Читать книгу Sibirischer Wind - Ilja Albrecht - Страница 14
7
ОглавлениеDie Gerichtsmedizin in der Berliner Charité lag für Berliner Verhältnisse nur unweit des BKA Gebäudes. Seit kurzem waren hier sämtliche rechtsmedizinischen Einrichtungen der Polizei Berlins zusammengeführt worden. Das Institut hatte einen herausragenden Namen, insofern war Lautenschläger selbst für seine Autopsie an eine ihm angemessene Adresse geliefert worden.
Sie waren schnell durch das Gebäude bis in den Obduktionssaal geschickt worden, wo der Professor der Pathologie höchstpersönlich bereits an der Arbeit war und die Leiche gerade geöffnet hatte
»Der große Mann der deutschen Industrie. Und Sie sind die Glücklichen, die das aufklären sollen? Mein Beileid. Da haben Sie einiges vor sich.«
Friedrich Lautenschläger strahlte selbst im Tode noch Autorität aus. Das markante Gesicht, die strengen Züge ließen keinen Zweifel darüber, wie ihn seine Umwelt wahrgenommen haben musste. Selbst Blutergüsse am Kiefer und die demolierte Nase taten dem kaum Abbruch.
Der Pathologe nickte ihnen zu, als sie sich vorstellten, und fuhr während des Sprechens mit der Arbeit fort.
»Also, die Todesursache ist offensichtlich: drei Schüsse, einer zwischen die Augen und zwei in die Brust. Jeder einzelne mit Sicherheit tödlich. Anzahl und Platzierung weist offensichtlich auf einen Pro hin. Was mich jedoch weitaus mehr erstaunt, möchte ich Ihnen hier zeigen, deswegen habe ich die Leiche auch eben erst geöffnet und stattdessen sehr viel mehr Fotos gemacht als sonst.«
Er wies auf eine Bilderserie auf dem Großbildschirm an der Wand, bedeutete ihnen dann, näher an den Tisch zu treten und zeigte auf die rechte Brust des Toten. Sein dozierender Ton half Kiran und Bolko etwas über den wie immer überwältigend üblen Eindruck einer frischen Autopsie hinweg.
»Was Sie hier sehen, sind keine gewöhnlichen Hämatome. Der Mörder ist auch hier äußerst professionell zu Werke gegangen.«
»Das können Sie an den Blutergüssen sehen?«, fragte Bolko.
»Auf jeden Fall. Sehen Sie sich diesen Schlag unter den Brustkorb an. Ein fach geformtes Hämatom. Der Täter hat höchstwahrscheinlich mit der Unterseite der Handkante zugeschlagen und das in einer Art seitlichen Vorwärtsbewegung. Der Erguss ist klein, aber sehr tief gehend und hat sich trotz des eintretenden Todes noch fast vollständig entwickelt. Sehen Sie hier. Der Schlag ist demzufolge mit extremer Wucht zugefügt worden. Die Wirkung ist natürlich verheerend, Atemstillstand, zwischenzeitlicher Stopp der Blutversorgung, kleine Frakturen am Brustkorb. Ähnliche Hämatome in der Nierengegend. Die Bänder am Handgelenk des linken Arms sind gerissen, das Ellbogengelenk sauber gebrochen. Ebenso das linke Knie: Offenbar ein seitlicher Tritt, der die Kniekapsel nicht nur aus dem Gelenk befördert, sondern geradezu gesprengt hat. Am Kopf dann eine Kieferfraktur. Kein einfacher Bruch, sondern der Unterkiefer ist in mehrere Teile zersplittert. Dazu die zertrümmerte Nase, das war allerdings eher ein normaler Schlag.«
Kiran und Bolko sahen sich an, während der Pathologe fortfuhr.
»Auffällig ist aber nicht nur die Form der Blutergüsse, sondern vor allem ihre Platzierung. Ich habe so etwas in Berlin zuletzt in den neunziger Jahren gesehen. Körperverletzungen, die auf eine besondere Art des Nahkampfs hinweisen.«
»Sie meinen Systema?«, fragte Kiran. Ihm war neben den anvisierten Körperregionen vor allem die wahrscheinliche Schlagreihenfolge aufgefallen. Diese Form, den Gegner unschädlich zu machen, war ihm von seiner Ausbildung in Quantico bekannt. Dort lernten die angehenden Special-Agents alle möglichen Nahkampftechniken, die es weltweit gab. Systema war die russische Spielform des waffenlosen Nahkampfs, entwickelt von der Speznas, einer Spezialeinheit und professionellen Tötungsabteilung des sowjetischen Geheimdienstes GRU.
