Читать книгу Insel der nackten Frauen - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 8

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Das Telefon klingelte. Offenbar war er eingedöst. Das lag an den Tabletten, die Sabina ihm dauernd aufnötigte. Er bekam einen trockenen Mund von ihnen und fühlte sich benebelt.

Er tastete nach dem Hörer. Sabina hatte eine Verlängerungsschnur besorgt, und das Telefon auf seinen Nachttisch gestellt.

»Ich kann ja nicht immer zugegen sein, ich muss doch auch Sorge für die Tiere tragen.«

Manchmal hatte sie eine seltsame Art, sich auszudrücken, und nahm Worte und Redewendungen in den Mund, die sonst schon lange niemand mehr benutzte.

Jetzt spürte er das kühle Bakelit in seiner Handfläche. Hatte er jetzt etwa auch noch Fieber, verdammt?!

»Elmkvist«, sagte er undeutlich. Die Zungenwurzel schwoll immer an, wenn er so dalag, und hinderte ihn daran, normal zu sprechen.

Er hörte eine dünne, leise Mädchenstimme.

»Hallo, hier ist Klara.«

»Klara, du bist’s? Hier spricht Großvater.«

»Weiß ich doch.«

»Hm, so so, das weißt du also.«

Sie kicherte gekünstelt.

»Geht es dir wieder besser?«

»Ja sicher, viel besser.«

»Ist Papa da?«

»Nein.«

»Nicht?«

»Er ist draußen auf Skamön und holt die Tiere. Sie sind heute Morgen los, wie viel Uhr ist es jetzt?«

»Zehn Uhr neunundvierzig.«

Er hatte sich nie wirklich daran gewöhnt, wie die jungen Leute die Uhr lasen. Zehn Uhr neunundvierzig. Was hieß das? Er musste immer erst einen Moment nachdenken.

»Bist du nicht in der Schule?«, fragte er.

»Doch. Aber wir haben gerade Pause, ich rufe vom Handy aus an.«

»Aha.«

»Ich hab es schon auf Papas Handy versucht, aber er macht es nie an.«

»Nein, kann sein.« Er räusperte sich. »Geht es dir gut, Klara?«

»Ja, alles klar.«

»Soll ich Tobias bitten, dich zurückzurufen, wenn er kommt?«

»Nein, schon gut, es war nichts Wichtiges. Ich kann später noch mal anrufen.«

Für einen Moment blieb die Leitung still. Er dachte, dass es Geld kostete, viel Geld, mit einem Handy zu telefonieren. Das musste sicher Tobias bezahlen. Oder Görel, die Mutter des Mädchens. Aber die hatte bestimmt kein Geld, der Junge im Übrigen auch nicht.

»Was machst du, Großvater?«, hörte er sie sagen und gleichzeitig wurde das Stimmengewirr hinter ihr lauter, sie stand auf dem Schulhof, die Pause ging zu Ende.

»Ich liege hier einfach so rum. Aber ich werde bald wieder aufstehen.«

»Schön zu hören. Gute Besserung. Ich muss jetzt Schluss machen.«

Tschüss, kleine Klara. Kleine, süße Klara. Nein. Das wäre ihr sicher peinlich. Sie war mittlerweile zu groß für solche kindischen Koseworte. Wie alt war sie jetzt? Vierzehn oder fünfzehn. Sie war kein kleines Kind mehr, obwohl ihre Stimme piepsig und spröde klang, ganz ähnlich wie Görels.

Er drehte sich auf die Seite, und es gelang ihm mit viel Mühe, den Hörer aufzulegen. Er hatte wieder Rückenschmerzen, das kam vom vielen Liegen. Für so etwas war er einfach nicht geschaffen, sein ganzes Leben war er beweglich und aktiv gewesen. Seine Muskeln würden schwinden, wenn er noch lange so herumlag. Sie fingen bereits an, schlaff zu werden, seine Beine sahen aus wie Kartoffelkeime, dünn und bläulich. Die ersten Tage hatte er Stützstrümpfe getragen, die Leute im Krankenhaus meinten, die wären gut gegen Thrombosen. Und unter den Strümpfen hatten die Muskeln zu schrumpfen begonnen. Gewebe und Fleisch, alles wurde schwach.

Als Sabina ihm die Strümpfe auszog, tauchte etwas auf, das nicht zu ihm gehörte. Sie hatte mit offenen Haaren bei ihm gesessen, das Gesicht kurz zu einer Grimasse verzogen und ihre kleine Nase weggedreht.

