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Eigentlich, dachte Kiran, hätte ich jetzt auf dem Weg in die Großmarkthalle sein sollen. Er hatte sich unlängst einen Teppanyaki-Grill zugelegt und dessen Einweihung während der letzten Tage ausführlich geplant. Gestern hatte er ein edles Stück Kobe-Rind bestellt und im Geiste bereits eine Marinade entworfen. Stattdessen befand er sich jetzt auf dem Weg zu einem Tatort. Nach der Verabschiedung von Eleonore war er in seinen moosgrünen Mini gestiegen und losgefahren. Wie üblich brachte ihn der hektische Berliner Verkehr nicht aus der Ruhe, sondern vielmehr ins Grübeln. In erster Linie dachte er über Eleonore nach.

Er hatte sie gleich zu Anfang seiner Ausbildung kennengelernt. Kiran hatte sich noch im ersten Ausbildungsjahr auf der Akademie des BKA befunden und zum ersten Mal in seinem Leben die Gewissheit gehabt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Von jeher ein Mensch, der Ruhe und Ordnung schätzte und sein Leben stets nahezu perfekt organisierte, war seine Jugend in einem hochkreativen Elternhaus mit einem bildhauenden Vater und einer malenden Mutter eher ein Kampf gegen Unwägbarkeiten und Chaos gewesen. Um so mehr genoss er die Zeit auf der Akademie. Anders als noch während der Schulzeit, befanden sich hier nur Menschen, die wussten, was sie wollten. Es gab Strukturen und klare Vorgaben. Kiran, noch völlig unerfahren bezüglich der Untiefen des BKA-Apparats, war in seinem Element.

Seinen Ausbildern gefiel die ruhige intelligente Art dieses jungen Mannes. Er schien die Studieninhalte förmlich aufzusaugen, verstand sie nicht nur, sondern dachte sie weiter. Sein Faible für logische Zusammenhänge machte selbst die trockenste Theorie zu einem interessanten Spiel für ihn. Dazu sprach er dank eines Austauschjahrs in den USA fließend und akzentfrei Englisch. Seine Lehrer fanden außerdem schnell heraus, dass Kiran zusätzlich dazu über beängstigende Kenntnisse im Bereich der Selbstverteidigung verfügte. Selbst im Umgang mit der Waffe bewies er ein auch für ihn selbst überraschendes Talent.

Zu diesem Zeitpunkt erweckte er zum ersten Mal die Aufmerksamkeit eines Ausbilders. Horst Roellinghoff unterrichtete in der Akademie des BKA vor allem in den Bereichen Zielfahndung und operativer Einsatz. Obwohl dies eher Inhalte des zweiten Ausbildungsjahres waren und er Kiran somit noch nicht kennengelernt hatte, tauschten sich die Ausbilder in der Akademie regelmäßig über die Fähigkeiten und möglichen Verwendungszwecke der Neuankömmlinge aus. Dies musste jedoch nicht unbedingt ein Vorteil sein. Talentierte Auszubildende wurden unter den Lehrenden für gewöhnlich hoch gehandelt. Erste und häufigste Abnehmer waren der BND und andere Sicherheitsbehörden, für viele Ausbilder nach wie vor das Maß aller Dinge. Sie vermittelten daher gern Nachwuchs, um sich für diese professionelle Auswahl und Gefälligkeit zugleich selbst zu empfehlen.

Der alte Roellinghoff, wie er allgemein genannt wurde, betrachtete diesen Tauschbasar mit entschiedener Verachtung. Nicht nur war ihm der gesamte Nachrichtendienst suspekt, er war auch ein leidenschaftlicher Vertreter moderner und vernetzter Ermittlungsmethoden. Dies bedeutete für ihn nicht nur Technisierung, sondern ebenso die gezielte intellektuelle und vor allem internationale Ausbildung seiner Schützlinge. Die anderen Dienste setzten viel zu sehr auf interne Politik und geheimen Popanz. Dem erfahrenen Roellinghoff jedoch hatte gerade der deutsche Herbst klargemacht, dass den Herausforderungen Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr mit biederen Agenten und Fahndern alter Schule begegnet werden konnte.

In seiner Funktion als Verbindungsmann der interpolizeilichen Organisation zu den USA hatte Horst Roellinghoff gerade wegen dieser Ansichten viele Freunde und Verbündete beim FBI gefunden. Dort hatte man im Zwist mit dem CIA und der National Security Agency ähnliche Probleme und diese erst mit Ausbau und Abschottung der eigenen Akademie halbwegs in den Griff bekommen. Seitdem wurden in Quantico Special-Agents ausgebildet, die den neuartigen politisierten und terroristischen Einflüssen in der Gesellschaft nicht nur fachlich, sondern auch menschlich begegnen sollten. Dies, so hatte Roellinghoff seinerzeit erkannt, war der einzig gangbare Weg in moderner Verbrechensbekämpfung.