Der Pathologe blickte sie an. »Ganz genau. Dies hier sind Anzeichen, dass Ihr Mörder womöglich ein russischer oder wenigstens ein von den Russen ausgebildeter Killer ist. In den neunziger Jahren hatten wir, wie gesagt, vielfach solche Mordopfer in Berlin. Es ging meist um Machtkämpfe der sich damals hier etablierenden russischen Mafia. Die Herangehensweise war ähnlich: zuerst professionelle Misshandlung, dann eiskaltes Töten.«
»Erniedrigung und Beseitigung des Gegners durch gedungene Mörder oder die eigene Leibwächtergarde. Danach Entsorgung der Leichen auf Müllhalden oder alten Kasernengeländen«, fügte Kiran hinzu.
»Richtig. Sie waren damals also auch schon hier?«
Kiran nickte. »Ich wurde in einigen Fällen als Berater hinzugezogen. Was mir untypisch erscheint, ist, dass es derart viele verschiedene Verletzungen gibt, noch dazu am Gesicht.«
Der Pathologe nickte, dann sagte er: »Vielleicht ist der alte Mann einfach nur zu schnell unter den Schlägen zusammengebrochen. Immerhin sind die Opfer solcher Angriffe gemeinhin jünger und normalerweise selbst Killer.«
»Todesursache sind aber wohl die Schüsse?«, fragte Kiran.
»Das werde ich gleich bei der Autopsie feststellen, ich gehe aber davon aus. Die Schläge hätten vielleicht einen Schock oder Infarkt hervorrufen können, aber ich nehme nicht an, dass der Mörder noch lange gewartet hat, bis er die Schüsse abgefeuert hat.«
»Man könnte meinen, Sie wären vor Ort gewesen«, meinte Bolko mit ehrlicher Bewunderung.
Der Pathologe sah beinahe zufrieden aus. »Ich muss zugeben, so etwas passiert doch recht selten, vor allem bei einer prominenten Persönlichkeit. Das hier wird die Medien Saltos schlagen lassen in den nächsten Tagen.«
Davon war allerdings auszugehen. Kiran seufzte innerlich und wandte sich zum Gehen. »Können Sie uns den Report der Autopsie so schnell wie möglich schicken?«, fragte er und hielt Bolko die Tür auf.
»Endlich mal ein halbwegs normaler Mensch in der Leichenhalle«, sagte der, als sie mit dem Lift nach oben fuhren. »In Hamburg finden Sie nur gestörte Grottenolme in der Gerichtsmedizin. »
»Vielleicht. Andererseits ist mir der Mann ein bisschen zu schnell mit seinen Schlussfolgerungen. Wir sollten immer im Auge behalten, dass jede Spur mit voller Absicht gelegt worden sein kann.«
»Irgendwie habe ich geahnt, dass Sie so etwas sagen würden.«
Im Hauptquartier kamen sie auf dem Weg zu den Büros an einem offenen TV-Raum vorbei, in dem sich fast alle Beamte der ersten Etage vor dem Fernseher versammelt hatten. Offenbar hatte die Pressekonferenz gerade begonnen. Einige der Kollegen warfen ihnen verstohlen Blicke zu, als sie den Raum betraten.
In diesem Moment begann Birte Halbach im Fernsehen damit, der versammelten Presse die ersten Fakten zu präsentieren. Eleonore neben ihr sah starr auf ihre Unterlagen. Der Presseraum war zum Bersten gefüllt. Der Ansturm hatte bereits eine Stunde vorher begonnen, sodass die zuletzt Gekommenen draußen auf den Gängen standen. Aber Halbach hatte den Journalisten nicht viel zu bieten und trug die spärlichen Informationen im üblichen Polizeijargon vor. Das kam, wie bei dieser Sensation kaum anders zu erwarten, nicht besonders gut an. Während Halbach Fundort, voraussichtliche Todesursache und die Gründung einer Sonderermittlungsgruppe abhakte, machte sich Unruhe breit und man konnte spüren, wie sich die Meute vor ihr auf die Fragen vorbereitete.
