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Die Villa Lautenschläger lag direkt am Ufer des Wannsees. Umgeben von weiten, perfekt gepflegten Rasenflächen und abgeschirmt von mächtigen Tannen und ausladenden Laubbäumen erinnerte das alte Herrschaftshaus mit großer Uferterrasse und anliegendem Bootshaus an die glanzvollen Zeiten des Berliner Großbürgertums, das sich hier zu Anfang des 20. Jahrhunderts niedergelassen hatte. In dieser Gegend wohnte vornehmlich der alteingesessene Geldadel und inzwischen auch einige, die in der hinzugezogenen Welt der Politik und der Medien neuerdings das Sagen hatten.

Kiran hatte so seine Erfahrungen mit dieser Klientel. Über seine Eltern war er vor einigen Jahren zu einer Vernissage unweit von hier eingeladen worden. Der Abend war eine Tortur gewesen, doch als Sohn der Künstler konnte er schließlich nicht nach einer Stunde wieder verschwinden. Stattdessen wurde er wahlweise von überdrehten Millionärsgattinnen oder deren arroganten Töchtern angeflirtet. Alternativ dazu löcherten ihn die garantiert kunst-uninteressierten Gatten nach indiskreten Details aus Fallgeschichten des BKA. Sobald es die Etikette annähernd gestattete, hatte er sich schließlich empfohlen. Als einzige Genugtuung an jenem Abend konnte er auf dem Weg zum Wagen immerhin die Erdpfeife beschlagnahmen, die sich der Sohn des Hauses mit ein paar Gleichaltrigen im Garten gebaut hatte.

Sie klingelten am Tor, das sich summend öffnete.

»Man könnte meinen, die haben uns kommen sehen«, sagte Blohm grinsend und deutete nach oben.

Kiran blickte auf eine hochmoderne Überwachungsanlage mit verschiedenartigen, über den gesamten Eingang verteilten Kameralinsen. Auf dem Weg zum Haus entdeckten sie weitere Kameras, ähnlich wie am Tor wahlweise in Bäumen versteckt oder in Steinfiguren eingearbeitet. Irgendwo musste ein Sicherheitsraum sein, der eine flächendeckende Abbildung des gesamten Grundstücks ermöglichte.

Am Haus angekommen wurden sie von einer Haushälterin empfangen und eingelassen. Im Wohnzimmer, das mit einem riesigen Panoramafenster ausgestattet war und einen imposanten Blick auf den Wannsee bot, saßen auf einem Sofa eine ältere Dame und ein Mann etwa in Kirans Alter. Dieser erhob sich und ging auf sie zu.

»Guten Morgen, meine Herren. Ich nehme an, Sie sind Herr Mendelsohn«, sagte er und schüttelte Kiran jovial die Hand. »Und Sie müssen Herr Blohm sein. Ich bin der Sohn des Hauses, Martin Lautenschläger. Dies ist meine Mutter, Marianne Lautenschläger.«

Man könnte meinen, wir sind zum Tee geladen, dachte Kiran. Offenbar hatte man sie angekündigt. Martin Lautenschläger trug ein dunkles Jackett, das Hemd mit offenem Kragen wurde von einem Seidenschal komplettiert, sein Haar war perfekt frisiert. Der ganze Eindruck des Mannes hatte etwas seltsam Öliges, kaum kaschiert durch seine betont guten Manieren Im Gegensatz dazu strahlte seine Mutter eine völlige Ruhe aus. Ihre aristokratischen und im Alter immer noch sehr attraktiven Züge erschienen vollkommen ernst und nahezu emotionslos. Selbst Ihre Stimme war kontrolliert, als sie sprach.

