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Ganz leise erklingt eine Zigeunerweise

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Da war sie wieder, diese Melodie voller Sehnsucht, Wehmut und Leidenschaft, Lachen und Weinen. Hanna saß am Fenster und lauschte den Klängen einer Geige. Woher kam die Musik? Vielleicht von den Zigeunern, die draußen am Rande des Ortes ihre Wagenburg errichtet hatten? Hanna bemühte sich zuzuhören, aber immer wieder verwehte der Wind die Melodie. In ihrer Fantasie sah sie die Zigeuner, wie sie um ein Feuer herum tanzten und lachten. Plötzlich wurde die Melodie so traurig, dass Hanna beinahe weinen musste. Aber wer, wer spielte so herzzerreißend Geige?

Im Ort hieß es: Zigeuner sind ein fahrendes Volk, das in Wohnwagen wohnt. Zigeuner sind faul und arbeitsscheu, stehlen und entführen sogar kleine Kinder. Einerseits veranlassten diese Vorurteile die Erwachsenen, Hanna und den anderen Kindern Kontakte mit den Zigeunerkindern aus der Wagenburg zu verbieten. Andererseits schlichen sich die Frauen heimlich dorthin, um sich dort von einer alten Zigeunerin aus der Hand lesen zu lassen. Andere Frauen, und manchmal auch Männer zogen es vor, sich die Karten legen zu lassen, um etwas über ihre Zukunft zu erfahren.

Vor allem die Männer verbreiteten Unwahrheiten über die Zigeuner, die angeblich jeder Arbeit aus dem Weg gingen, faul wären und schließlich auch noch alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgehen ließen. Dennoch leßen sich diese Männer von den Fremden Messer schleifen, Körbe flechten, Kessel flicken und manchmal auch ihre Pferde beschlagen. Interessiert sah Hanna dem Treiben der Erwachsenen zu. Je mehr Gedanken sie sich über die Zigeuner machte, desto magischer wurde sie von ihnen angezogen. In ihrer Fantasie stellte sie sich vor, wie sie mit einem schwarzhaarigen Zigeunerjungen auf dem Kutschbock eines Zigeunerwagens sitzt, der mit einem kleinen zottigen Pferd bespannt, sie beide durch die Welt zieht.

Eines Abends, ihre Lieblingsmelodie war ganz leise zu vernehmen, schlich sie sich trotz des Verbotes der Mutter hinaus an den Ortsrand. Je näher sie der Wagenburg kam, umso trauriger empfand sie das Spiel auf der Geige. Wer mochte dort spielen?

Ganz abseits saß ein kleiner schwarz gelockter Junge auf einem Strohballen und spielte so wunderschön Geige, dass Hanna sich einfach zu seinen Füßen hinsetzte und zuhörte. Der Junge mochte in ihrem Alter sein. Mutig sprach ihn das Mädchen an, aber der Junge antwortete nicht, sah sie nur mit seinen großen schwarzen Augen traurig an. Die Kleine lächelte ihm zu und plötzlich begann der Zigeunerjunge wieder zu spielen.


Dieses Mal erklang ein lustiges Lied. In den schwarzen Augen des jungen Geigenspielers funkelte der Schalk. Hanna applaudierte ganz leise, so wie sie es bei den Erwachsenen gesehen hatte. Der Knabe strahlte sie an, nahm seine Geige und legte sie ihr in die Hand. Aber Hanna konnte nicht Geige spielen. Sie sagte: “Ich kann nicht spielen“. Augenscheinlich verstand er Hannas Worte, redete aber nicht mit ihr. „Vielleicht spricht du unsere Sprache nicht“, murmelte Hanna. Da stand der Zigeunerjunge auf, winkte ihr noch einmal zu und fütterte das Pferd, das in der Nähe eines Heuballens an einem Pflock angebunden war, mit Heu. Hanna eilte nach Hause.

Am nächsten Abend erklang Gitarrenmusik. Es war ihre Melodie. Wer spielte da Gitarre? Diese Frage ließ ihr keine Ruhe. Also lief sie neugierig zu der Wagenburg. Dieses Mal spielte ihr Zigeunerjunge Gitarre. Noch atemlos vom schnellen Laufen streckte das Mädchen ihre Hand aus und begrüßte den Zigeunerjungen mit den Worten: „Ich heiße Hanna“. Er nahm ihre Hand freundlich entgegen, aber wiederum kam kein Wort über seine Lippen.

Hanna kannte nur einen Zigeunernamen: Janosch. Also fragte sie: „Heißt du Janosch?“. Der Junge strahlte sie an und nickte. Galant reichte er ihr sein Instrument, aber Hanna konnte auch nicht Gitarre spielen. Traurig machte sie sich auf den Weg nach Hause. Am nächsten Tag vernahm sie eine wunderschöne, bisher noch nie gehörte Weise. Da nahm sie ihr Lieblingsbuch und lief zu den Zigeunern.

Als Janosch Hanna sah, freute er sich und schaute auf das Buch, das Hanna in der Hand hielt: „Soll ich dir vorlesen?“, fragte das Mädchen. Janosch nickte. Während Hanna las, spielte der Junge ganz leise auf seiner Geige, nur zur Untermalung ihrer Geschichte. Es war eigentlich eine lustige Geschichte, die Hanna vorlas. Aber Janosch spielte plötzlich eine so melancholische Melodie, dass Hanna kurzerhand die Geschichte so änderte, dass sie ein trauriges Ende fand.

