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Kiran lehnte sich zurück und atmete tief ein.

Keine Stadt roch so gut wie Berlin im Frühling, wenn die Stadt aus dem langen Winterschlaf erwachte und alles um einen herum zu blühen begann. Vorbei war die Zeit der eisigen Winde und der griesgrämigen Gesichter. Die Sonne begann die Welt mit neuer Energie aufzuladen. Man konnte Menschen lachen und scherzen hören, mitunter sogar Busfahrer.

Es war sein erster Urlaub seit über einem Jahr. Zwei wunderbare Wochen lang würde er nichts anderes tun, als entspannen. Er würde nicht wegfahren, er würde in Berlin bleiben. Er wollte nur zwei Wochen lang nicht an die Arbeit denken müssen. Zum Schluss hatte er acht Fälle gleichzeitig bearbeiten müssen, das war selbst für einen Berater und Fallanalytiker im BKA zu viel, um zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Vor allem, wenn man nebenher noch an der Akademie unterrichtete.

Er saß draußen vor dem Lloyd’s, seinem Stammbistro und Restaurant am Paul-Lincke-Ufer und frühstückte. Von drinnen erklang leise Musik. Eines seiner Lieblingsstücke von Gershwin, eine schöne Coverversion aus den Achtzigern. Die nächsten vierzehn Tage würde er hier sitzen und sich nicht von der Stelle rühren. Das Bistro befand sich im Parterre des Hauses, in dem er wohnte. Hier hatte er seinerzeit ein schönes Loft gefunden. Obwohl im Berlin nach dem Mauerfall die Auswahl groß war, hatte er sich für dieses entschieden, einzig und allein wegen dem Lloyd’s.

Der Betreiber und Namensgeber war der mit Abstand seltsamste Wirt, dem Kiran jemals begegnet war. Nestor Lloyd war seinerzeit nach der Wiedervereinigung und Auflösung seines englischen Bataillons in der Stadt geblieben, um seine höchst eigene Vorstellung von Gastronomie zu verwirklichen: professioneller Ausschank kombiniert mit experimenteller Küche. Gerade in dieser Hinsicht war ihm Berlin lohnenswerter erschienen als die heimatliche Merseyside, und so hatte er sein Domizil in Kreuzberg aufgeschlagen. Zentrum seines Etablissements war eine Bar, deren Ausstattung jedem alteingesessenen Londoner Pub zur Ehre gereicht hätte. Der Rest der Einrichtung folgte konsequent Nestors anarchischem Geschmack. Das Mobiliar bestand aus Reliquien seiner Vorfahren, durchmischt mit absurden Einzelstücken, die er auf seinen Streifzügen durch die Welt und vor allem in Berlin gesammelt hatte.

Tagsüber eine Art Mischung aus Kneipe und Bistro, verwandelte sich das Lloyd’s abends in ein erstklassiges Restaurant. Speisekarten suchte man hier vergeblich. Neben der Bar hing eine Schiefertafel, auf der Nestor manchmal, wenn ihm danach war, das Tagesangebot aufmalte. Meistens jedoch unterrichtete er die Gäste am Tisch über die Spezialitäten des Tages, zumal er oft erst während dieser Unterhaltung entschied, was er wem anbot. Nestor liebte seine Frau Dierdra, brannte für den FC Liverpool, mochte die Deutschen und verabscheute Restaurantkritiker inklusive des frisch gebügelten Gourmetgesindels in deren Schlepptau. Seine kulinarischen Kreationen waren mit voller Absicht so absurd wie genial, was ihm zweifelhafte Besprechungen und eine recht illustre Klientel einbrachte.

Kiran fühlte sich hier so wohl wie sonst nur in seinen eigenen vier Wänden. Die nächsten zwei Wochen würden herrlich werden. Er würde sich ganz Nestors Kochkünsten überlassen und sich im übrigen nur seinen Pflanzen, der Musik und dem Aikido widmen.

In diese elegischen Überlegungen und in sein Blickfeld hinein trat eine bekannte Gestalt. Er erkannte sie sofort an ihrem blonden, leicht gewellten Haar, der aufrechten Figur, dem energischen und doch irgendwie sehr weiblichen Gang. Eleonore Roellinghoff kam direkt zu ihm an den Tisch, setzte sich und blitzte ihn aus ihren strahlend blauen Augen wütend an.

