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Stalinist

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Gorbatschows Freund aus der Studentenzeit, Zdenĕk Mlynář (1930–1997), stieg zum engsten Vertrauten des tschechoslowakischen KP-Generalsekretärs Alexander Dubček auf, war also direkt beteiligt an der Freiheitsbewegung, die 1968 als „Prager Frühling“ in die europäische Nachkriegsgeschichte einging. Bekanntlich wurde dieser Freiheitswille vom „großen sowjetischen Bruder“ und den Zwangsverbündeten mit Panzern niedergeschlagen. Darüber hinaus war Mlynář Mitbegründer der „Charta 77“, der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung. Und doch räumen sowohl Gorbatschow als auch Mlynář in einem veröffentlichten Dialog ganz offen ein, in ihrer Jugend überzeugte Stalinisten gewesen zu sein. Gorbatschow unterstreicht darin, sie beide hätten Stalins Tod 1953 als schweren Schlag empfunden und eine ganze Nacht angestanden, um an den Sarg zu treten. Mlynář liefert im Gespräch ein eindrückliches Zeugnis davon, wie verunsichert und besorgt sie der Tod Stalins zurückließ.2

Tatsächlich war Gorbatschow damals ein „Hundertprozentiger“ und ein höchst aktiver Parteigänger. Schon in seinem ersten Studienjahr 1950/51 war er Parteisekretär des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol in seiner Semester-Gruppe der juristischen Fakultät. Freimütig bekennt er sich zu seinen Anfängen als Kommunist und zu seinem Gefallen an Führungsrollen:

Für mich war wesentlich, dass auch Vater Kommunist wurde – und zwar an der Front. Ich muss aber hinzufügen, dass auch noch etwas anderes eine Rolle spielte, was in mir selbst, in meinem Charakter angelegt war. Heute [1993 oder 1994 – I.L.], da ich mich selbst sozusagen von außen betrachte, kann ich darüber sprechen. Schon seit meiner früher Jugend spielte ich mich unter meinen Altersgenossen gern als Anführer auf. Dieses Bedürfnis blieb auch, als ich in den Komsomol und später in die Partei eintrat, es war die Art und Weise meiner Selbstverwirklichung. Ich glaube, mit Ideologie hatte das wenig zu tun.3

Diese Begeisterung für die Rolle der Leitfigur war es unter anderem, die Gorbatschow dazu bewog, Jura zu studieren: „Mir gefiel […] das Amt des Staatsanwaltes. Das hatte was von einem großen Chef.“4

Die Indoktrination der kommunistischen Dogmen und der kommunistischen Lehre machte vor keiner Fachrichtung Halt. Entsprechend hatten auch Gorbatschow und seine Kommilitonen die umfangreiche Polit-Lektüre aufzunehmen und zu verinnerlichen, weshalb ihre Ausbildung damals kaum mit einem heutigen Jura-Studium zu vergleichen ist. Ebenso hat beispielsweise seine spätere Ehefrau Raissa weniger Philosophie in unserem Sinne studiert, wie verkürzt kolportiert wurde, sondern sie studierte Philosophie/ Marxismus-Leninismus. Später wurde sie promoviert in Soziologie.

Die Studentenzeit Gorbatschows war im Grunde zweigeteilt: Die erste Hälfte vom 1. September 1950 bis 5. März 1953 lag in der Stalin-Ära, während in der zweiten Hälfte bis Sommer 1955 die politische Tauwetter-Periode begann. Anfang der 1950er-Jahre erlebte er jedoch zunächst die Stalin’sche Hetze gegen Juden, die meist als „Kosmopoliten“ bezeichnet wurden, und auch die Paranoia rund um die sogenannte „Ärzteverschwörung“. Dabei handelte es sich um eine von Stalin erfundene Anschuldigung, die in einen Komplott gegen Ärzte mündete, die ihn und einige seiner Getreuen angeblich durch das Verabreichen von Gift oder auf andere Weise umbringen wollten. Viele dieser auch im Kreml tätigen Ärzte waren Juden. Anders als 1937 hatte der Terror in den 1950er-Jahren eine deutlich antisemitische Stoßrichtung.