»Was ist los?«

»Ich denke, ich werde dir die Füße waschen müssen, denn es wird sicher noch etwas dauern, bis du wieder duschen kannst.«

Carl Sigvard schloss die Augen. Plötzlich ertrug er es nicht mehr, dieses Zimmer mit seiner bis zum Überdruss bekannten Einrichtung zu sehen. Er war es einfach nicht gewöhnt, sie bei Tageslicht zu betrachten, alles im Zimmer sah schäbig und abgenutzt aus. Wie er selbst! Die Tapete hatte Stockflecken bekommen, nachdem es letzten Winter hereingeregnet hatte. Der Stuhl mit Sabinas gelbem Bademantel. Das Bild über der Kommode. Jetzt erst bemerkte er, dass es schief hing. Auch das Motiv war nicht unbedingt geeignet, ihn aufzumuntern: Das Bild zeigte ein gedrungenes kleines Rauchstubenhaus mit Grassodendach und ein paar Schneeresten, sodass der Ackerboden entblößt war. Ärmlich und fordernd sah das aus. Wie es eben auch in Wirklichkeit war.

Svava hatte es mitgebracht, Tobias’ Mutter. Warum hatten sie es hängen lassen? Es stammte aus irgendeinem abgelegenen isländischen Kaff, vielleicht einem Hof in der Verwandtschaft. Ihm war zu Ohren gekommen, dass sie nach Island zurückgekehrt und mit irgendeinem hageren Isländer zusammengezogen war. Wahrscheinlich saßen sie jetzt abends immer zusammen und sangen im Duett, ridum, ridum, und was noch alles. In allen Lebenslagen mussten diese Isländer das Maul aufreißen und singen. Ihre beiden Brüder waren einmal zu Besuch gekommen und hatten den lieben langen Tag nichts anderes getan, als die Gitarre zu schlagen und herumzujaulen, und das Essen kam nicht auf den Tisch, denn Svava hatte keine Zeit. Sie stampfte den Takt und schwang die Hüften und war nicht länger die Frau, die er kannte.

Jaou. Er imitierte ihre Art, ihm Antwort zu geben, bist du da, Svava? Jaou. Aber jetzt war sie nicht mehr da, was ihm im Grunde völlig egal sein konnte, und er selbst lag hier wie ein Sack verrotteter Rüben, statt draußen zu sein. Seine Lungen schmerzten regelrecht vor lauter Sehnsucht nach frischer Luft.

Er versuchte Sabinas Bild heraufzubeschwören, ihren Körper kurz nach dem Aufstehen, wenn sie die Arme zur Decke streckte und ihre Haare wirr den Rücken herabhingen. Jetzt sah er das dünne weiße Nachthemd vor sich und ahnte die Brüste mit ihren braunen Vorhöfen darunter, die größer und markanter waren als bei jeder anderen Frau, die er gesehen hatte, und er hatte an ihnen gesaugt und mit seiner Wange auf ihrem Bauch gelegen. Jawohl, gesaugt hatte er an ihr wie ein Kalb.

Sie war immer noch schön. Nicht mehr so wie damals, als sie sich kennen gelernt hatten, sondern auf eine andere, eher verinnerlichte Art. Seit zehn Jahren waren sie mittlerweile zusammen, aber vorher hatte er von November 1970 an alleine gelebt. Damals hatte Svava den Jungen mitgenommen und ihn verlassen.

Anfangs hatte er gezögert, jemanden ins Haus zu holen, der seine Gewohnheiten nicht kannte, der Neuerungen einführen wollte. Es hatte ihm nicht an Angeboten gemangelt, weiß Gott nicht. Doch erst als Sabina auftauchte, fühlte er, dass er es wagen würde. Und zwar trotz dieser siebzehnjährigen Missgeburt, die sie anschleppte und die fortan auch auf dem Hof wohnen sollte. Er kam ohne Sabina nicht zurecht, denn er war geistig zurückgeblieben, auf dem Niveau eines Kindes stehen geblieben, hatte aber die Größe und körperliche Kraft eines erwachsenen Mannes.

Im ersten Monat wohnte sie im gleichen Zimmer wie der Junge.

»Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen, Carl Sigvard. Du musst ein wenig Geduld haben.«

Sie nannte ihn immer bei seinem vollständigen Namen, benutzte keine Abkürzungen wie Kalle oder Sigge, wie Svava es immer getan hatte. Sein Name klang schön, wenn sie ihn aussprach.

Adam musste das hinterste Zimmer nehmen, das Svava als Nähzimmer gedient hatte. Jeden Abend machte sie dort die Betten, zog das Unterteil der Couch heraus und strich Laken und Decken glatt. Sie hielt den Schwachkopf sogar im Arm. Er lutschte an seinem großen Daumen, und die Bartstoppeln sprossen, und seine Augen stierten unter seiner Tolle ins Leere.