»Guten Morgen, Kiran, ich hoffe du hattest einen entspannten Start in den Tag?«

»Guten Morgen, Eleonore.«

Wie üblich kam sie gleich zur Sache. »Dein Handy ist ausgeschaltet, hast du eine Ahnung, seit wann ich dich zu erreichen versuche?«

»Ich bin seit null Uhr im Urlaub, Frau Oberstaatsanwältin«, sagte er mit einem, wie er meinte, immer noch charmanten Lächeln. Er war nicht bereit, auch nur eine Minute seiner wohlverdienten Auszeit herzugeben. Egal, was da da kommen sollte.

»Hast du keine internen Nachrichten gehört?«

»Nein, wieso, ich bin …«

»Herrgott, ja, du bist im Urlaub. Der Rest der Stadt aber nicht. Friedrich Lautenschläger ist erschossen worden.«

Kiran schaute sie ungläubig an.

»Sie haben ihn heute gegen sieben Uhr in der Nähe seiner Villa auf dem Uferweg am Wannsee gefunden. Man hat ihn anscheinend beim Morgenspaziergang abgepasst. Zwei Kugeln in die Brust, eine zwischen die Augen.«

Es dauerte einen Moment, bis Kiran die volle Tragweite dieser Nachricht erfasste. Friedrich Lautenschläger – der große alte Mann der deutschen Industriepolitik. Mit Immobilien, Bauprojekten und geschickten Investitionen in den Siebzigern reich geworden, hatte er seine spätere Machtposition vor allem durch seine hervorragenden Beziehungen zu Osteuropa erlangt. Nach dem Fall der Mauer war Lautenschläger zum Motor des Aufbaus Ost geworden. Er musste längst in den Siebzigern sein, überlegte Kiran, dennoch gehörte er nach wie vor zur Elite der deutschen Wirtschaft. Er führte noch immer persönlich die Amtsgeschäfte seiner Investment-Firma Omniacorp und war eine der wichtigsten Verbindungen der deutschen Politik zur russischen Industrie. Der Mann ging im Kanzleramt und im Wirtschaftsministerium ein und aus.

Sein Aufstieg war vom BKA von jeher mit Argwohn verfolgt worden. In schöner Regelmäßigkeit gab es Hinweise auf dubiose Machenschaften und Verbindungen, die jedoch nie genauer verfolgt worden waren. Kein leitender Ermittler hatte es gewagt, seine Karriere aufs Spiel zu setzen, um ausgerechnet Lautenschläger anzugehen. Zu gut waren dessen Verbindungen, die Protektion in den Etagen der Macht schlicht unüberwindlich.

Sie wartete auf eine Antwort, die aber nicht kam.

»Weißt du was das bedeutet? Ich hatte seit heute früh das halbe Kabinett inklusive all deiner Chefs am Telefon. Die sind am Rotieren. Genauso gut hätten sie den Wirtschaftsminister erschießen können.«

»Und das wäre gar nicht mal ...«

»Kiran!«

Er wurde Ernst. »Okay, aber ich verstehe nicht, warum du damit zu mir kommst. Das Thema Lautenschläger ist sicher schon längst Sache des BND. Bei uns ist das höchstens was für nassforsche Aufsteiger.« Er konnte sie schon buchstäblich um die Wette laufen sehen.

»Und genau die kann ich nicht gebrauchen. Das Innenministerium ist hypernervös. Die wollen jegliche Verwicklungen vermeiden – intern, extern, international. Der Generalbundesanwalt hat mir zu Verstehen gegeben, dass dieser Fall wie ein normaler Mordfall behandelt werden soll – von uns und dem BKA.«

Kiran verdrehte die Augen. »Das stinkt gewaltig, Eleonore. Sonst bekommen wir solche Fälle nicht mal von weitem zu sehen. Warum jetzt?«

Er sah sie an. Er hatte seine alte Freundin noch nie so besorgt erlebt. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. Eleonore zündete sich mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette an.