Jeden Abend schlich sich Hanna zu dem Zigeunerjungen. Er spielte, sie las. Bald las sie nicht mehr, erzählte nun ihre eigenen Geschichten, so wie Janosch immer neue Melodien spielte. Immer dann, wenn Janosch nach Hause musste oder wollte, spielte er ihre Melodie.

Doch eines Tages wartete das Mädchen vergeblich auf die abendlichen Geigenklänge. Es musste etwas geschehen sein. Hanna lief auf die Wiese, aber da war niemand mehr, kein Wagen, kein Pferd, kein Janosch. Weinend lief Hanna nach Hause, legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen. In ihren Träumen hörte sie ihre Melodie, eine Melodie voller Sehnsucht, Wehmut und Leidenschaft, die Melodie, aus der sie das Lachen und Weinen ihres Janosch hörte.

Mit der Zeit verblasste die Erinnerung. Bis eines Tages….

Hanna war erwachsen geworden. Sie schlenderte mit ihrer kleinen Tochter über den Kirmesplatz. Da war sie wieder, ihre Melodie. Das konnte doch nicht sein! Ihr Blick fiel auf die Beschriftung der Autos-Scooter. Da stand tatsächlich Janosch’s Auto-Scooter auf den Wagen. Welch ein Zufall! Ein wenig abseits neben einem Strohballen und einem Pflock, an dem ein Pferdchen angebunden war, stand ein kleiner Junge, der auf einer Geige spielte, genau wie damals Janosch. Das war Janosch, die Ähnlichkeit war verblüffend. Das konnte doch nicht sein. Janosch musste etwa so alt sein wie sie. Bei der Melodie indessen, irrte sie sich nicht, es war ihre Melodie. Die Augen der jungen Mutter füllten sich mit Tränen. Sie wandte sich kurz ab, damit ihre Tochter es nicht sah. Deshalb fiel ihr zunächst nicht auf, dass sich ihre Tochter neben dem fremdartig aussehenden Jungen, der seine Geige weinen und wieder lachen ließ, auf dem Strohballen niedergelassen hatte und nun den schmelzenden melancholischen Klängen der Geige lauschte.

Hanna blickten zwei tiefschwarze Augen an. Diese Augen kannte sie, solche Augen gab es nur einmal. „Janosch!“ entfuhr es ihr leise. „Hanna“? fragte ein junger, gut aussehender Mann. Aber, Janosch konnte doch gar nicht sprechen, fuhr ihr durch den Kopf und sie hörte sich fassungslos sagen: „Wieso kannst du sprechen?“

Der junge Mann wies auf eine in der Nähe stehende Holzbank. Dort nahm er Platz und lud Hanna ein, sich neben ihn zu setzen. Jannosch holte tief Luft und dann sprudelten die Worte aus ihm heraus: „Ich konnte auch damals sprechen, aber meine Tante hatte mir gedroht, dass ich wieder ins Waisenhaus muss, wenn ich mit Fremden spreche.“ Janoschs Redefluss war nicht mehr zu stoppen. Er erzählte, dass er im dritten Reich, wie viele Zigeunerkinder, seinen Eltern weggenommen und ins Waisenhaus gesteckt wurde. Diese Zigeunerkinder sollten nicht wie die Zigeuner leben, hieß es damals. Sie sollten dort Zucht und Ordnung lernen..

Wieder war diese unendliche Traurigkeit zu spüren, als Janosch berichtete, dass seine Eltern in einem Lager umgekommen waren. Seine Tante habe ihn dort herausgeholt. Um ihn zu schützen, habe sie ihm das Reden verboten.

„Das ist ja unmenschlich“, entgegnete Hanna traurig. Janosch lächelte und fragte: „Hättest du mir jeden Abend Geschichten erzählt, wenn ich gesprochen hätte? Übrigens ich heiße nicht Janosch sondern Nanosch. Du warst also ganz nah dran“.

„Was machst du denn hier am am Auto-Scooter?“, fragte Hanna. Janosch-Nanosch lachte, dass man seine weißen Zähne blitzen sah und plauderte: „Du weißt, wir Zigeuner, heute sagt man Roma, sind ein fahrendes Volk. Der Betrieb war damals ein kleines Karussell und gehörte meiner Familie. Jetzt gehört das Geschäft mir. Ich wusste immer, dass ich dich einmal wieder sehen würde.“

Im Hintergrund spielte noch immer der kleine Junge. Nanosh war in seinem Redefluss kaum zu stoppen und fuhr mit dem Erzählen fort. „Als ich dich gestern mit deiner Tochter, das kleine Mädchen ist doch deine Tochter? sie sieht dir unheimlich ähnlich, am Auto-Scooter sah, war ich mir nicht sicher, ob du es warst. Aber ich wusste, dass du wieder kommen würdest, wenn du Hanna bist. Also bat ich heute meinen Sohn Janosch unsere Melodie zu spielen. Weißt du, Hanna“, Nanosch machte eine kurze Pause, holte tief Luft, ergriff ihre Hände und umarmte sie, flüsterte ihr ins Ohr: „Du hast mir damals mit deinen Geschichten und deiner Freundschaft so viel Freude gegeben. Bis heute macht es mich traurig, dass ich dir niemals „danke“ sagen durfte “.

Als die Melodie im Hintergrund verstummte, drehten sich beide um und sahen, dass Hannas Tochter Nanoschs Sohn umarmte.

Zwischen Mythos und Wirklichkeit, Codi-Verlag, Westeregeln, 2013

E-Book, Short Stories "Ganz leise erklingt eine Zigeunerweise...", Neobooks, 2014














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