Читать книгу Insel der nackten Frauen - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 9
ОглавлениеEin Windstoß strich über das Wasser und veränderte seine Farbe. Bisher war es glasklar gewesen, jetzt aber kräuselte sich die Oberfläche, und es wurde grau. Tobias fuhr herum und sah in Sabinas Augen, die flackerten und ebenfalls grau waren.
»Was war das?«, flüsterte sie und zog am Knoten ihres Kopftuchs, als fiele ihr auf einmal das Atmen schwer.
Dann sahen sie den Hund kommen, der nicht direkt auf sie zulief, sondern Haken schlug und Umwege machte.
»Billy!« Sie ging in die Hocke und rief ihn zunächst lockend, schlug dann jedoch einen Befehlston an und brüllte.
»Jetzt kommst du sofort hierher!«
Die Ochsen hinter ihnen wurden unruhig, sie stampften und schwankten, das ganze Floß geriet heftig ins Schaukeln. Der Hund hatte sich gesetzt, den Kopf gedreht, wirkte betäubt. Nach einer Weile erhob er sich und streunte im Sand umher.
»Billy, komm her!«, krakeelte Adam. Seine Stimme war so heiser wie die eines Tiers.
»Er hat geschossen«, sagte Tobias und griff nach Sabinas Jackenärmel, »hörst du, das muss er gewesen sein, der da geschossen hat.«
Sie nickte abwesend.
»Auf den Ochsen?«
Er sah sie bejahend an.
»Dann war er verletzt?«
»Er konnte nicht stehen. Er muss sich etwas gebrochen haben, aber er lebte.«
»Wir hätten den Tierarzt holen können.«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass es was genützt hätte.«
Eine gereizte Falte tauchte zwischen ihren Augenbrauen auf.
»Ich meine nur, dass wir so jede Menge Arbeit haben. Jetzt müssen wir uns um das Fleisch kümmern, jemand muss noch einmal zurückfahren und das erledigen. Und in den Gefriertruhen ist so gut wie kein Platz mehr. Also müssen wir versuchen, es zu verkaufen, und zwar so schnell wie möglich.«
»Ist der gute Hardy nicht ein bisschen eigenmächtig vorgegangen? Hätte er nicht erst fragen müssen, was wir wollen, was du willst? Bevor er den Ochsen erschießt.«
»Schon möglich«, erwiderte sie kurz angebunden. »Aber er wollte wahrscheinlich dem Leiden des Tieres ein Ende machen.«
»Dem Leiden ein Ende machen! Was für ein Understatement! Du hättest sehen sollen, wie er sich benommen hat. Sabina, ich mag ihn nicht. Er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Tobias tippte sich mit den Fingerknöcheln an die Stirn.
»Du denkst, dass man sich einfach einen aussuchen kann«, zischte sie. »Dass es die einfachste Sache der Welt ist, gute Leute zu finden.«
»Was ist denn mit den anderen, die das Sägewerk entlassen hat? Gab es keinen normalen, anständigen Menschen unter ihnen?«
»Wir haben nun mal keinen anderen, wir haben Hardy. Er hat seine Macken, macht seine Sache aber ansonsten gut. Und außerdem kann er gut mit Adam umgehen. Er ist der Einzige, der ihn dazu bringen kann, sich wie ein normaler Mensch zu fühlen.«
»Er ist ein Sadist. Ich begreife nicht, dass du es riskierst, dich auf ihn zu verlassen!«
Sie hörte ihm gar nicht zu, sprach einfach weiter:
»Für dich ist das sicher etwas anderes. Du triffst dich mit wem du willst. Wenn du mit deinem Verleger nicht mehr zufrieden bist, gehst du eben zu einem neuen. Bei uns läuft das ein bisschen anders.«
Es piekste im Nacken, in den winzig kleinen Flaumhaaren. Tobias fröstelte. Von den Felsen kommend näherte sich Hardy, den Rucksack über die Schulter geworfen, eine brennende Zigarette in der Hand. Der Hund hatte ihn ebenfalls entdeckt, legte sich flach auf die Erde und begann sich kriechend dem Floß zu nähern. Es war ein unwirklicher Anblick.