Als Roellinghoff auf Geheiß eines Kollegen Kiran erst beim Nahkampftraining, dann beim Schießen und zum Schluss bei der Debatte in einer Basisveranstaltung über juristische Grundlagen beobachtet hatte, war er sich sicher: Hier hatte er einen perfekten Vertreter dieser neuen Generation gefunden. Bevor ihm irgendjemand dazwischenfunken konnte, hatte er sich dem jungen Mann vorgestellt und ihn ohne Umschweife zum Essen eingeladen. Kiran, dem nur halbwegs klar war, wem er da gegenüberstand, hatte schüchtern eingewilligt.

Roellinghoff wohnte unweit der Akademie in einem ruhigen Vorort von Wiesbaden. Die alten Villen hier zeugten weniger von Wohlstand als alter Tradition des Bildungsbürgertums, wie Kiran fand, als er am frühen Abend desselben Tages zu seiner Einladung radelte. Die gepflegten Gärten und Fassaden suggerierten gehobene Mittelklasse, Ruhe und Beschaulichkeit. Der Eindruck wurde verstärkt durch den herrlichen Geruch frischen Flieders und dem beruhigenden Gebrumme der Rasenmäher.

All dies hatte ihn seine Nervosität vergessen lassen und sogar regelrecht entspannt, so dass er vollkommen unvorbereitet gewesen war, als sich die Tür auf sein Klingeln öffnete und die Tochter des Hauses vor ihm stand. Sie hatte blondes Haar und strahlend blaue Augen, aus denen sie ihn misstrauisch und etwas spöttisch musterte, bis ihm auffiel, dass er sie wie eine Erscheinung anstarrte. Nach einer halben Ewigkeit hatte sie sich als Roellinghoffs Tochter Eleonore vorgestellt, ihn eingelassen und auf die Gartenterrasse geführt. Dort saß der Hausherr entspannt in einem Korbsessel und rauchte seine obligatorische Pfeife.

Horst Roellinghoff mochte in der Akademie den Ruf eines Hardliners haben, in seiner heimischen Umgebung stellte er sich als überaus charmanter Gastgeber heraus. Statt langweiliger Fachdebatten gab es einen köstlichen Ossobucco und einem noch köstlicheren Wein. Vor Antritt seines Studiums hatte Kiran die wenige Literatur über Geschichte und Aufbau des BKA verschlungen, an diesem Abend aber wurde sie vor ihm lebendig.

Roellinghoff war im Alter von zwanzig Jahren über die Sicherungsgruppe Bonn zum Dienst gekommen, also ein Mann der ersten Stunde. Seine humorvollen Anekdoten und intelligente Kommentare zur Entwicklung des BKA fesselten Kiran vom ersten Moment an. Hier erfuhr er aus erster Hand, wie sich diese Institution von einem zweifelhaften Sammelbecken ehemaliger Mitglieder der NSDAP und SS-Führer ab den siebziger Jahren endlich zu einer modernen Ermittlungsbehörde entwickelt hatte. Einige der Missstände, die Roellinghoff mit großer Unverblümtheit schilderte, machten sogar den sonst so realistischen Kiran sprachlos. So schlug der alte Veteran geschickt einen Bogen hin zu seinem eigentlichen Anliegen: herauszufinden, welche Ideen und Ideale diesen jungen Mann angetrieben hatten, Ermittlungsarbeit zu seinem Lebensinhalt zu machen.

Durch sein Elternhaus an lange Abende am Esstisch gewöhnt, fühlte sich Kiran im Grunde sehr wohl in der Gesellschaft dieser BKA-Legende und seiner intelligenten Tochter. Andererseits beschlich ihn zunehmend das Gefühl, dass er hier einer sehr gründlichen Prüfung unterzogen wurde. Nicht nur vom alten Roellinghoff, sondern auch von Eleonore.

Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, war sie nur wenige Jahre älter als Kiran und befand sich mitten im Jurastudium. Sicherlich war sie durch Karriere und Mentalität ihres Vaters geprägt, hatte aber in der Juristerei ihre eigene Nische gefunden. Kiran stellte höfliche und, wie er glaubte, intelligente Fragen zu ihrem Studium. Zugleich aber wurde er beständig von ihrem forschenden, beinahe sezierenden Blick verwirrt.

