Читать книгу Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 10
4. KAPITEL
ОглавлениеZu den Dingen, die am schwersten zu ertragen waren, gehörte der Geruch. Flora kannte ihn noch aus jenem weit zurückliegenden Sommer, als sie einen Nebenjob in einem Krankenhaus für psychisch kranke Frauen hatte. Es war ein ranziger Geruch aus Bohnerwachs, ungewaschenem Haar und Blumenwasser.
Diesen Geruch gab es nun in ihr selbst.
Im Gegensatz zu dem, was sie sich vorgestellt hatte, waren die Nächte allerdings gar nicht so schlimm. Nein, die Nächte gehörten ihr, nachts konnte sie damit rechnen, ihre Ruhe zu haben, niemand versuchte, sich mit ihr zu verständigen, es gab keine Aktivitäten, bei denen von ihr erwartet wurde, dass sie dabei war und mitmachte.
Meine Gedanken werde ich für mich behalten, meine Gedanken werdet ihr nie anrühren. Das bin ich, da drin, Flora Dalvik, ja, ich habe einen richtigen Namen, ich bin ein Individuum, den Menschen Flora Dalvik schütze ich mit meinem menschlichen Körper, wie gebrechlich und verkümmert er auch erscheinen mag. Er besteht jedenfalls immer noch aus einem Gehirn und aus Gedanken, aus Dingen, die Menschen haben, es ist der Leib eines lebendigen Menschen.
Die jungen Frauen, alle waren jung im Vergleich zu Flora, legten in ihren Bewegungen eine Ungeduld an den Tag, als könnten sie auf diese Weise den Arbeitstag beschleunigen und schneller vorbeigehen lassen. Damit sie zu ihren Spinden in den Umkleideräumen eilen konnten, ihre Arbeitskittel und Hosen ablegen, wieder Privatpersonen werden und nach Hause zu ihrem eigenen Leben fahren konnten. Auch nachts gab es natürlich Pflegepersonal, aber sie störten selten, kamen manchmal herein, wie Schatten eher, und drehten sie um. Sie wusste in etwa, wann sie die Tür öffnen würden, sie war bereit.
Sie waren dazu übergegangen, etwas öfter zu kommen, seit ein junges Mädchen im Polhemsgård in Solna die Vernachlässigung alter Menschen angeprangert hatte. ABC hatte Großaufnahmen von wund gelegenen Stellen und schwarz gewordenen Zehen gezeigt, und das Mädchen, das Angestellte im Polhemsgård gewesen war, hatte eine Art Tapferkeitsmedaille bekommen. Es war viel über Zivilcourage geredet worden.
Für Flora hatte die Geschichte zur Folge, dass die Weißhosen sie jetzt täglich aus dem Bett hoben, sogar an den Wochenenden – ja, vor allem an ihnen, weil an den Wochenenden die meisten Besucher auftauchten –, sie aufrichteten und in einem Rollstuhl festschnallten. Sie kämmten ihr schütteres Haar und flochten es zu zwei Zöpfen. Sie hatte sich nie die Haare geflochten. Das war nicht ihr Stil.
Was war ihr Stil gewesen?
Sie begann mehr und mehr, es zu vergessen.
Sie war dreiunddreißig, als sie bei Sven Dalvik und seiner fast fünfjährigen Tochter einzog. Flora war eine seiner Arbeitskolleginnen, besser gesagt, sie war angestellt als Sekretärin, um Herrn Direktor Dalvik in allen Angelegenheiten zu assistieren, bei denen er Hilfe benötigte.
Chefsekretärin. Existierte dieser Beruf heutzutage überhaupt noch? Sie war stolz darauf gewesen, hatte zunächst einen kaufmännischen Realschulabschluss erworben und dann die Berlitz School besucht. Solche Ambitionen waren ungewöhnlich in ihrem Bekanntenkreis. Die meisten in ihrem Alter hatten relativ bald nach der Schule geheiratet und Kinder bekommen.
Und sie? Warum hatte sie keinen netten, jungen Mann abbekommen und im passenden Alter geheiratet? Darauf wusste sie keine rechte Antwort. Die Jahre waren vergangen, ohne dass »der Richtige« sich gezeigt hatte. Natürlich hatte sie Anträge bekommen, mehrere übrigens, besonders in der Zeit, in der sie regelmäßig die Tanzlokale der Stadt und von Hässelby Strand besuchte. Dorthin kamen junge Männer aus ganz Stockholm, und sie kannte natürlich die Büsche und Verstecke, sie hätte also sehr wohl jemand zu einem lauschigen Plätzchen locken können, wenn sie nur gewollt hätte, und wie ihre Freundinnen es taten.