Hardy kam an Bord. Er schnippte mit den Fingern, und der Hund schlich ihm hinterher, wimmerte und legte sich neben eines der Ölfässer.
»Was ist denn mit dem Hund?«, sagte Sabina.
»Woher soll ich das wissen«, antwortete Hardy. »Das ist doch nicht mein Hund, ich weiß nicht, was mit ihm ist.«
Sie bückte sich und streichelte den Hals des Hundes. Er leckte ihre Hand.
»Wir haben Schüsse gehört«, sagte sie.
»Ja.«
»Hast du geschossen?«
»Ja.«
»Dann war das notwendig?«
»Was soll das? Glaubst du, ich ballere ohne jeden Grund rum?«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Was meinst du dann?«
»Schon gut, nichts. Aber ich denke, wir werden wieder hierher zurückfahren müssen.«
»Sieht so aus.«
»Obwohl ich dazu eigentlich keine Zeit habe. Ich habe noch den ganzen Tag zu tun. Wir müssen die Tiere in ihre Boxen bringen, sie rasieren und waschen. So, wie sie im Moment aussehen, kann man sie unmöglich verkaufen.«
Sie zeigte auf die lehmverschmierten Lenden der Tiere.
»Man bekommt nichts für das Fleisch, heutzutage soll alles so verdammt sauber und piccobello sein, sonst zahlen sie einem nicht den Preis, den sie wert sind.«
Hardy lachte glucksend.
»Du hast doch einen Experten aus Stockholm, der dir helfen kann. Das wird schon klappen.«
Tobias hatte die Hände in den Taschen vergraben. Seine Finger verkrampften sich und ballten sich zu Fäusten. Erneut regte sich Zorn in ihm, wallte die Wut in ihm auf. Er hatte geglaubt, endlich gelernt zu haben, seine Gefühle im Zaum zu halten, abgeklärt zu sein, sie Schicht für Schicht übermalt zu haben, sodass er sich durch nichts beeindrucken ließ, nicht zurückschlug, es keinem heimzahlte.
Stattdessen hatte ihm das Schreiben geholfen, seine Gefühle in Worte zu kleiden, sodass sie ihm nutzten und er Geld mit ihnen verdienen konnte.
Sein letztes Buch war ein Kriminalroman gewesen, von dem sich mehr als siebentausend Exemplare verkauft hatten. Der Roman war sein Durchbruch gewesen. Endlich, nach vier Büchern mit eher bescheidenen Auflagen, hatte er es geschafft. Mittlerweile war der Krimi sogar als Taschenbuch erschienen. Er hatte sich die Ausgabe vor seiner Abreise am Zeitungskiosk angesehen und war sehr zufrieden gewesen. Die Nacht, der Titel in fetten Buchstaben, darunter dann sein eigener Name etwas kleiner und kursiv gesetzt. Tobias Elmkvist. Runde, dicke Buchstaben. Sein Name. Ganz inkognito stand er in dem Laden und genoss das Umschlagbild, die verschwommenen Scheinwerfer eines Autos, eines Taxis.
Ich habe das Buch geschrieben, das Sie da drüben stehen haben, dachte er, als er seine Zigaretten bezahlte. Aber davon habt ihr natürlich keine Ahnung, ihr kleinen Deppen.
Und wenn sie es wüssten? Als ob es sie interessieren würde!
Sabina bekam den Motor in Gang, er sprang nach ein paar Versuchen an, und sie legten mit vereinten Kräften von der Insel ab. Die Ochsen trampelten herum und übersäten den gesamten Dielenboden mit Kuhfladen, aber sie gerieten nicht in Panik.
Hardy hing über der Reling und rauchte einen Zug nach dem anderen. Er hatte seinen Hut in die Stirn gezogen. Sein Profil war scharfkantig, holzschnittartig, und die gelben Bartstoppeln waren so grob, dass man sie einzeln sehen konnte.
»Womit hast du geschossen?« Tobias musste ihn einfach fragen.
Hardy nickte in Richtung seines Rucksacks.