»Ich habe nur kurz mit dem Chef gesprochen. Sie haben seit einiger Zeit gegen Lautenschläger ermittelt.«

»Wer?«

»Die Wirtschaftsabteilung SO3, Bereich Organisierte Kriminalität. Irgendjemand in seinem Umfeld oder er selbst hat es wohl zu weit getrieben, das konnte selbst das BKA nicht mehr übersehen. Man hat mir gesagt, die Ermittlungen gegen ihn könnten für einige hochstehende Personen womöglich unangenehme Folgen haben. Um da nicht zu stören, muss dieser Fall von einer Sonderkommission als Mord mit internationaler Tragweite behandelt werden. Parallel zu den laufenden Ermittlungen und absolut neutral hinsichtlich BND und anderen Diensten.«

»Mit anderen Worten, die wollen alles schön unter Verschluss halten.«

»Genau, deshalb eine klassische Mordermittlung, deshalb wir. Man hat mir gesagt, ich hätte weitgehend freie Hand in der Benennung einer Sonderkommission.«

Kiran ahnte, was kommen würde. Eleonore sah ihn an.

»Ich will, dass du dabei bist, Kiran. Aber nicht wie sonst. Nicht nur Profiling. Der ermittelnde Kommissar der Soko ist neu, ein junges Talent, aber er braucht einen erfahrenen Mann neben sich. Ich will, dass du mit ihm die Ermittlungen leitest und durchführst – im Feld.«

»Eleonore, ich ...«

»Kiran, es ist doch klar, was die mit mir machen. Die wollen einen politisch korrekten Täter haben, ohne dass man ihnen ins Handwerk pfuscht. Völliger Wahnsinn, wenn du mich fragst. Das hier ist ein Minenfeld, und ich stehe mittendrin. Wenn ich einen falschen Schritt mache, dann war’s das.«

Sie drückte nervös die halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus.

»Hör zu, Kiran«, fuhr sie fort, »ich weiß ja, warum du nicht mehr draußen arbeitest. Wer wüsste das besser als ich. Aber ich kenne niemanden, dem ich in dieser Sache so vertrauen kann wie dir. Das Kernteam ist relativ jung, aber brillant. Alles, was ihnen fehlt, ist ein besonnener zweiter Teamleiter. Ich brauche deine Hilfe, Kiran, wirklich!«

Wieder sah Kiran diesen besorgten Blick in ihren Augen. Er wusste, er konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen. Eleonore war für ihn da gewesen, als er ihre Hilfe gebraucht hatte. Nun war es an ihm, ihr ebenfalls einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Zudem hatte ihn schon länger das Gefühl beschlichen, dass sein selbstgewähltes Exil vom operativen Einsatz irgendwann zu Ende gehen würde. Dass dies ausgerechnet bei einem derart brisanten Fall geschehen sollte, war einerseits beängstigend, zugleich jedoch seltsamerweise befreiend.

»Also gut. Wo soll ich anfangen? Ist der Tatort noch begehbar?«

Zum ersten Mal lächelte Eleonore ein wenig. »Fahr nach Wannsee. Die Kriminaltechnik müsste noch bei der Arbeit sein. Bolko Blohm ist der Leiter der Ermittlungen. Er ist ebenfalls vor Ort. Sagt dir der Name was?«

Kiran nickte. Er hatte von ihm gehört. Blohm war gerade erst aus dem LKA Hamburg rekrutiert worden. Relativ jung, intelligent und ziemlich unkonventionell, wie man hörte. Vor nicht allzu langer Zeit waren dies keine karrierefördernden Attribute. In den letzten Jahren hatten die Verantwortlichen jedoch endlich ein wenig umgedacht. Dem Verbrechen sollten nicht nur die üblichen Beamte, sondern auch straßentaugliche Ermittler entgegengestellt werden. Typen, die etwas vom Leben gesehen hatten und nicht direkt vom BKA-Ausbildungsfließband an den Schreibtisch gesetzt worden waren. Bis die Akademie soweit war, diese Sorte Ermittler zu rekrutieren, auszubilden und zu fördern, würde noch einige Zeit vergehen. Kiran konnte ein Lied davon singen. Bis dahin musste man andernorts nach Talenten suchen, die diese bislang kaum geförderten Eigenschaften mitbrachten. Blohm war offensichtlich einer der ersten Vertreter dieser neuen Spezies.

Kiran war bewusst, dass Eleonore mit der Benennung eines jungen Teams voll und ganz den Erwartungen und Plänen der hohen Politik entsprach – die Frischlinge waren ersetzbar, leicht zu beeinflussen und notfalls perfekte Sündenböcke, falls etwas schieflachen sollte

Und ihm war ebenfalls klar, dass er in diesem Ränkespiel ihr Trumpf sein würde.

Sibirischer Wind

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