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"Kann ich hier reiten lernen?"

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Nach langen Jahren flammte mein Interesse für Pferde und Reiten wieder auf. Mittlerweile achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahre alt, arbeitete ich als Lehrerin in der Nähe einer rheinischen Großstadt. Eine Kollegin bat mich, sie zum Reiten aufs Land zu fahren, weil ihr Auto in der Werkstatt war.

In der Reitanlage angekommen, schlenderten wir zum Pferdestall. Einige Pferde standen in Boxen, andere in Ständern, was heute aus Tierschutzgründen verboten ist. Ständer waren kleine, durch Wände abgetrennte Bereiche, in denen sich die Pferde nur mit Mühe hinlegen konnten. An der Frontseite befand sich die Futterkrippe, darunter war meist ein eiserner Ring angebracht, an dem die Pferde mit einem Strick angebunden wurden.

Energisch ging meine Kollegin zu einem Pferd in einem Ständer, sprach es von hinten an, klopfte ihm das Hinterteil, drückte sich an ihm vorbei und fütterte es mit Leckerbissen. Wie ich auf der Stalltafel lesen konnte, hieß die riesige Fuchsstute Freya. Mit ihr sollte ich später noch Bekanntschaft machen.

Die Mahnungen meiner Kindertage vergessend, sprach ich Freya, ebenfalls von hinten, mutig an. Dann klopfte ihr das Hinterteil, drückte mich an ihr vorbei bis an den Trog und gab ihr ein Stück Brot. Manierlich mit ganz weichen Lippen fraß sie vorsichtig das Stück Brot aus meiner Hand. Ein völlig neues Gefühl beschlich mich. Ich, die vor Hunden Angst hatte, der Katzen unheimlich waren, die mit Vögeln nichts anfangen konnte, empfand wie in meinen Kindertagen eine spontane Zuneigung zum Pferd.

In der Zwischenzeit wurden Sättel gebracht. In dieser Reitschule durften die Reitschüler nicht selbst satteln. Das war Aufgabe der Lehrlinge des Reitlehrers. Ihre Pflicht war es auch, die Pferde in die Reithalle zu führen. In der Reithalle stand bereits der Chef. Er teilte meiner Kollegin einen dicken gemütlich aussehenden Schwarzbraunen mit dem Namen Angriff zu. Interessiert schaute ich der Reitstunde zu.

Der Reitlehrer gab in strengem Ton Kommandos wie: „Geben Sie mal eine Parade, warum lassen Sie das Pferd so auf der Vorhand latschen? Jetzt setzen Sie sich doch mal auf ihren ... Nun packen Sie doch mal zu“, und so weiter. Viel anfangen konnte ich mit diesen Befehlen nicht. Ob die Reiter nun die Kommandos befolgten oder nicht, konnte ich nicht erkennen. Ich wusste ja nicht einmal, was sie bedeuteten.

Meine Kollegin, die ich nicht für ausgesprochen sportlich hielt, ritt eifrig mit, blieb auf dem Pferd sitzen, ohne runterzufallen – die anderen Reiter ebenfalls. Das Zuschauen machte mir Spaß, Angst vor Pferden hatte ich ja nicht, wie meine heutige Erfahrung zeigte. Warum sollte ich nicht auch reiten? Alles Glück dieser Erde liegt - wie jeder weiß - auf dem Rücken der Pferde!

Zunächst erkundigte ich mich nach dem Preis der Reitstunden. Reitstunden waren damals wahnsinnig teuer – zehn Stunden auf der Zehnerkarte kosteten 200 DM. Ein Pferd im Reitstall unterzustellen über 500 DM.

Augenscheinlich war ich in einem Nobel-Reitstall gelandet. Dort wurden die Pferde vom „Personal“ geputzt, gesattelt und in die Halle geführt. Ich war plötzlich die „gnädige Frau“, eigentlich nicht so mein Ding. Vom Wunsch beseelt, reiten zu lernen, fragte ich kurz entschlossen den Reitlehrer, ob ich bei ihm reiten lernen könne. Er schaute mich skeptisch an, machte irgendeine dumme Bemerkung, dass man mit dem Reiten im jugendlichen Alter beginnen solle. Für den Turniersport sei es allerdings zu spät. Jedoch ließ er sich herab, mir zu sagen, dass ich mit Longenstunden beginnen könne.

Wenn ich vor dem Gespräch mit dem Reitlehrer noch nicht fest davon überzeugt war, dass ich auch wirklich reiten lernen wollte, so weckte sein Verhalten meinen Widerspruchsgeist. Jetzt erst recht. Ich kaufte eine Zehnerkarte.

Eine junge Praktikantin empfahl mir, zur Longenstunde in einer Skihose und Stiefeln zu erscheinen. Beides besaß ich nicht. Was tun? Kurz entschlossen überprüfte ich meine Finanzen, denn üppig war mein Lehrergehalt damals nicht. Die Reitstunden allein waren sehr teuer. Trotzdem kaufte ich Gummistiefel und eine gebrauchte Reithose im Sonderangebot.

Passend angezogen, erschien ich zur ersten Reitstunde. Als ein Pferd zu mir in die Bahn geführt wurde, kam es mir vor, als würde ich mitleidig belächelt. Fachmännisch erklärte meine Kollegin: „Die Fabiola hat aber mächtig Wurf, die kann keiner aussitzen, ist aber butterweich.“ „Was bedeutet das schon wieder?“ fuhr mir durch den Kopf.