»Da drin ist aber doch kein Platz für einen Elchstutzen?«
»Nein, wohl kaum.«
»Du läufst also immer mit einer Waffe herum?«
»Tobias«, setzte Sabina an, verstummte jedoch gleich wieder, denn nun war ein anderes Boot auf dem See unterwegs, das einen kleinen Außenbordmotor hatte.
»Behaltet die Tiere im Auge!«, befahl sie. »Das kann Wellen geben.«
Es ging leichter als erwartet, die Herde nach Hause in den Stall zu bekommen. Die Hilfe des Hundes war dabei von unschätzbarem Wert. Jetzt waren die Ochsen im Trockenen, alle neunzehn im gleichen rechteckigen Verschlag. Sie blieben ruhig und schienen den Transport ohne Verletzungen überstanden zu haben. Der nächste Schritt bestand nun darin, sie nacheinander anzuketten und ihnen das wolligdichte Fell abzurasieren. Rinder, die in Freilandfleisch verwandelt werden sollten, durften nicht zottelig und schmutzig sein, denn dann wollte der Schlachthof sie nicht haben.
Tobias trug immer noch den Blaumann seines Vaters. Die Mütze hatte er sich von vorne aufgezogen, sein Pony nach hinten geschoben und unter ihr begraben. Die Mütze drückte an der Stirn, ließ sich jedoch nicht verstellen. Er wusste, dass er später Kopfschmerzen bekommen würde. Sie kündigten sich schon jetzt als Druckgefühl im Kopf an und warteten nur darauf, zu voller Stärke zu erblühen. Blühende Kopfschmerzen? Keine wirklich gute Metapher.
Sabina und er waren allein. Hardy war mit dem kleinen Boot wieder auf die Insel hinausgefahren, und Adam begleitete ihn. Gemeinsam würden die beiden sich um das Fleisch des toten Ochsen kümmern.
Tobias war erleichtert, nicht mehr mit Hardy konfrontiert zu sein und für eine Weile ein Timeout zu haben, wie man es vielleicht nennen konnte.
Er hielt ein Büschel Heu in der Hand, denn nun kam es darauf an, die Ochsen einen nach dem anderen anzulocken und dazu zu bringen, ihren massigen Kopf mit den Hörnern und Ohren herauszustrecken, und wenn er dann einmal draußen war, das Gitter vorzuschieben, sodass es den Kopf einschloss und festhielt. Die Tiere waren erstaunlich schlau. Man konnte sie nicht beliebig oft hereinlegen, ganz gleich, wie erpicht sie auf das trockene und duftende Heu sein mochten. Wenn es ihnen gelang zu entwischen, wenn die Hörner nicht ganz durch die Lücke kamen oder wenn sie merkten, was man mit ihnen vorhatte, musste man geraume Zeit warten, bis man wieder darauf hoffen konnte, dass sie es vergessen hatten.
Sabina stand mit dem Rasierer bereit. Spreu hatte sich wie eine Puderschicht auf ihre Haut gelegt. Der Reißverschluss des Overalls hatte sich ein wenig geöffnet, und er entdeckte ein Schmuckstück darunter, das auf ihren Brüsten glänzte, zwei goldene, verschränkte Hände. Er hatte die Kette nie zuvor an ihr gesehen, sie kam ihm eigentlich nicht wie der Typ Frau vor, der regelmäßig Schmuck trug. Auch sie trug nun eine Mütze über dem Kopftuch. Das war notwendig, um sich vor den schmutzigen und wedelnden Schwänzen zu schützen. Er selbst war von einem Schwanz getroffen worden, als er für einen Moment die Mütze abgenommen hatte. Es hatte ordentlich wehgetan, und ihm waren Tränen in die Augen gestiegen. Außerdem waren seine Haare jetzt voller Dreck.
»Pass auf«, sagte Sabina. »Der Süße hier ist schon ganz gierig.«
Der große Kopf war fast schon draußen, blieb jedoch mit einem Horn hängen, die Zunge schob sich heraus und wurde lang gestreckt. Tobias hob die Hand mit dem Heubüschel, lockte und hielt es ihm an unterschiedlichen Stellen hin, bis schließlich beide Hörner durch die Lücke waren. Schnell schob Sabina das Gitter vor und schloss ab. Das Tier muhte verblüfft, fand sich dann jedoch mit seiner Lage ab und begann mit seinen stumpfen mahlenden Kiefern genüsslich zu kauen. Tobias streckte die Finger aus und kraulte es zwischen den Hörnern.