»Man hat mir gesagt, mein Mann sei umgekommen. Erschossen, gleich hier am See. Man hat mir untersagt, zu der Stelle hin zu gehen, um ihn zu sehen.«

»Ich bin mir sicher, das war nur zu Ihrem Besten, Frau Lautenschläger. Abgesehen davon muss der Tatort abgesperrt und untersucht werden, wenn wir den Täter ergreifen wollen«, erwiderte Blohm ebenso kühl. »Darf ich fragen, wer Sie informiert hat?«

»Gero hat mich vor einer Stunde kontaktiert, ich wollte gerade aus dem Haus gehen. Kurz danach hat mein Sohn auf dem Weg hierher angerufen.«

So, so, dachte Kiran, der Herr Generalbundesanwalt von Braunfels persönlich, offenbar ein Freund der Familie. Das konnte ja heiter werden, wenn der Mann sich bereits in den ersten Ermittlungsstunden derart aktiv an allem beteiligte.

Blohm musste etwas Ähnliches gedacht haben, als er sich mit etwas verkniffenem Gesicht an den Sohn wandte.

»Und Herr von Braunfels hat auch Sie ...«

»Ja, er hat mich ebenfalls informiert. Ich war auf dem Weg zur Arbeit. In Begleitung übrigens. Name und Adresse der Dame habe ich Ihnen hier notiert.« Er reichte Blohm einen Zettel, den dieser mit unbewegter Miene las und in seiner ausgebeulten Lederjacke verstaute.

»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen, Frau Lautenschläger?«, fragte Kiran.

»Ich habe meinen Mann zum letzten Mal gestern Abend gesehen, als ich zu Bett ging. Das war um Viertel vor Zehn. Er ist wie immer länger aufgeblieben. Heute Morgen ist er, ebenfalls wie immer, früher aufgestanden als ich, um Viertel nach sechs. Mein Mann hat nie viel geschlafen. Nach seinem üblichen Kaffee hat er seinen Morgenspaziergang gemacht. Den macht er jeden Morgen pünktlich um halb sieben.«

Mein lieber Mann, dachte Kiran. Der Tatort lag etwa fünf Minuten zu Fuß von hier. Zehn, wenn man Alter und Spaziergeschwindigkeit bedachte. Die Zeugin hatte wirklich unfassbares Glück gehabt. Der Mörder musste Lautenschläger nur wenige Minuten vor Ihrer Ankunft endgültig erledigt haben.

»Frau Lautenschläger, hat Ihr Mann gestern oder in den Tagen davor irgendetwas erwähnt, das auf eine Bedrohung schließen lassen könnte?«

»Junger Mann, mein Gatte wird bedroht seit ich ihn kennengelernt habe. Er hat sich von jeher mit weiß Gott welchen Existenzen überworfen oder mit ihnen Geschäfte gemacht, zumeist beides. Wenn Sie diesen Fall lösen wollen, werden Sie eine sehr lange Liste potentieller Feinde abarbeiten müssen.«

Sie blickte Kiran an, und deutete mit keiner Regung oder unstetem Blick auch nur den Hauch einer Emotion an. Sie hat sich perfekt in der Gewalt, dachte er.

»Frau Lautenschläger, erlauben Sie mir ein persönliche Frage – wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann?« fragte er dann.

Sie war nicht im mindesten überrascht und antwortete umgehend.

»Wir führen ... wir haben eine erfolgreiche Ehe geführt. Wir haben uns immer Freiräume gelassen und uns gegenseitig respektiert. Ich habe mich nicht für die Geschäfte meines Mannes interessiert, und das erwartete er auch gar nicht.«

»Und Sie, Herr Lautenschläger, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater beschreiben?«, schaltete Blohm sich ein.

Lautenschläger junior zuckte mit den Schultern.

»Im Grunde ähnlich wie meine Mutter. Er war kein Mensch, der andere an sich heranließ. Er zeigte auch kein besonderes Interesse an anderen Menschen, es sei denn, sie waren in irgendeiner Weise nützlich für seine Geschäfte.«

Dem Sohn gelang es weniger, seine Abneigung zu verbergen.