Halbach tat ihnen den Gefallen und lud zu Fragen ein, die sogleich wie ein Gewitter über sie hereinbrachen. Wie üblich beantwortete sie jede Frage, jedoch nur wenige davon mit konkreten Antworten. Sie bestätigte immerhin die Tatsache, dass es sich um einen geplanten Überfall mit Todesfolge handelte, verwies im übrigen aber auf die laufenden Ermittlungen, die nicht gefährdet werden dürften. Sie machte bereits Anstalten, ihre Unterlagen zusammenzuraffen und die Pressekonferenz zu beenden, als ein Journalist sie doch noch aus der Reserve lockte.
»Frau Halbach, ist diese Ermittlungsgruppe darauf vorbereitet, nicht nur internationale Täterkreise, sondern unter Umständen auch Vertreter der deutschen Wirtschaft und Politik ins Visier zu nehmen?«
»Ich verstehe nicht, was diese Frage soll. Selbstverständlich gehen wir jeder Spur nach, egal, wohin sie führt. Deshalb nennt man uns schließlich das Bundeskriminalamt«, antwortete sie trocken und erntete dafür beifälliges Gelächter, auch unter den Kollegen im Fernsehraum des BKA. Der Fragesteller ließ jedoch nicht locker.
»Frau Halbach, nach unseren Informationen wurde gegen Friedrich Lautenschläger ermittelt, und zwar in Ihrem Hause. Können Sie uns dazu mehr sagen?«
Kiran und Bolko sahen sich an, die Kollegen neben ihnen begannen zu tuscheln.
»Junger Mann, wenn ich Ihnen diese Frage beantworten würde, könnten wir gleich einpacken und nach Hause gehen. Also verschwenden Sie nicht unsere Zeit.«
»Heißt das, Sie bestätigen diese Information?«
Birte Halbach lächelte ihn an und sagte: »Sie haben es nicht anders gewollt: Kein Kommentar.«
Während erneut Gelächter ausbrach, standen sie und Eleonore auf und nahmen ihre Akten unter den Arm. Im Blitzlichtgewitter wurde weitere Fragen wild durcheinander gerufen, die der Leiter der Pressekonferenz jedoch geschickt mit einem Schlusswort abwürgte. Der erste öffentliche Akt war beendet.
»Hut ab. Sie ist wirklich klasse mit diesen Bluthunden«, sagte Bolko.
»Sie ist das Beste, was uns als Team passieren konnte«, erwiderte Kiran. »Ich kenne niemanden, der den Journalisten so entspannt gegenübertritt wie sie. »
Sie verließen den Fernsehraum, ohne die Blicke der Kollegen zu beachten, und gingen in ihr neues Büro. Dort fanden sie Motte und Heinrich, die am Medienterminal saßen und neben dem Sortieren von Dateien ebenfalls die Pressekonferenz verfolgt hatten. Enzo Moretti saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Kiran nickte allen zu und begab sich zu dem Doppelschreibtisch am Ende des Raums. Er setzte sich Bolko gegenüber.
Dieser hatte unterdessen begonnen, weitere Gegenstände aus seiner alten Sporttasche zu holen. Nacheinander erschienen auf dem Schreibtisch der Standwimpel eines Hamburger Fußballclubs, zwei zerkratzte Lautsprecher für den Computer, ein extrem anstößig aussehender Stifthalter und eine Art selbstgeschweißter Standbilderrahmen mit einer Collage aus Fotografen. In die abschließbare Schublade wanderten seine Waffe, diverse Notizbücher und ein abgewetzter lederner Kalender. Nachdem er sich eingerichtet hatte, ließ er sich in den Sessel fallen und wandte sich Kiran zu.
»So, alles im Lot, alles am Platz. Sie haben nichts dabei?«
»Ich weiß erst seit dem Frühstück von dieser Gruppe.