Es folgten Denunziationen, Verhaftungen, Folterungen sowie eine inszenierte Presse-Kampagne, die in der Prawda-Schlagzeile vom 13. Januar 1953 gipfelte: „Bösartige Spione und Mörder unter der Maske akademischer Ärzte“. Wer sich diese gesellschaftliche Situation und die kritiklose Gefolgschaft Gorbatschows in diesen Jahren vor Augen führt, beginnt zu bergreifen, welche Wegstrecke er zurückgelegt hat, bis er diesem System, das auf Angst und Anpassung beruhte, den Rücken kehrte. Doch vorerst dominierten beim inzwischen 22-jährigen Michail Gorbatschow die Trauer und die Orientierungslosigkeit wie bei vielen Sowjetbürgern nach dem Dahinscheiden des „großen Führers der Völker“. „Für mich war Stalins Tod ein Problem, für Raissa nicht.“5

Als Gorbatschow mit seinem Freund Zdeněk Mlynář aufbricht, um zum offenen Sarg Stalins im „Haus der Gewerkschaften“ zu gelangen, das sich ganz in der Nähe des Kremls und der Geheimdienstzentrale Lubjanka befindet, hat er großes Glück. Ohne dass noch nachvollziehbar wäre, warum, meiden sie und ein paar Kommilitonen den Trubnaja-Platz, wo es an diesem Abend des 8. März zur Tragödie kommt: Aufgrund der riesigen Menschenmenge, die unterwegs ist und immer stärker anwächst, geht es auf diesem überschaubaren Platz irgendwann weder vor noch zurück. Panik bricht aus, und Menschen kommen zu Schaden. Sie werden erdrückt, erstickt oder totgetrampelt. Die Schätzungen reichen von 500 Todesopfern bis zu mehreren Tausend. Die sowjetische Presse verschweigt diese Katastrophe.

Immer wieder kommt Gorbatschow als Kreml-Chef a. D. auf seinen Großvater zurück, wenn es um Stalin geht. In den publizierten Dialogen, die er Mitte der 1990er-Jahre mit Mlynář führte, wird noch mal deutlich, wie sehr und wie nachhaltig der Großvater, aber auch Vater Sergej sein Stalin-Bild prägten:

Er [Großvater Pantelej – I.L.] glaubte, dass Stalin von den Verbrechen nichts wisse. Und dies umso mehr, als jene, die ihn und andere gequält und gefoltert hatten, alsbald selbst eingesperrt oder erschossen wurden. Es schien, als träfe die nächste Welle der Repression die tatsächlich Schuldigen. Das war die hinterhältige Taktik Stalins. Mein russischer Vater Sergej, der Maria, die Tochter dieses Mannes heiratete, teilte dessen Überzeugungen und stand auf dessen Seite – obgleich doch sein eigener Vater, also mein anderer Großvater, viele Jahre sich weigerte, in die Kolchose einzutreten, und Einzelbauer blieb.6

Auch Michail Gorbatschow verband diese Stimmungsmache gegen Ärzte und „Kosmopoliten“, die keineswegs den sozialistischen Tugenden wie Gleichheit und Gerechtigkeit entsprach, nicht mit Stalin. Schockiert war er jedoch über einen Angriff auf seinen Studienfreund Waldimir Liberman:

Er war ein Frontsoldat, ein guter Kerl. Einmal verspätete er sich zum Unterricht. Als er dann doch kam, sah er sehr mitgenommen und zerfleddert aus, so als ob man auf ihm herumgetrampelt hätte. „Was ist passiert, Wolodja“, fragte ich. „Was ist los? Geht es dir schlecht?“ Er sagte: „Mischka, ich wurde vorhin aus der Straßenbahn geworfen – weil ich Jude bin.“ Es war die Zeit der sogenannten Ärzteverschwörung. Ich sagte zu ihm: „Komm, hör auf!“ Er darauf: „Doch! Kannst du dir das vorstellen? Gerade ich!“ Er war Jahrgang 1925, war an der Front gewesen, hatte Orden und so weiter.“7

Wladimir – „Wolodja“ – Liberman spielte eine große Rolle in Gorbatschows Leben, wenn auch nicht bewusst. Dasselbe gilt für Juri – „Jura“ – Topilin, der mit Gorbatschow in einem Gemeinschaftszimmer wohnte. Denn diesen beiden Weggefährten verdankt Gorbatschow im Grunde die erste Begegnung mit seiner späteren Frau.

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