»Haben Sie mit Ihrem Vater zusammengearbeitet?«

»Ich führe ein Geschäft, das zu seiner Unternehmensgruppe gehört. Wir importieren Facharbeiter von und nach Osteuropa.«

Bolko gelang es gerade noch, seine ursprüngliche Reaktion mit einem Räuspern zu tarnen.

»Nun, darauf werden wir zurückkommen, wenn wir genauere Fragen bezüglich der Geschäfte und Kontakte Ihres Vaters haben. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Vorgestern, wir waren zum Mittagessen in der Innenstadt. Und bevor Sie fragen – wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, rein geschäftlich, nichts Persönliches und nichts Ernstes. Er war wie immer unzufrieden mit einigen meiner Entscheidungen. Wir diskutierten, er gewann, wir trennten uns.«

Kiran störte das ständige Antizipieren der beiden. Sie wirken wie trainiert auf diese Fragen, deshalb sollten wir dieses kleine Spielchen jetzt beenden, dachte er. »Gut, wie mein Kollege schon sagte, wir werden Sie später ausführlicher befragen. In diesem Moment möchte ich Sie nur bitten, unserem Team Zugang zu Ihren Überwachungsaufzeichnungen zu geben.«

»Sicher, meine Herren«, sagte sie.

Sie erhoben sich und wurden mit einer Handbewegung entlassen.

»Sie finden ja den Weg hinaus. Bitte rufen Sie vorher an, wenn Sie oder Ihre Kollegen wieder vorbeikommen wollen.«

»Selbstverständlich«, sagte Bolko. »Wir machen dann einen Termin mit Ihrer Sprechstundenhilfe.«

Er grinste Mutter und Sohn an und machte sich auf den Weg zur Haustüre. Kiran nickte nun einmal in die Runde und folgte Bolko, während Martin Lautenschläger den Sicherheitschef anrief.

Draußen wartete Bolko und wollte gerade anfangen zu sprechen, Kiran aber bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln zu schweigen. Sie warten, bis man ihnen das Überwachungsvideo ausgehändigt hatte, dann verließen sie das Grundstück.

Bolko sah Kiran fragend an. »Also das war sicher eine der kürzesten Befragungen, die ich bisher miterleben durfte. Andererseits wirkten die beiden ziemlich gut vorbereitet. Wollten Sie deshalb so schnell weg?«

»Genau. Jemand, ein Partner oder unser oberster Ankläger persönlich, hat sie gut eingestellt. Obwohl die Dame des Hauses diesen Auftritt sicherlich auch allein hinbekommen hätte.«

Bolko schwieg eine Weile. Schließlich sah er Kiran forschend von der Seite an. »Das Ganze gefällt mir überhaupt nicht. Mein erster Fall als leitender Ermittler beim BKA und dann ausgerechnet ein hochstehendes Opfer, jede Menge öffentlicher Druck und höchstwahrscheinlich Ärger mit allen Chefs die es gibt, dazu ein zusammengewürfeltes Team. Und warum Sie mitmischen sollen, ist mir ehrlich gesagt nicht ganz klar«

Kiran schmunzelte. Blohm war offenbar ein Freund direkter Worte.

»Ich bin unter anderem als Berater und Fallanalytik für internationales Verbrechen zuständig. Man hat zwar auch einen Kollegen aus dem Bereich SO3 dazu geholt, aber Oberstaatsanwältin Roellinghoff wollte ein Team, das mehr als nur in Richtung Wirtschafts- und organisierte Kriminalität ermitteln kann, wenn nötig grenzübergreifend. Und ihr geht’s übrigens wie Ihnen. Sie glaubt auch, dass uns das Ding schnell um die Ohren fliegen kann.«

»Und was meinen Sie? Ist dies das Ende unserer jungen Karriere?«

»Ich kann mir vorstellen, dass man in den oberen Kreisen nicht die leiseste Ahnung hat, was hier vorgefallen ist. Deshalb lässt man das BKA ermitteln, und was ist besser zu kontrollieren als ein junges Team, dem man bei jeder Bewegung über die Schulter sehen und auf die Finger hauen kann?«