»Der Stecker scheint raus zu sein, kannst du mal nachsehen!«, rief Sabina, und er bückte sich und steckte ihn wieder ein. Schweiß lief ihr übers Gesicht, der Staub hatte Streifen hinterlassen.
Nachdem der Ochse nun an seinem Platz war, konnte sie seine Beine und seinen Hinterkörper, Schwanz und Bauch rasieren, und die Haare fielen wie leichte Schalen und breiteten sich auf dem mit Spalten durchsetzten Boden aus, wurden von den Hufen platt getrampelt, verdreckt. Der Vorgang schien das Tier nicht zu stören, ihm nicht wehzutun, es nicht einmal zu kitzeln. Tobias beobachtete Sabinas Hände, die braun, rund, unheimlich kräftig waren.
Vor seinem inneren Auge tauchte ein Bild auf.
Wie sein Vater und sie.
Nein.
Er blinzelte es weg.
Der Ochse war jetzt fertig rasiert. Tobias ließ ihm eine Dusche mit Schweineplus zuteil werden, der roten Signalfarbe, die auch benutzt wurde, um die gedeckten Säue zu markieren. Da scheute das Tier und bekam Angst, obwohl es die eigentliche Prozedur schon überstanden hatte.
»Dummkopf«, schnaubte Tobias. Sabina lachte.
Sie hatte sich für ein paar Monate einen Eber ausgeliehen, der seit seiner Ankunft bereits mehr als die Hälfte der Säue gedeckt hatte. Nun schliefen sie Seite an Seite, der Eber und seine frisch begattete Geliebte. Das riesige schwarzrosa Männchen hatte ein Huf von hinten wie in einer Umarmung auf ihre Seite gelegt.
»Das musst du dir einfach ansehen«, rief er Sabina zu. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute in die Box hinunter.
»Ja, das sieht wirklich süß aus. Weißt du was, den Letzten, den wir hier hatten, mussten wir am Ende schlachten. Er konnte nicht mehr, war völlig ausgebrannt.«
»Jedenfalls ein schöner Tod. Ich meine vorher.«
»Ja.«
Tobias ging ein paar Schritte den Gang hinab. Er sah in die Verschläge hinein, in denen die jüngeren Schweine wühlten. Sobald sie sechs Wochen alt waren, wurden sie von ihren Müttern getrennt. Sie waren wie freche Kleinkinder, niemals ganz leise, neugierig, aber leicht zu verängstigen. Sie fuhren hoch, hängten sich über den Rand ihres Verschlags und betrachteten ihn mit ihren seltsam menschlichen Augen. Sie erkannten ihn nicht, seine Bewegungen, seine Stimme waren ihnen fremd. Er war auf diesem Hof aufgewachsen, aber das war lange vor ihrer Zeit gewesen.
Und er war seitdem ein anderer geworden.
»Sollen wir uns den Nächsten vornehmen?«, rief Sabina.
»Okay.« Der Geruch von Ammoniak stach ihm in die Nase, und er dachte daran, dass er duschen würde. Am Abend würde er unter den Wasserstrahl treten und sich so lange schrubben, bis sich die Haut fast von seinem Körper löste. Aber das würde nur bedingt helfen.
Sein Vater hatte sie einmal in Södertälje besucht. Sein Vater und Sabina. Das war Mitte der neunziger Jahre gewesen, als auf dem Messegelände von Älvsjö irgendeine Landwirtschaftsschau stattfand. Der Alte hatte sich aus diesem Anlass einen neuen Anzug und einen dunkelblauen Mantel zugelegt.
Aber der Geruch haftete ihm trotzdem an. Sabina war damals erst kürzlich zu ihm gezogen. Sie hatte ein rotes Kleid getragen, und Tobias waren ihre Brüste aufgefallen, aber er hatte sich unmittelbar darauf dafür geschämt. Die beiden blieben über Nacht, schliefen im Schlafzimmer. Sie selbst waren in Klaras Zimmer gezogen. Görel hatte damals eine relativ gute Phase. Sie hatte einen vorzüglichen Fischauflauf gekocht und Kümmelbrot gebacken, erinnerte er sich.