Außerdem habe ich mein Büro weiter oben. Ich werde aber Ihnen zuliebe ein paar Bonsais mitbringen.«
»Donnerwetter, war das eben Sarkasmus? Sie werden ja langsam locker, Mendelsohn. Finde ich aber gut, ich meine das mit den Pflanzen. Wenn man schon das Leben am Schreibtisch und auf der Straße verbringt, sollte eins von beiden wenigstens ein bisschen gemütlich sein.«
Kiran sah das ähnlich. Sein Büro war mit einer ganzen Ansammlung von Pflanzen, einer kunstvoll arrangierten Springbrunnendekoration und vielen Tuschezeichnungen dekoriert.
»Wie sind Sie zum BKA gekommen?«, fragte er.
»Ich wurde von einem Freund unserer Mutter Courage rekrutiert. Kam nach unserem Fahndungserfolg gegen den Albanerring zu meinem Chef in die Abteilung und hat mich innerhalb von zehn Minuten abgeworben.«
»So schnell? Normalerweise bekommen die Gejagten doch wenigstens ein paar Tage zum Nachdenken zugestanden. Sie nicht?«
»Brauchte ich nicht. Hamburg ist mein Revier. Ich kenne alles und jeden da. Zum Ersticken. Ich musste raus. Der Mann machte ein Angebot, ich habe es akzeptiert, und zack war ich hier. Außer meiner Plattensammlung und ein paar Klamotten brauche ich nichts weiter. Der Umzug hat gerade mal einen Tag gedauert.«
Kiran, der allein für die Erwägung eines Umzugs mindestens einen Monat geistige Vorbereitung gebraucht hätte, konnte dies beim besten Willen nicht nachvollziehen. Andererseits entsprach dies ganz seinem Bild von Blohm.
»Mir ist schon klar, was Sie denken«, sagte Bolko. »Glauben Sie nicht, dass ich nicht wüsste was hier abläuft. Ich stehe bei Halbach unter Beobachtung. Sie mag mich, traut mir aber die Leitung nicht zu. Und Ihre Frau Oberstaatsanwältin will kein Risiko eingehen. Deswegen sind Sie mir als Wachhund zugeteilt. Und Sie als Oberpsychologe haben mich mal eben analysiert und in die entsprechende Schublade gesteckt: Jungkommissar vom Hamburger Kiez, flapsig, vorschnell und eigensinnig. Richtig?«
»Vielleicht, aber Sie haben felderprobt, chaotisch und völlig unkonventionell vergessen. Außerdem sagt man Ihnen nach, ein wandelnder Flurschaden in Büro und Straßenverkehr zu sein«, gab Kiran zurück.
Bolko sah ihn verblüfft an und grinste dann.
»Offensichtlich sind Sie nicht so steif, wie meine Quellen behaupten. Warum nennt man Sie Dr. Seltsam?«
Jetzt war es an Kiran, verblüfft aus der Wäsche zu schauen. Dann antwortete er etwas lahm: »Das stammt aus der Phase nach meiner Auszeit. Ein Profiler, der Psychologie mit fernöstlicher Philosophie verbindet, eine FBI-Ausbildung hat und sich weigert, im Feld zu ermitteln – das wirkt auf manche Kollegen nun mal so.«
»Kann ich mir vorstellen. Hier laufen allerdings ein paar Gestalten rum, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Mit Moretti und der kleinen Motte haben wir da anscheinend richtig Glück gehabt. Zumindest wirken die normal. Kennen Sie die beiden?«
»Alenka kenne ich von der Akademie. Hochintelligent, schnell, furchtlos und extrem selbständig bis hin zum Einzelgängertum. Darüber hinaus keine Ahnung. Moretti kenne ich gar nicht, der ist aber bestimmt nicht zufällig in unserem Team.«
»Für einen Mann italienischer Abstammung hat er bislang bemerkenswert wenig, das heißt, eigentlich gar nichts gesagt.«
»Noch ein Grund, schnellstens mit ihm zu reden. Vielleicht fragen Sie ihn gleich nach den Ergebnissen seiner Befragungen der Nachbarschaft. Und dann schauen wir mal, was jetzt bei der Besprechung rauskommt. Ich habe da so eine Idee, auf wen wir ihn ansetzen könnten.«
Bevor Kiran dies näher erläutern konnte, erschienen Birte Halbach und Eleonore Roellinghoff und verkündeten, dass das Treffen in einer Viertelstunde stattfinden würde. Kiran empfahl sich und ging in sein eigenes Büro, um sich Tee zu kochen.