»Charmant. Ich glaube es schon gesagt zu haben, ich kann Politiker nicht ausstehen. Und ich bin sicher, bei all den Beziehungen werden sicher einige Skelette aus den Schränken purzeln. Das hier wird niemandem Freude machen.«

»Vielleicht«, meinte Kiran. » Kann auch sein, dass wir ganz andere Leute auf uns aufmerksam machen. Eleonore ... ich meine Frau Roellinghoff sagte, man hat gegen Lautenschläger ermittelt. Was genau weiß ich nicht, aber das werden wir sicher von besagtem Kollegen aus der Abteilung hören.«

Als sie wenig später den Tatort erreichten, war die Spurensicherung bereits verschwunden. An der Absperrung standen nun noch Beamte und hielten die inzwischen angekommene Schar Pressefotografen zurück. Erste Beleidigungen flogen durch die Luft. Kiran und Bolko blieben zum Glück unbemerkt und gingen weiter zum Parkplatz.

»Sie kennen die Oberstaatsanwältin persönlich?«, fragte Bolko ironisch.

»Ihr Vater ist beziehungsweise war mein Mentor beim BKA«, antwortete Kiran.

»Ist mir bekannt. Hat sie ausgebildet und zum FBI geschickt, hat Sie dann nach Ihrer Rückkehr für ein Jahr beurlaubt. Studium in irgendeinem japanischen Kloster, dann als Dozent und Berater nach Berlin empfohlen. Warum Sie nicht im Feld arbeiten, weiß keiner. Man vermutet, irgendwas in Quantico hat Ihnen den Magen verdorben. Das beantwortet aber nicht meine Frage.«

Kiran musste lächeln. »Zumindest reden Sie nicht lange um die Dinge herum. Sagen wir es so: Meine Zeit beim FBI hat mich dahingehend beeinflusst, Ermittlungen zu begleiten, anstatt sie im Feld selbst durchzuführen. Seitdem berate ich Teams. Die Oberstaatsanwältin hat mich damals in dieser Entscheidung unterstützt. Daher und wegen ihres Vaters sind wir Freunde. In diesem Fall wie auch in anderen vorher sind wir Kollegen, mehr nicht. Sie braucht Hilfe in diesem Fall, wie Sie übrigens auch. Sie sollten meine Anwesenheit daher vielleicht eher als Vorteil ansehen.«

»Und Sie als ausgewiesener Profi st ermitteln mit mir zusammen draußen im Feld. Sehen Sie’s mir nach, wenn mich das angesichts der potentiellen Tätergruppe nicht gerade entspannt.«

»Keine Bange«, sagte Kiran. »Ich kann auf mich aufpassen.«

Und ich weigere mich eine Waffe zu tragen, dachte er. Vielleicht hat er Recht.

Sie waren an Kirans Wagen angekommen.

»Das ist Ihr Auto?«, fragte Bolko. »Rover Mini, sechziger Baujahr und Rechtssteuer. Eine leichte Berührung mit einem Laster, und Sie sind platt, aber mit Stil gestorben. Passen wir da wirklich beide rein?«

»Sie haben kein Auto dabei? Dann müssen wir unser Glück versuchen.« Sie stiegen ein.

»Wie im richtigen Leben«, sagte Bolko und zwängte sich auf den Beifahrersitz. Sein Handy machte ein undefinierbares Geräusch. »Team-Besprechung um 14 Uhr. Leiterin Halbach. Mutter Courage persönlich, na prima, das auch noch. Was meinen Sie, wollen wir vorher noch ein paar Leute befragen? Was halten Sie von Lautenschlägers Investment-Firma Omniacorp? Die ist gleich um die Ecke. Vielleicht hat der Herr Generalbundesanwalt da noch nicht angerufen.«

Kiran nickte und startete den Wagen.

Sibirischer Wind

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