Das Reiten lernt man in der Regel an der Longe. Das ist eine lange Leine, an der das Pferd vom Longenführer im Kreis bewegt wird. Die Stute Fabiola war wohl wie die anderen Pferde dieser Reitschule ein ausgedientes Turnierpferd. Ein Lehrling erklärte mir, wie ich aufzusteigen hätte. Verständnisvoll nickte ich. Ganz nach Vorschrift stieg ich auf – vielmehr wollte ich aufsteigen. Bevor ich oben war, setzte sich das Pferd bereits in Bewegung. Irgendjemand eilte zur Hilfe und hielt das Pferd fest, kritisierte mich aber nicht gerade freundlich „Wenn Sie das Pferd in den Bauch treten, muss es ja vorwärts gehen.“ „Habe ich doch nicht!!!“ Oder hatte ich doch?

Endlich saß ich im Sattel, und gleich ging es munter los. Vermutlich hoppelte ich ziemlich auf dem Pferd herum, dennoch hatte ich das Gefühl, weich in den Rhythmus der Bewegung gezogen zu werden. Was der Reitlehrer da alles erzählte: „Absätze tief, Kopf hoch, Brust raus, mehr in die Bewegung eingehen“, plätscherte an meinen Ohren vorbei, ich hörte es, aber erfasste kaum, was er sagte.

Am Ende der Longenstunde, besser gesagt am Ende einer guten Longenviertelstunde, fragte mich der Reitlehrer: „Gnädige Frau, wo sind Sie bisher geritten?“ Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass dies meine erste Reitstunde sei. Woraufhin er mich nur groß ansah, etwas von Tiefstapler murmelte und mich für die nächste Stundezum Abteilungsreiten einteilte.

Abteilung kannte ich schon. Schließlich hatte ich mich direkt nach meinem Entschluss reiten zu lernen, in schlauen Büchern informiert. Wenn die Pferde in gleichmäßigem Abstand hintereinander gehen, nennt man das Abteilungsreiten. Das traute ich mir zu, überheblich wie ich war.

Dieses Mal wurde Flicka, eine wunderschöne 20jährige Rappstute in die Halle geführt. Sie kam meinen Vorstellungen von Winnetous Rappen sehr nahe. Wo aber waren die anderen Reiter? Wo die Abteilung? Ich blieb der einzige Reitschüler. „Sind Sie neu hier? Sitzen Sie schon mal auf, die Stute ist ganz brav", begrüßte mich eine junge Dame, ein Lehrling des großen Meisters. Sie zeigte mir an dem Sattel einen kleinen Riemen Angstriemen oder auch Maria-Hilf-Riemen genannt, an dem ich mich ruhig festhalten könne. Die Stute war wirklich brav, sie ließ sich nicht von meinen Stiefelspitzen irritieren, blieb ruhig stehen. Als sie merkte, dass ich fertig war, drehte sie mit mir gemächlichen Schrittes ihre Runden.

Die Hilfsreitlehrerin sagte „Terapp“ und verschwand. Gehorsam trabte Flicka an und trabte und trabte, ließ sich auch gut sitzen. Während der Longenstunde hatte mir niemand beigebracht, wie ein Pferd zu bremsen war. Nur daran denkend, wie schön das Reiten war, hörte ich im Unterbewusstsein den Regen prasseln. Irgendetwas schien sich plötzlich geändert zu haben. Die Stute schnaubte und rollte mit den Augen. Mit dem ersten Donnergrollen wurde mir bewusst, dass ein Gewitter aufzog. Um Gottes willen, ich war allein in der Halle. Was nun? Als ob die Stute auf einen Startschuss gewartet hätte, raste sie los. Gott sei Dank fiel mir der Maria-Hilf-Riemen ein. Festhalten konnte ich mich schon, aber ruhig bleiben? Die Stute raste Runde um Runde, meine Beine bollerten gegen ihren Körper, trieben sie dadurch immer mehr an. Die Rappstute trabte schneller und schneller. Heute weiß ich, starker Trab ist nichts dagegen.

Der Reitlehrer war mittlerweile höchstpersönlich in der Halle erschienen und schrie von der sicheren Tribüne herab: „Nun geben Sie doch endlich einmal eine Parade, parieren Sie das Pferd doch durch!“ Wie sollte ich eine Parade geben, ohne zu wissen, was das ist und wie das geht. Noch hatte ich Zeit zu fragen: „Was ist denn das?“. Der große Meister aber raufte sich nur die Haare, brüllte: „Halten Sie endlich das Pferd an.“ Ich kreiste weiter Runde um Runde im Trab, hielt mich am Maria-Hilfsriemen fest und dachte: „Irgendwann muss doch der Sprit zu Ende sein.“

Es kam noch schlimmer. Am Halleingang stand ein Transformatorenhäuschen. Ein Blitz schlug ein. Plötzlich glich Flicka einem Blitz. Ein erneutes Donnern und Flicka erschrak fürchterlich. Gebannt vor Schreck blieb sie stehen. Eine Stille breitete sich aus. Das Gewitter hörte so schnell auf, wie es gekommen war. Endlich konnte ich Flickas Zügel nachfassen und absteigen. Unfassbar: Flicka war nicht einmal einziges Mal angaloppiert. „Sie hatte wohl keine Galopphilfe bekommen", lästerte der Lehrling.

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