Читать книгу Die Reise in einem Cocktailshaker - Iko Andrae - Страница 6
Оглавление„Die Karibik beginnt ja auch gleich hinter Borkum!“
Bremen am 17. Juni 2004. Unser alter Volvo-Penta MD 7a wummerte eintönig und der Bug zerteilte das unruhige Wasser des Bremer Hohentorshafens. Vorbei an den schwarzen Schuten und dem Anleger vom Holzhandel Gluud fuhren wir der Weser entgegen. Hinter uns winkten immer noch ein paar Freunde vom Binnenschiff am rostigen Werftsteg zu uns herüber. Arme, die immer kleiner wurden, kreisten in den stürmischen Böen, als würden sie vom Wind angetrieben. Sara, unsere Mitbewohnerin, hatte uns mit einem Celloquartett überrascht. Regenböen zerstoben die Töne einiger sentimentaler Abschiedslieder unter dem Fahrradstand des verlassenen Werftgeländes, selbst die Cellokästen machten sich selbstständig. Spätestens bei Auld Lang Syne flossen die Tränen.
Die Außenweser begrüßte uns mit sieben Windstärken, und die kommen dort gewöhnlich direkt von vorne. Containerfrachter zogen wie Perlen an einer Schnur aufgereiht an uns vorbei. An Kreuzen war im beengten Fahrwasser kaum zu denken. So polterten wir mit Unterstützung der Maschine mit dem Strom und gegen den Wind der Nordsee entgegen. Ätzend hoch und steil war die See bis Höhe Leuchtturm Alte Weser. Bei meinem ersten Kochversuch unter „realen“ Bedingungen in der engen und schaukeligen Kombüse, auf unserem kardanisch aufgehängten, zweiflammigen Optimus Petroleumkocher, musste ich mich übergeben. Zum ersten und auch zum letzten Mal auf unserer Reise.
Den Kurs auf Wangerooge konnten wir bald anliegen, doch hinter der Ansteuerungstonne Harle im Seegatt zwischen der östlichsten der ostfriesischen Inseln und Spiekeroog schoss uns beiden das Adrenalin durch den Körper. Bei 1,70m Wassertiefe piepte der Tiefenalarm. Nur 15cm Wasser waren noch unterm Kiel und das bei aufgewühlter See zwischen den Inseln! Wieder musste die Maschine mitlaufen. Wir hatten uns vorgenommen, bei der ersten Grundberührung sofort scharf umzudrehen.
Wie oft war ich schon durch dieses Seegatt gefahren. Mit einem Jollenkreuzer mit nur 30cm Tiefgang die Brandungswellen im flachen Wasser hinab zu surfen, konnte ein grenzwertiger Genuss sein, doch jetzt, mit einem Kielschiff war es etwas völlig anderes.
Das Wasser lief seit zwei Stunden wieder auf. In der Seekarte war für diese Stelle bei Niedrigwasser minimal 1,90m Wassertiefe angegeben. Die Karte war zwar erst ein Jahr alt, aber manchmal sind die Seekarten schon am Tage der Drucklegung veraltet. Mit jedem Sturm werden hier an der deutschen Nordseeküste abertausende Tonnen Sand bewegt. Wer denkt bei einer Atlantiktour schon an aktuelle Wattenmeerkarten?
Mit viel Glück und einem Schutzengel, der unseren Kiel im entscheidenden Moment über die flachste Stelle hob, erreichten wir unseren zweiten Abschiedshafen. Alles was segeln konnte, machte sich an diesem Wochenende auf den Weg gegen den böigen und kalten Westwind nach Wangerooge. Zwei Freunde aus Oldenburg querten die fünf Meilen übers Watt sogar zu Fuß.
Am Abend, im Vereinsheim des Wangerooger Yachtclubs, feierten wir mit unseren Freunden vom Festland und von der Insel. Marets Akkordeon und meine Gitarre wurden von Bord geholt und ein paar Freunde vom Shantychor sangen mit uns um die Wette. Ja genauso hatte ich mir das vorgestellt. Nur Karl und seine Mitseglerin wurden noch vermisst. Spät in der Nacht musste dann das Rettungsboot auslaufen und die beiden von einer hohen Muschelbank ziehen. Übernächtigt und mit rotumränderten Augen überreichten sie uns am nächsten Morgen einen großen Präsentkorb mit eingeweckten Ostfriesischen Spezialitäten, bestimmt für ganz besondere Momente. Den Grünkohl öffneten wir Anfang Dezember auf La Gomera. Der Sniertjebraten aus Remels brachte es sogar bis nach Tobago.
Als Maret und ich am folgenden Tag noch immer etwas benommen am Ende des Steges standen und dem letzten Boot hinterher winkten, waren wir die Zurückbleibenden, dabei waren wir es doch, die eigentlich in die Ferne segeln wollten!
