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Najade auf dem Meeresgrund
ОглавлениеNajade zoffte mal wieder pausenlos mit ihren Eltern, oder besser gesagt: Najades Eltern zofften mit ihr. Immer hatten sie etwas an ihr auszusetzen. Nie waren sie zufrieden. Zu allem Ärger hatten sie auch noch Najades Aquarium mit der Begründung verkauft, sie solle in der Schule aufpassen und nicht stundenlang vor dem Aquarium herumlungern.
Aber sie liebte es, vor dem Wasser zu sitzen und sich das Leben auf dem Meeresgrund vorzustellen, einzutauchen in das blaugrünlich schillernde Wasser. Sie träumte von Meerjungfrauen, vielleicht sogar davon, dem Wassermann zu begegnen, der sie hier aus der Enge herausreißen und sie in die Weite des Meeres locken würde.
Sie hatte die Nase gestrichen voll, sozusagen null Bock, packte eine Reisetasche mit dem Nötigsten, schrieb einen Brief: Mich seht ihr niemals wieder, ich gehe zu W..
Ihre Eltern, an das häufige Weglaufen ihres Kindes fast gewöhnt, fragten sich nur: Wer ist denn W-Punkt? Ist uns da etwas entgangen? Hat sie etwa einen Freund?
Najade packte wie schon so oft die Reisetasche, hinterlegte sie in einem Schließfach am Bahnhof. Dann ging sie zum Strand, zu ihrem Meer, setzte sich auf einen Stein und träumte von einem freien, ungebundenen Leben mit den Fischen, die ja stumm waren und nie an ihr herumnörgeln würden, sehnte sich nach Meerjungfrauen oder Nixen, mit denen sie Freundschaft schließen könnte. Vielleicht begegnete ihr sogar der Wassermann, der sicherlich keineswegs schrecklich, sondern ähnlich wie bei Dornröschen, ein verkleideter Prinz war .
Als sie so vor sich hin träumte, war es ihr, als hörte sie aus dem Rauschen des Meeres eine Stimme, die flüsterte: "Najade, du gehörst zu uns, komm doch zu uns!"
Sie lauschte weiter. Da erklang es wieder: "Najaaade! Najaaade!" Und nun noch lauter im Chor: "Najaaade!"
Noch völlig unentschlossen folgte sie dennoch dem Ruf, benetzte ihre Füße mit Wasser. Die Wellen rauschten: "Najade, kooomm! Koomm! Koomm!"Sie ging ins Wasser, weiter und weiter und weiter. Die Rufe wurden immer fröhlicher. Magisch wurde sie von der Tiefe angezogen, noch hatte sie den Boden unter den Füßen. Plötzlich zeigten sich im Wasser erst kleine, dann immer größer werdende Kreise, Wellen, die stärker und stärker wurden, um sie bald mit aller Wucht zu erreichen.
Das Wasser gab einen Kopf frei, das Haupt eines Mannes mit langen Haaren. Eine Hand löste sich aus dem Wasser, der Mann bot ihr seine Hand an. Najade aber konnte die Hand, so sehr sie sich auch bemühte, nicht erreichen.
Jäh tauchte aus dem Wasser ein Delfin auf, stupste sie derart, dass sie sich instinktiv an ihm festhielt. War das ein wunderschönes Gefühl, von einem Delfin getragen zu werden! Etwas wie Urvertrauen kam in ihr auf. Da war jemand, der ihr Halt gab. Gemeinsam schwammen der Delfin und Najade immer weiter ins Meer hinaus, bis der Delfin untertauchte und sie mitnahm.
Was war das für eine wunderschöne Welt: Muscheln, kleine Seeigel, auch eine Schlange. Schlingpflanzen wanden sich um ihre Beine. Aber wo waren ihre Beine? Sie hatte nur noch ein Bein, und das war kein Bein, es war eine Schwanzflosse mit mächtigen Schuppen, die im Wasser silbrig glänzten. Um ihren Kopf hatten Ranken einen Kranz mit kleinen Blüten gewoben, der ihre langen Haare zusammenhielt..
Nun schwamm ihr Freund, der Delfin, vor ihr her, sie folgte, lernte durch Abschauen und Nacheifern alle Bewegungen, die er ihr vormachte. Als ihr Delfin schließlich vor ihr einen Salto machte, gelang ihr der Salto nicht. Tröstlich strich er ihr zart mit einer Flosse über das Haar, als wollte er sagen: Das lernst du auch noch.
Sie sah lustige Seepferdchen, die miteinander ihr Spiel trieben, bis ein älteres Seepferdchen dem Treiben Einhalt gebot und die jungen Seepferdchen aufforderte, sich Nahrung zu suchen, damit sie nicht verhungerten.
Najade ließ sich mit den Nixen weitertreiben, wurde aufgrund der ungewohnten Fortbewegung immer müder und müder. Wo sollte sie sich hinlegen, wo sollte sie schlafen? Da erschien der Wassermann und bedeutete ihr, sich selbst ein Bett aus Algen zu machen.
Das war eine harte Arbeit, sie war doch sooo müde, sie hatte keine Lust dazu. Keiner sagte etwas, und dennoch wusste sie, sie musste. Trotzdem beschloss sie, sich kein Bett zu machen, sich einfach auf den Meeresboden zu legen. Da hatte sie freilich die Rechnung ohne die Seeigel gemacht, die pickten sie arg in die Schwanzflosse. Sie schrie auf, aber niemand hörte sie hier unter Wasser.
Also begann sie vor sich her murmelnd, das Algenbett herzurichten. Immer wieder rutschten ihr die glitschigen Algen aus den Händen. Nachdem jedoch die anderen Nixen gesehen hatten, dass sie ihre Arbeit ernst nahm, halfen sie ihr. Gemeinsam waren sie schnell fertig.
Hundemüde sank Najade auf ihr Lager und schlief ein. Sie träumte von ihren Eltern, die sie bei der Hand nahmen, sie an ihr Bett führten und sie zudeckten. Und es war leise, keiner schimpfte, auch sie selbst maulte und beschwerte sich nicht. Stille und Frieden herrschte, bis … jemand rüttelte sie an der Schulter, ein bärtiger Kopf neigte sich zu ihr herunter und sagte: "Mädchen, geh nach Hause, deine Eltern machen sich Sorgen".
Geschichten auf dem Meeresgrund, Anthologie, net-Verlag, Cobbel, 2012
E-book: Najade auf dem Meeresboden, neobooks, 2014