Mit seinen klaren, feinen Gesichtszügen, dem blonden Haar, dem Aikido-gestählten Körper und seinem ruhigen Wesen wirkte er auf das weibliche Geschlecht sehr attraktiv, dennoch hatte er es bislang verstanden, sich den meisten Annäherungsversuchen zu entziehen. Seine Erfahrungen mit Frauen waren daher zwar keine schlechten, für sein Alter jedoch durchaus begrenzt. Einer derart selbstsicheren jungen Frau war er auf jeden Fall noch nie begegnet. Zudem saß er hier am Esstisch eines der wichtigsten Ausbilder und Vordenker des BKA. Alles in allem ein äußerst rutschiges Parkett.

Als der Abend schließlich zu Ende ging, fühlte sich Kiran wie nach dem mündlichen Abitur, vollkommen erschöpft und zugleich federleicht und glücklich. Irgendwie hatte er das Gefühl, in ein neues Leben einzutauchen. Dies war natürlich die Absicht Roellinghoffs gewesen. Obwohl er hinsichtlich bestimmter Eigenarten dieses jungen Mannes etwas misstrauisch war, hatte er seine Entscheidung längst getroffen. Als sie sich verabschiedeten, war Kiran ohne es zu merken, bereits mit Haut und Haaren diesem Mann verschrieben, der sein Mentor und Vorbild werden und seine Zukunft bestimmen sollte.

Die Auswirkungen dieses Treffens waren bereits am nächsten Tag zu spüren gewesen. Offensichtlich hatte es einige Telefonate gegeben, denn zusätzlich zu seinem üblichen Stundenplan bekam er Einzelgespräche und Trainings mit Horst Roellinghoff zugeteilt.

In dieser Zeit wurden Eleonore und er zu engen Freunden. Der alte Roellinghoff schien von dieser Entwicklung zwischen den beiden erfreut und begrüßte es, dass sie zusammen ausgingen. Offensichtlich waren hier zwei starke und unabhängige Charaktere aufeinander getroffen, Einzelgänger und Kopfmenschen. Insofern war es nur gut, wenn diese beiden Intelligenzbestien endlich mal aus dem Haus kamen und jemanden zum Reden hatten. Es war die schönste Zeit in Kirans Leben, Vater und Tochter Roellinghoff wurden zur Ersatzfamilie für ihn. Die beiden sollten seine Rettung sein, als er wenige Jahre später in eine schlimme Krise geriet.

An all diese Dinge musste Kiran denken, als er sich nun auf dem Weg nach Wannsee befand. Eleonore war die einzige Frau in seinem Leben, die ihn nicht nur verstand, sondern immer für ihn da war, ohne jemals irgendetwas zu fordern. Umso befremdlicher war ihr jetziges Verhalten – und ihre Angst, obwohl es auf der Hand lag, warum sie derart unter Druck stand. Ihre Karriere war bislang planmäßig verlaufen, sie war nach Abschluss des Studiums und ihrer praktischen Jahre die mit Abstand jüngste Staatsanwältin von Berlin geworden. Hier war er ihr auch beruflich wieder begegnet, als er seine Stellung als Berater und Fallanalytiker im neuen Berliner Hauptquartier des BKA bezogen hatte.

Sie war die einzige gewesen, die seine Abkehr von der operativen Feldarbeit unterstützt hatte. Dies lag sicher auch daran, dass sie neben ihrem Vater die einzige war, die den wahren Grund für diese Entscheidung kannte.

Dass sie in den folgenden Jahren ihren gesamten Einfluss geltend gemacht hatte, um ihn in seiner Position zu festigen, würde er ihr niemals vergessen. Nun stand sie kurz vor dem Eintritt in die höchsten Gefilde ihres Arbeitsbereichs und damit erneut auf dem Prüfstand. Mehr noch, es schien, als würde dieser Fall vor allem ihren durchgängig männlichen Neidern eine hochwillkommene Gelegenheit bieten, ihren Aufstieg rüde zu stoppen. Nicht nur deshalb war ihm klar, dass jetzt, da sie seine Hilfe brauchte, für ihn die Zeit gekommen war, sich seinen Dämonen zu stellen.

Er fuhr daher mit gemischten Gefühlen die Potsdamer Chaussee entlang und erreichte schließlich Wannsee. Durch die Villengegend fahrend, bereitete er sich mit ein paar geistigen Entspannungsübungen auf das vor, was ihm begegnen würde.

Sibirischer Wind

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