzte mit dem Messer das Datum hinein: 3. August 1941. Und er kaufte mir einen Riesenbecher Eis. Das war das leckerste Eis, das ich je in meinem Leben gegessen habe.13

Sofern sie keine Hiobsbotschaften enthielten, sorgten Briefe von der Front für wahre Glücksmomente. Der zehnjährige Michail las die Front-Briefe der Mutter vor, und diese diktierte ihm die Antworten. Zudem hatte Sergej Gorbatschow die Parteizeitung Prawda abonniert, die Priwolnoje immer etwas verzögert erreichte. Kaum traf eine neue Ausgabe ein, kamen die Dorffrauen zusammen, viele wie Maria Gorbatschowa Analphabetinnen, und dann las Mischa ihnen die Berichte über den Kriegsverlauf vor. Zwangsläufig übernahm er auch jene Arbeiten des abwesenden Vaters, die lebenswichtig waren – das Graben und Jäten des Gemüsegartens, die Beschaffung des Brennstoffs für die Chata, des Heus für die eigene Kuh und vieles mehr.


4 Maria Gorbatschowa mit ihrem Sohn Michail im August 1941

Ende 1941 vermochten die sowjetischen Truppen die Wehrmacht vor den Toren Moskaus zu stoppen. Das war die erste echte Niederlage der Deutschen in diesem Krieg. Im Süden der Sowjetunion jedoch rückte die Wehrmacht im Sommer 1942 wieder vor, sodass sich die Front dem Dorf Priwolnoje bedrohlich näherte. In dieser Kriegsphase, als die Entscheidungsschlachten im Süden und Südwesten der Sowjetunion tobten, gab Stalin den legendären Befehl № 227 vom 28. Juli 1942 aus, den in Russland jeder kennt und der ganz simpel lautete: „Ni schagu nazad!“, nicht einen Schritt zurück! Dieser Haltebefehl sah bei mangelnder Kampfbereitschaft oder bei vermeintlicher Feigheit vor dem Feind die Todesstrafe vor. Der Wehrmacht war es einen Tag zuvor gelungen, Rostow am Don einzunehmen, das „Tor zum Kaukasus“, wie die Nationalsozialisten die Stadt bezeichneten. In Priwolnoje brach Panik aus, die Deutschen waren jetzt nur noch rund 200 Kilometer entfernt.

Viele flohen vor der anrückenden deutschen Armee weiter Richtung Süden, so auch Michail Gorbatschows Großeltern Pantelej und Wasilisa. Schon wenige Tage nach der Eroberung von Rostow nahm die Wehrmacht auch Priwolnoje ein, widerstandslos, weil sich dort die sowjetischen Verbände in Auflösung befanden. Damit begann die Zeit der deutschen Besatzung für den inzwischen elfjährigen Michail, der schon in der Ferne das Gedröhn und die Explosionen gehört und zum ersten Mal in seinem Leben eine Salve der Raketenwerfer „Katjuscha“ am Himmel gesehen hatte. Doch Priwolnoje wurde nicht durch feindliche Panzer eingenommen, sondern in das Dorf kamen motorisierte, leicht bewaffnete Infanteristen, hauptsächlich auf BMW- oder Zündapp-Motorrädern. Zu Exzessen kam es hier offenbar nicht: „Die Deutschen haben sich zumindest bei uns nicht schlimm verhalten. Wohl aber in Mineralnije Wody. Später kamen Freiwillige aus der Ukraine nach Priwolnoje“, erinnert sich Gorbatschow.14

Tatsächlich wurden die Wehrmacht-Soldaten anfangs nicht nur in der Ukraine oder Belarus teilweise als Befreier vom kommunistischen Joch begrüßt. Selbst unter Russen gab es noch viele, die als „Weiße“ im Bürgerkrieg gegen die „Roten“ gekämpft hatten und nun auf Revanche aus waren. Der Bürgerkrieg war gerade mal zwei Jahrzehnte her, und entsprechend wurde auf sowjetischer Seite häufig behauptet, erst der deutsche Angriffskrieg habe das Land geeint. Michail Gorbatschow erinnert sich an einen deutschen Soldaten namens Hans, der in der Chata der Eltern ein- und ausging und sehr freundlich gewesen sei.15 Und seine Klassenkameradin Raissa Kopejkina berichtet, ein Arzt der deutschen Besatzer habe ihre damals neunjährige Schwester behandelt, nachdem sie von einem Schäferhund der Deutschen ins Bein gebissen worden war.16 In Priwolnoje mordeten die Wehrmacht und auch die SS offenbar nicht, doch in Mineralnije Wody, in Rostow oder in Krasnodar erschossen die Deutschen viele Tausend Menschen, überwiegend Juden, aber auch Kommunisten und Partisanen, oder sie schickten sie ins Gas.

So wie Michail Gorbatschow und Raissa Kopejkina kann sich auch Iwan Budjakow, der die Besatzer in Priwolnoje als Kind erlebt hat, an keine deutsche Untaten in seinem Dorf erinnern. „Als sie hier waren, taten sie keinem etwas Böses, auch während des Abzugs nicht.“17 Auch in Archys, so erzählen es einige verbliebene alte Bewohner, sei es zu keinen Exzessen seitens der Wehrmacht gekommen. Einmal nur hätte ein deutscher Soldat einen Bewohner erschossen, weil er sich nicht an die abendliche Ausgangssperre gehalten habe. Prägender war an diesen Orten offenbar die sowjetische Verfolgung: Stalin ließ während des Krieges ganze Bevölkerungsgruppen im Kaukasus deportieren, meist nach Zentralasien. Der Vorwurf lautete „Spionage“, „Verrat“ oder „Kollaboration mit dem Feind“. Das kleine Volk der Karatschaier gehörte zu diesen Opfern. Die hochbetagte Chalimat Tokowa war acht Jahre alt, als sie mit ihrer karatschaischen Familie 1943 aus Archys deportiert wurde, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Viele starben während des Transports oder in der Verbannung. Sie sagt: „Es waren die Unsrigen, es war Stalin, der uns Leid zugefügt hat – nicht die Deutschen. Wir durften erst im August 1957 zurück nach Archys.“18 Das war Nikita Chruschtschow zu verdanken, der zunächst parteiintern, später öffentlich mit seinem Vorgänger Stalin abgerechnet hatte.