Maret in unserer "Balu"
Ganze neun Tag lang hingen wir auf der Insel fest. An acht Tagen davon blies der Wind in Sturmstärke. Für eine Nacht verkrochen wir uns sogar in eine Ferienwohnung einer Freundin im Inseldorf. Im Hafen war es so laut, dass an Schlaf nicht zu denken war. Neben allem meteorologischen Ungemach war auch noch unser Funkgerät ausgefallen, Blitzschaden, wie wir annahmen. Täglich zeigten sich neue Baustellen. Auch unsere Logge und das GPS taten plötzlich nicht mehr, wozu sie bestimmt waren. Das Funkgerät schickten wir schließlich zur Simrad-Vertretung nach Emden. Eine Reparatur wurde versprochen binnen etwa einer Woche.
Die Insulaner begannen schon, uns aufzuziehen: „Wo wollt ihr noch mal hin? In die Karibik? Na ja, da seid ihr ja schon weit gekommen und die Karibik liegt ja auch gleich hinter Borkum!“
Nach neun langen Tagen ging es weiter Richtung Westen. Doch wir schienen immer noch nicht reif zu sein für einen längeren Schlag und bekamen auf dem Weg von Norderney nach Borkum dann auch gleich eine nasskalte Lektion erteilt. Die Vorbereitung auf den eigentlich kurzen Törn war lausig. Wir waren in einiger Hektik quasi noch während eines viel zu späten Frühstücks bei Sonnenschein gestartet. Den Kaffeepott hielt ich in der einen Hand, die Brötchenhälfte steckte zwischen den Zähnen, warf einen kurzen Blick auf den Tidenkalender und legte ab. Die aktuelle Seekarte lag nicht an ihrem Platz, eine Abkürzung nach Westen verpassten wir und brauchten so zwei qualvolle Stunden länger als gedacht. Die See draußen tobte, besonders bei der Annäherung ans Borkumriff bekamen wir das zu spüren. Medikamente gegen meine anfangs schon erwähnte Unpässlichkeit hatte ich nicht eingenommen. Auch zu Essen war nichts vorbereitet, von heißen Getränken ganz zu schweigen. Warme und wetterfeste Kleidung lag wunderbar verstaut im Schrank. Beim ersten Vorsegelwechsel tauchte ich dann gleich bis zur Hüfte in bleigraues und kaltes Nass und guter Letzt ergoss sich ein Schwall Nordseewasser über unsere Bettdecken im Vorpiek. Wir hatten die Vorschiffsluke nicht verschlossen. Wie dämlich kann der Mensch doch sein!
Eine Vorher–Nachher–Liste all der Vorkehrungen, die einen Reisestart nicht nur bei widrigen Bedingungen einfacher machen, hing seit diesem Tag, bis zum Wiedereintritt in die heimische Atmosphäre, als ständige Erinnerung und Mahnung an Steuerbord neben dem Niedergang.
Bordtagebuch Freitag 02.Juli – „Schauer und Böen, 7 Beaufort und mehr aus NW. Rasen die Ems hoch bis zur großen Seeschleuse. Machen am Steg vor der Schleuse fest. Maret versenkt kurz nach dem Anlegemanöver ihr Portemonnaie im Hafenschlick. Drei Meter Wassertiefe und absolut null Sicht beim Tauchen. Ihr Ausweis, Führerschein, Bankkarte, Visakarte, Krankenkassenkarte, Geld, alles ist da drin. Wir laufen los, um einen Käscher zu besorgen.
In Hafennähe soll es einen Ausrüster geben, wir haben aber kein Glück und werden weitergeschickt. Dort hat man das Angelzeug gerade vor ein paar Wochen aussortiert, wurde ja doch immer nur geklaut. Die korpulente Dame an der Kasse schickt uns zu einem Baumarkt. „Einfach 1km die Straße hoch, dann rechts, unter einer Unterführung durch und dann nochmals 3 km weiter.“ Es regnet, es ist kalt. Ein Bus ist nicht in Sicht. Hand in Hand und tropfnass laufen wir durch ein ödes Emder Gewerbegebiet. Wir fühlen uns erbärmlich und gottverlassen. Wenn das jetzt einer unserer Freunde sähe, der lachte sich schlapp. Weltenbummler im Emder Schietwetter. Nach mehr als 14 Tagen sind wir gerade mal 130km Luftlinie von unserem Startpunkt entfernt. An einem Wohnhaus treffen wir auf ein Taxi. Die Fahrerin beginnt gerade mit ihrer Schicht und fährt uns zum Baumarkt. Dort gibt es ihn endlich, den großen Käscher. Wir lassen uns zum Außenhafen zurückkutschieren. Das wird zwar ein teurer Käscher, aber der ist dann natürlich auch der beste der Welt. Leider haben wir auch mit dem neuen Gerät kein Glück. Die Geldbörse wird wohl auf ewig im Schlamm vergraben bleiben.“