»Alles hängt davon ab, dass er sich hier zu Hause und geborgen fühlt«, erklärte sie. »Wenn wir uns dafür die nötige Zeit nehmen, verspreche ich dir, dass es anders werden wird.«

Sie hatte Recht behalten. Sie kannte diesen Jungen oder Mann oder was er auch immer war. Sie hatte ihn unter dem Herzen getragen und geboren und gestillt, genauso wie später Carl Sigvard. Seltsamerweise empfand er nichts bei dem Gedanken an die schlappen Lippen des Jungen. Und danach an seine eigenen.

Außerdem hatte sich gezeigt, dass Adam stark war und man ihn durchaus dazu bringen konnte, gewisse Aufgaben zu übernehmen. Man musste es nur auf die richtige Art anstellen. Wenn man ihn nett bat und ihm seine Aufgabe genau erklärte und hinterher sanft und dankbar war, konnte man ihn dazu bringen, etwas immer wieder zu tun, zum Beispiel das Brennholz ins Haus zu tragen. Oder wie jetzt dabei zu helfen, die Tiere heimzuholen.

Sie hatten diesen Hardy als Tagelöhner einstellen müssen, den er aus unbestimmten Gründen abstoßend fand. Aber im Moment konnten sie es sich leider nicht leisten, so zu denken. Es war schwierig, ja beinahe unmöglich, überhaupt jemanden zu finden, der ihnen zur Hand gehen konnte. Er war eine zwielichtige Gestalt. Eine Weile war er fort gewesen, hatte gesessen. Alle hatten gewusst, dass es so war, auch wenn Ann-Mari, seine Mutter, den Leuten einzureden versuchte, ihr Sohn habe in Göteborg eine Schule besucht. Es wunderte ihn, dass Sabina Adam erlaubte, so viel mit Hardy zusammen zu sein. Er selber hielt sich da raus, denn es war ganz angenehm, wenn der Junge einem nicht die ganze Zeit an den Fersen hing. Aber ein geeigneter Umgang für ihn war Hardy nicht, das war unübersehbar. Er empfand instinktiv Widerwillen dagegen, Hardy Lindström um Hilfe bitten zu müssen.

Er wusste genau, was Tobias dachte. Es wird Zeit aufzuhören, Papa. Merkst du das nicht? Aber er würde das niemals offen aussprechen, jedenfalls nicht laut, nicht so, dass Carl Sigvard es hören konnte. Er hatte immer noch Respekt vor ihm, und deshalb kam er auch, wenn er gebraucht wurde und unterbrach seine wichtige Bücherschreiberei.

Tobias war nur am ersten und zweiten Tag ins Schlafzimmer hinaufgekommen, um sich mit ihm zu unterhalten. Wahrscheinlich hatte er Angst vor Sticheleien. Carl Sigvard sah ihn auf der Türschwelle stehen, stumm und verkrampft grüßen, als hätte er am liebsten sofort wieder kehrtgemacht und wäre die Treppe hinuntergegangen.

»Komm her, lass dich mal anschauen!«

Das schmale Gesicht und die Haare, die ihm schwarz in die Augen fielen, als wollte er etwas verbergen, sich vor den Blicken anderer verstecken. Er ähnelte seiner Mutter. Die roten Flecken, die blitzschnell an seinem Hals aufflammen konnten, wenn er sich bedrängt fühlte. Die Lücke zwischen den Schneidezähnen, die hohen Wangenknochen.

Wie ein kleiner Nomadenjunge hatte er an Svavas Busen gelegen, bis sie ihn aus den Tüchern schälte.

»Er ähnelt einem Bild von deinem Vater«, sagte sie. »Dem Foto, das im Wohnzimmer hängt.«

Er selber konnte davon nichts sehen. Angespannt und vorgebeugt saß er mit seinem neugeborenen Sohn auf dem Schoß da und hielt das Köpfchen in seinen Händen.

Ist er auch wirklich mein Kind, schoss es ihm durch den Kopf. Warum ist sie so darauf bedacht gewesen, Ähnlichkeiten zu finden? Dass er ihr ähnlich sah, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er selber hatte dagegen ganz und gar nicht diese Farben und auch nicht diese Züge.

Doch je älter der Junge wurde, desto mehr schwanden seine Zweifel.

Aber sie nahm ihn mit, als sie auszog. Er war damals noch keine zehn Jahre alt.

Insel der nackten Frauen - Psychothriller

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