Nein. Sie fand das banal. Außerdem machte sie sich Sorgen, die Kerle aus der Stadt könnten sich hinter ihrem Rücken viel sagende Blicke zuwerfen. Denken, sie wäre ein Landei wie jede andere auch. Das war sie nicht. Sie war anders.
Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Die Frau im Nachbarbett lag im Sterben. Die Weißhosen hatten einen Schirm zwischen die Betten gestellt, aber das Geräusch des Todes ließ sich nicht abschirmen. Sie glaubten wohl, dass sie es nicht verstand.
Flora lauschte den mühsamen Atemzügen, sie kamen in immer größeren Abständen. Die Sterbende war eine alte Frau, und es war ihr schlecht gegangen, seit sie vor vierzehn Tagen aufgenommen worden war. Für sie war die Zeit gekommen, alles Irdische hinter sich zu lassen, sie war weit über neunzig.
Ihr Sohn befand sich irgendwo im Zimmer und wanderte umher, es fiel ihm schwer, still zu sitzen. Auch er war alt. Als er ins Zimmer kam, nickte er Flora zu, unsicher, ob sie sich seiner bewusst war oder nicht. Sie schaffte es auf ihrem Kissen zurückzunicken.
Er hatte mit den Weißkitteln wegen eines Einzelzimmers getuschelt und sie hatten erklärt und bedauert: Platzmangel und Überbelegung. Dann senkten sie ihre Stimmen, und Flora begriff, dass sie von ihr sprachen.
Der Sohn schien Schmerzen zu haben, sie hörte, wie er hinter dem Schirm jammerte. Jedes Mal, wenn er dies tat, wurden die Atemzüge seiner Mutter schneller, gleichsam zitternder, so als sehne sie sich nach jener Zeit zurück, als sie noch trösten konnte.
Sie hatten Flora heute Abend früh fertig gemacht. Man würde sie stören, die Weißhosen würden die ganze Nacht über rein- und rausrennen und in gedämpftem Ton sprechen, so als bekäme man dadurch nichts mit. Sie würden mit Taschenlampen leuchten, und der Duft von Kaffee würde aus dem Personalraum zu ihr herübersickern.
Es würde mit Sicherheit keine gute Nacht werden.
Sie dachte an Sven und fand es ungerecht. Sein Tod war so schnell gekommen. Sie wäre auch gerne auf die gleiche schmerzfreie, leichte Art gestorben, einfach alles hinter sich lassen und aussteigen. Stattdessen lag sie nun hier wie ein lebendiges Gepäckstück und wurde erniedrigt und gekränkt wie ein Kind.
Sie und Sven hatten von Anfang an Sympathie füreinander empfunden. Er bot ihr das Du an, was zu jener Zeit noch sehr ungewöhnlich war, ihre Zusammenarbeit jedoch zweifellos erleichterte.
Schon bald hatte sie seine Unbeholfenheit in gewissen Dingen durchschaut, tat aber ihr Bestes, damit er dies nicht merkte. Ein Firmenchef war er im Grunde nicht und Flora erkannte nach einer Weile, dass er das Familienunternehmen ohne große Begeisterung übernommen hatte. Er tat es, weil es von ihm erwartet wurde, seine gesamte Erziehung war darauf ausgerichtet gewesen. Sein Vater, Georg Dalvik, hatte die Firma gegründet. Er war es, der die heute fast weltweit berühmte Halspastille Sandy erschaffen und vermarktet hatte, »außen rau wie Sand, löscht aber deiner Kehle Brand«.
Sven war nicht unbedingt der Mann, den sie als sehr junges Mädchen in ihren Träumen vor Augen gehabt hatte, aber er war lieb. Er glaubte an sie, wandte sich an sie, wenn die Dinge kompliziert wurden. Er fragte sie auch regelmäßig um Rat, wenn er Geschenke für seine französische Frau kaufen wollte. So gesehen hatte sie das Gefühl, sowohl ihn als auch seine Familie zu kennen, ohne jemals seine Frau oder das kleine Mädchen getroffen zu haben. Ein Foto von ihnen stand auf seinem Schreibtisch, eine dunkelhaarige Frau mit einem pummeligen und lachenden Kind auf dem Schoß. Das Kind reckte seine Arme nach hinten und schlang sie um den Nacken der Mutter.
Manchmal, wenn er im Ausland war, ging sie in sein Büro und betrachtete die Fotografie. Sie war im Freien aufgenommen worden, in Hässelby, wo er erst vor kurzem ein Haus gekauft hatte. Man konnte einen Dachgiebel erkennen. Flora wusste genau, wo das Haus lag.