Sergej Gorbatschow, für seine Tapferkeit ausgezeichnet, kämpfte zunächst in der Hafenstadt Taganrog am Asowschen Meer, etwa 100 Kilometer südöstlich von Donezk, dann in Rostow am Don. Neben seinem Einsatz an vielen anderen Frontabschnitten nahm er auch an der Schlacht von Kursk und an der Befreiung von Kiew teil. Seinem Sohn Michail verheimlichte er die Schrecken des Krieges nicht:

Er erzählte mir davon, und nicht nur einmal. Er nahm auch an Nahkämpfen teil, Mann gegen Mann. Und als er mit einer Schilderung begann, veränderte sich dieser Mensch plötzlich direkt vor meinen Augen. Er sagte: „Man brauchte mehrere Stunden, um danach wieder zu sich zu kommen. Dieser Nahkampf – da war nur entscheidend: Wer besiegt wen? Entweder du den Gegner oder er dich.“ Vater war zwei oder drei Mal im Nahkampf, genau in unserer Gegend, unweit von Taganrog.19

Gebannt verfolgten die Bewohner von Priwolnoje die finale Schlacht um Stalingrad, die rund 450 Kilometer nordöstlich von ihnen tobte. Von der Niederlage und der Zerschlagung der 6. Armee erfuhren sie von den deutschen Besatzern ihres Dorfes, die jetzt schnell ihre Sachen packten und flüchteten, weil sie fürchteten, bald ebenfalls von der sowjetischen Armee eingekesselt zu werden. Gerüchte kamen auf, dass sowjetische Systemgegner, die auf der Seite der Deutschen standen, nun an den Kommunisten im Dorf Rache üben würden. Zu ihnen gehörte Pantelej Gopkalo als Kolchosführer. Michail Gorbatschow erinnert sich sehr präzise an das Drama, das er als knapp 12-Jähriger erlebte:

Wir bekamen einen anonymen Brief, dass Vergeltungsaktionen geplant sind. Meine Mutter war ganz aufgelöst, wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Man beschloss, mich zu meinem Großvater Andrej zu bringen, der vier Kilometer entfernt auf einem Hof arbeitete. Wir gingen in der Dunkelheit los; es regnete, alles war voll Matsch. Wir kannten den Weg, doch weil es absolut dunkel war, verliefen wir uns! Mutter wollte schon aufgeben, sagte: „Jetzt sind wir verloren.“ Dann wurde aus dem Regen ein richtiges Gewitter. Ich sagte: „Los, wir müssen weiter!“ Und in dieser angespannten, hoffnungslosen Situation erleuchtete sich plötzlich der Himmel: Es blitzte, wir bekamen die Orientierung zurück! Das war wohl göttliche Fügung.20

Noch vor der offiziellen Kapitulation der 6. Armee durch Friedrich Paulus war Priwolnoje befreit, wo am 21. Januar 1943 sowjetische Soldaten einrückten. Die Dorfbewohner, hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte, waren jetzt zwar außer Gefahr, doch das Zittern um die noch kämpfenden Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder an anderen Frontabschnitten ging weiter. Nicht wenige von ihnen fielen: Auf dem Kriegerdenkmal in Priwolnoje stehen die Namen von sieben Gorbatschows. Vater Sergej kämpfte gegen Kriegsende in den Karpaten. Drei Jahre lang hatte er alles überlebt, dann der Schock: „Im August 1944 bekamen wir einen Brief von der Front – von Soldaten geschrieben. Ihm lagen Fotos von uns bei und Briefe, die wir Vater geschrieben haben. In dem Brief hieß es, der Vater sei den Heldentod gestorben. – Drei Tage nur Tränen“, erzählt Michail Gorbatschow.21 Doch diese Todesmeldung war ein Irrtum! Einige Tage später traf erneut ein Brief ein, dieses Mal vom tot geglaubten Vater selbst. Im Kampfgetümmel, so stellte sich später heraus, hatte Sergej Gorbatschow seine Dokumententasche verloren. Kameraden fanden sie, glaubten, der Besitzer sei tot, und machten Meldung. Der inzwischen 13-jährige Michail schrieb seinem Vater einen Brief, in welchem er seinen Unmut über diese voreilige Todesmeldung durch die Kameraden zum Ausdruck brachte. „Mein Vater schrieb mir zurück, ich solle nicht so streng sein mit ihnen. Denn im Krieg und an der Front würden allerlei Dinge passieren. Es sei doch ein großes Glück, dass er am Leben geblieben sei.“22

Sergej Gorbatschow, so erinnern sich die Dorfbewohner, die ihn noch kannten, war ein sanftmütiger und ausgeglichener Mann. Anders als seine Ehefrau Maria, die sehr resolut und temperamentvoll sein konnte. Auch Iwan Budjakow bestätigt das: „Seine Mutter konnte derb schimpfen, aber sein Vater war ruhig, er benutzte auch nie Schimpfwörter oder so.“23

Gorbatschow

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