Wo hatten sie Adam in der Zwischenzeit untergebracht?
Die Tiere wurden von einem Nachbarn versorgt, dem der Alte vertraute. Erik Malmfeldt. Damit war es heute vorbei, Malmfeldt hockte nach einem Schlaganfall im Altersheim.
Aber Adam?
Er drehte sich zu ihr um und sah ihre Hand mit dem Rasierapparat, der sich durch das weißbraune Fell pflügte, sah den Pelz, der in Zotteln herabfiel.
Sie schaltete das Gerät aus.
»Was meinst du, sieht das gut aus? Ist er fertig?«
»Da am Schwanz ist noch eine Ecke, aber dann reicht es bestimmt.«
Sie rasierte den letzten Rest ab.
»Du kannst ihn jetzt sprayen.«
Vorsichtig platzierte er einen Farbklecks auf der Stirn des wiederkäuenden Rinds. Das Tier hatte während der Rasur still gestanden, gekaut und gemahlen. Als Tobias nun das Gitter aufzog, kam Leben in den Ochsen. Er wich ungeschickt zurück und wäre beinahe im Kot ausgerutscht. Er machte ein paar nervöse Sprünge zurück in die Herde.
»Wie viele sind es noch?«, fragte Tobias.
»Ich weiß nicht, wir haben wohl fünf oder sechs Stück gemacht.«
Er spähte in die Herde hinein, versuchte die Farbflecken zu zählen.
»Hast du Lust auf einen Kaffee?«, fragte sie.
»Keine schlechte Idee.«
»Dann gehen wir ein bisschen rein. Ich muss ohnehin nach deinem Vater sehen.«
Deinem Vater. Nicht Carl Sigvard. Sondern deinem Vater. Als wollte sie etwas betonen, aber was? Er trat in den Gang hinaus und wäre beinahe auf eine der Stallkatzen getreten. Sie fauchte ihn an und schlich zwischen ein paar staubigen Milchkannen davon.
Gemeinsam gingen sie über den Hof. Der Raureif war mittlerweile weggeschmolzen, an der Hauswand tropfte es. Sie gingen am Hundezwinger vorbei, und Sabina ließ den Welpen Frett heraus. Eines der Elchhundweibchen hatte ihn angenommen. Der Hund lief ihnen mit wackligen Sprüngen entgegen, hockte sich dann jedoch abrupt hin und pinkelte. Tobias lachte.
»Schau mal, er pinkelt wie eine alte Tante. Hörst du, Frett, heb das Bein, du bist doch ein Junge, hast du das etwa noch nicht begriffen?«
»Er ist doch noch so klein«, meinte Sabina und hob den Welpen hoch. »Jetzt bist du aber tüchtig gewesen, Frett, ganz tüchtig!«
Während Sabina nach oben ging, setzte Tobias Kaffee auf. Er hörte ihre murmelnde Stimme im Obergeschoss, die knappen Antworten seines Vaters. Das Liegen machte ihn quengelig. Er war es einfach nicht gewöhnt, sich im Haus aufzuhalten, hilflos und plump wie ein Seehund auf dem Trockenen zu liegen.
»Komm her, lass dich mal anschauen!«
Tobias hatte sich davor gedrückt, zu ihm zu gehen, weil er keine Lust hatte, sich all den unausgesprochenen Fragen zu stellen. Es musste reichen, dass er versprochen hatte, ein paar Tage zu helfen, da nun ganz offensichtlich eine Notsituation eingetreten war. Aber er hatte nicht die geringste Lust, sich der schlechten Laune seines Vater auszusetzen.
»Komm her, lass dich mal anschauen!«
Es war weder eine Aufforderung noch eine Bitte. Es war ein Befehl.
Über das Buch hatte er nichts zu sagen gehabt. Tobias hatte es ihm genau wie seine früheren Bücher mit einer Widmung auf dem Vorsatzblatt geschickt.