Sven erzählte ihr oft von den Mühen des Gemüseanbaus. Er war auf dem Karlaväg, mitten in der Stadt aufgewachsen und hatte nur wenig Erfahrung mit Gartenarbeit, er zeigte ihr seine Handflächen. Einmal klagte er über die Himbeersträucher, sie schienen von einer seltsamen Krankheit befallen worden zu sein.
Flora bat ihn, sie zu beschreiben.
»Nun ja, es sind solche braunlila Flächen auf den Blättern und den Zweigen, die aufplatzen und dann grau gesprenkelt werden. Himbeeren wachsen auch keine, sie vertrocknen einfach. Ich finde es so traurig, wir wollten doch auf dem Balkon sitzen, meine Frau und ich, und frische Himbeeren mit Sahne essen.«
Sie wusste sofort, was los war.
»Rutenkrankheit«, sagte sie und es wurde ihr innerlich warm. »Es ist eine Pilzkrankheit, und leider muss ich dir mitteilen, dass es die schlimmste Krankheit ist, die einen Himbeerbestand befallen kann.«
Ihr Chef starrte sie an.
»Doch, es stimmt«, sagte sie voller Eifer. »Du musst alles wegschneiden und verbrennen, was angegriffen aussieht. Anschließend kannst du Kupferkalk und Kupfersulfat spritzen.«
»Zum Teufel, was du alles weißt!«
Er fluchte selten, jetzt tat er es.
»Du vergisst, dass meine Eltern eine Gärtnerei haben. Ich bin mit Kupfersulfat groß geworden.«
Er lachte und umarmte sie. Das war ungewöhnlich. Körperliche Berührungen waren zwischen ihnen fast nie vorgekommen.
Noch zweimal kam es dazu. Eines Abends arbeiteten sie länger, es wurde ziemlich spät. Flora setzte einen Tee auf und schmierte ein paar Butterbrote. Als sie das Tablett auf seinem Tisch abstellte, legte er ihr den Arm um die Taille, zog ihn aber unverzüglich wieder zurück. Sie begriff, dass er gedacht hatte, er wäre zu Hause. Er war müde. Er wurde rot.
Das zweite Mal passierte es auf einem von der Belegschaft auf einer Insel organisierten Krebsessen. Sie wurden betrunken, sowohl Sven als auch sie, keiner von ihnen war es gewohnt, Schnaps zu trinken. Sie saßen in dieser Nacht eine Weile zusammen auf einem Felsen und hielten einander an den Händen. Mehr war es nicht.
Als Svens Frau starb, war er sehr stark. Schon am nächsten Tag kehrte er in sein Büro zurück. Das Mädchen hatte er bei seinen Eltern gelassen. Er war verändert, aber nur äußerlich, schien an einem einzigen Tag mehrere Kilo an Gewicht verloren zu haben. Ansonsten war er wie immer. Ein bisschen still, ein bisschen traurig.
Flora stellte ihm einen Topf mit blauen Usambaraveilchen ans Fenster. Blau war die Farbe der Hoffnung und des Trostes. Sie wusste nicht, ob er es überhaupt merkte. Sie fragte, ob es etwas gebe, was sie tun könne. Da wandte er ihr das Gesicht zu, aber ohne sie zu sehen.
Nach der Beerdigung begann er, von seinem Kind zu sprechen. Das Mädchen hieß Justine. Sie war in einem schwierigen Alter, und dass sie ihre Mutter verloren hatte, machte die Sache nicht besser.
»Meine Eltern kommen nicht mit ihr zurecht«, sagte er, »sie haben sich nie besonders für Kinder interessiert. Außerdem ist mein Vater herzkrank.«
Flora hörte geduldig zu. Die ganze Zeit saß sie da und hörte zu und versuchte gerade dadurch zu trösten, versuchte, nicht aufdringlich zu wirken, nicht mit zu vielen Ratschlägen zu kommen.
Das erste Jahr löste er das Problem mit Haushaltshilfen, die sich um das Haus und das Kind kümmern sollten. Manchmal sprach er davon, das Haus zu verkaufen, aber seine Frau lag auf dem Friedhof von Hässelby begraben, und mehrmals in der Woche ging er dorthin.
»Glaubst du, sie würde wollen, dass ich es verkaufe?«, wollte er von ihr wissen. »Sie hat dieses Haus so sehr gemocht, ihr zuliebe haben wir es gekauft.«
Er hatte Probleme, seine Haushaltshilfen zu halten. Vielleicht war es zu einsam dort unten am Seeufer? Vielleicht fühlten sie sich isoliert?
Dass es an dem Mädchen liegen könnte, dieser Gedanke kam seinem armen, verstörten Gehirn nie.