Für Papa, mit Grüßen vom Autor
Die ersten Male hatte er sich wenigstens noch bedankt, gleichzeitig jedoch klargestellt, dass ein Landwirt mit Sicherheit keine Zeit zum Lesen haben würde.
»Wenn es Abend wird, ist man sterbensmüde. Du weißt schon, aufstehen in aller Herrgottsfrühe und dann den ganzen Tag mit Volldampf arbeiten. So ein Leben führst du nicht.«
Du hast es dir selber ausgesucht, lag ihm auf der Zunge.
Aber er wollte sich nicht provozieren lassen, sich nicht auf diese Auseinandersetzung einlassen!
Sie kam wieder herunter, ihre Absätze klapperten die Treppenstufen herab.
»Am schlimmsten ist das mit der Toilette«, sagte sie leise. »Wir durften uns vom Krankenhaus eine Bettpfanne leihen, aber er verkrampft sich irgendwie.«
Er kam sich gemein vor.
»Du wirst ihm noch einen Einlauf verpassen müssen.«
»Warum sagst du so etwas?« Sie stand vor ihm und saugte an ihrem Mittelfinger, als hätte sie ihn sich geklemmt.
»Ach, vergiss es. Der Kaffee ist gleich fertig. Die gefrorenen Zimtschnecken in der Tüte hier, wolltest du die in die Mikrowelle legen?«
Sie nickte.
»Ich werde ihm auch eine Tasse hochbringen.«
Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber. Sie war wieder heruntergekommen, und um ihren Mund lag ein gequälter Zug. Tobias biss in eine Zimtschnecke und verbrannte sich fast die Zunge, so heiß war sie in der Mikrowelle geworden.
»Lange her, dass ich etwas Selbstgebackenes gegessen habe«, sagte er versöhnlich.
Sie blickte auf.
»Kann ich mir vorstellen.«
»Schmeckt gut.«
»Ja. Wie sieht es denn sonst bei dir mit der Verpflegung aus?«
»Na ja, mal so, mal so. Du weißt schon, wie das ist, wenn man allein lebt.«
»Und was ist mit Klara? Wohnt Klara nicht manchmal bei dir?«
»Nicht mehr so oft wie früher. Aber du hast Recht, dann muss man sich natürlich zusammenreißen.«
»Wie klappt es eigentlich mit Görel und allem?«
»Es ist schwierig.«
»Aber sie schafft es? Ich meine, die Verantwortung für ein Mädchen in der Pubertät zu übernehmen, ist nicht leicht. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Görel nimmt ihre Glückspillen. Das tut sie immerhin, denn sonst würde es sicher nicht gehen. Aber sie und Klara scheinen sich gut zu verstehen. Ich habe Klara vorgeschlagen, mehr Zeit bei mir zu verbringen, aber sie will nicht. Sie ist oft bei ihren Großeltern. Sie haben ein großes Haus in Pershagen, dem vornehmsten Stadtteil von Södertälje.«
»Aha.« Sabina trank einen Schluck Kaffee, ihre Oberlippe war von einem feinen glänzenden Flaum bedeckt.
»Was hast du da?«, rutschte es ihm heraus, und er meinte den kleinen goldenen Anhänger mit den beiden Händen.
»Wie, was denn?«
»Da am Hals. Der Anhänger.«
»Ach der. Schön, nicht? Dein Vater hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt. Ich finde ihn ganz wunderbar.«
»Hm. Kann mein Alter wirklich so verdammt romantisch sein? So kenne ich ihn gar nicht.«
Sie schwieg, sah auf den Tisch herab, strich mit dem Daumen über die gewebten Fäden der Decke. Er griff nach ihr, hielt ihre Hand fest.
»Hast du dir wehgetan?« Er hob die Hand und drehte sie um, einer der Fingernägel war schief und verfärbt.
»Nein, ich habe mir nur den Finger geklemmt. Ist nicht weiter schlimm.«
»Sabina . . .«
Es klopfte über ihnen. Sie löste sich sachte aus seinem Griff.
»Ich muss nach ihm sehen. Er hat Schmerzen.«