Читать книгу Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 7
1. KAPITEL
ОглавлениеDie Kälte: schneidend, rein. Das Wasser – wie etwas Graues und Lebendiges, Seide!
Kein Himmel, nein, keine Kontraste, das hätte sie nicht ertragen, das tat den Augen zu weh. Aber Wolken, am liebsten dichte, geballte, die Schnee verhießen.
Und er sollte trocken vom Himmel fallen, sollte wie Rauch durch die Straßen treiben, sie würde ihre Kleider aufreißen und sich von der Kälte durchdringen lassen.
Dort in der Ferne hatte sie versucht, genau das heraufzubeschwören, das Gefühl von Eiskristallen. Voller Anspannung hatte sie die Augen geschlossen, um das Geräusch eines nordischen Ufers zu hören, an einem Frühlingstag, wenn das Eis schmilzt.
Es war ihr nicht gelungen. Nicht einmal, als die heftigsten Fieberanfälle ihren geschwächten Körper schüttelten und Nathan sie mit allem bedeckte, was er auftreiben konnte, Kleider, Stoffreste, Gardinen.
Sie fror, aber es war die falsche Art von Kälte.
Vorwärts, vorwärts, sie rannte.
So hast du mich nie gesehn!
Vorwärts, vorwärts jagte ihr massiger Leib, die Füße federleicht in den Joggingschuhen. Vor ein paar Tagen erst hatte Justine sie in einem Sportgeschäft in Solna anprobiert, hatte sie vor den kritischen Augen eines jungen Mannes mit schneeweißen Zähnen und glänzendem, dichtem Haar getestet. Er hatte sie auf einem Laufband traben lassen und ihre Fußbewegungen mit einer Videokamera aufgenommen. Beim Laufen hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt, entschlossen, fest, aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, aus Angst, er könnte sie lächerlich finden, eine übergewichtige Frau von fünfundvierzig Jahren, könnte etwas Verzweifeltes in der Art entdecken, wie sie die Knie zusammenpresste.
Missmutig hatte er sie betrachtet.
»Sie pronieren«, stellte er fest.
Unsicher starrte sie ihn an.
»Doch. Wirklich. Aber das ist nicht schlimm, das macht fast jeder.«
Sie stieg vom Band herunter, die Haare klebten ihr im Nacken.
»Ich meine damit, dass Sie falsch belasten. Sie laufen nicht gerade, sondern seitwärts, was dazu führt, dass sich Ihre Sohlen einseitig abnutzen.«
Er hob ihre alten Winterstiefel hoch und hielt sie ihr entgegen.
»Sehen Sie selbst!«
»Aber ich laufe doch nie, ich bin noch nie gelaufen.«
»Das spielt keine Rolle. Sie pronieren auf jeden Fall.«
»Promenieren?«
Der Versuch eines Scherzes. Er lachte höflich.
Justine kaufte die Schuhe, sie kosteten fast einen Tausender. Er hielt ihr einen kleinen Vortrag darüber, dass es sich auf Dauer lohne, jetzt auf Qualität zu setzen, man könne sich selber Schaden zufügen, wenn man mit den verkehrten Schuhen jogge, sich verletzen, eine Zerrung holen, vor allem, wenn man überhaupt keine Übung habe.
Die Schuhe waren von Avia. Sie dachte ans Fliegen, als sie es bemerkte.
An Flucht.
Sich Horizonten nähern.
Die dunkelblaue Mütze tief ins Gesicht gezogen, begann sie den Anstieg Richtung Johannelundstippen. Sie lief, vornübergebeugt, aus dem Gras stoben kleine Schwärme grüner Vögel. Lautlos, aber vorwurfsvoll. Justine kam einfach so daher und unterbrach sie bei einer wichtigen Beschäftigung, sie mit ihrem keuchenden Menschenleib, ihrem schweren, rasselnden Atem.
Wir entgleiten einander.
Nein.
Du solltest mich jetzt sehen, du wärst stolz auf mich, ich könnte dir bis ans Ende der Welt folgen, und du würdest dich umdrehen und mich mit deinen Himmelsaugen anschauen, das ist Justine, die ich liebe, sie kann an der Wand laufen wie eine Fliege.
Wie eine Laus.
Oben auf der Kuppe wehte ein kräftiger Wind, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Unten breiteten sich die Häuser aus. Sie glichen kleinen Pappschachteln, aufgestellt in einem Gewimmel aus Straßen und Wendehämmern, umgeben von rankenden Rosenhecken. So musste auch das Modell ausgesehen haben, das ursprüngliche Gipsmodell des Architekten.
Um ein Haar wäre sie geradewegs in die Reste eines abgebrannten Feuerwerks getreten, in Flaschen und Plastikbecher. Eine Gruppe von Leuten war in der Silvesternacht hierher gekommen, um besser gesehen zu werden und höher schießen zu können als alle anderen und dann anschließend betrunken hinuntergetorkelt, nach Hause.
Manchmal fuhr sie mit dem Auto zu der neuen Reithalle in Grimsta. An Werktagen fand man dort immer einen Parkplatz. Pferde sah man nur selten, doch einmal, auf der schlammigen Weide direkt neben dem Stall, entdeckte sie ein paar Tiere mit langen Beinen, ihre Mäuler wanderten wie Staubsauger über die Erde. Sie konnte keinen einzigen Grashalm entdecken.
Justine verspürte unwillkürlich den Impuls, in die Hände zu klatschen, um eine unmittelbare Reaktion auszulösen, um zu erleben, dass eines, vielleicht das Leittier, sie entsetzt anstarrte und durchging, ohne zu begreifen, dass es an allen Seiten von Zäunen umgeben war. Voller Panik würde es an nichts anderes mehr denken können als an Flucht, und die anderen würden ihm folgen. Außer sich vor Angst würden sie durch den Morast donnern und völlig die Orientierung verlieren.
Natürlich tat sie es nicht.
Links von der Eisbahn begann eine beleuchtete Loipe. Sie folgte ihr nur ein kurzes Stück, bog dann ab auf das matschige Terrain unterhalb der Mietshäuser, ließ den Parkplatz am Maltesholmsbad hinter sich, wo sie im Vorbeigehen registrierte, dass die kaputte Fensterscheibe in einem der Wohnwagen, die dort standen, immer noch nicht repariert worden war, und setzte ihren Weg Richtung Wasser fort, wo sie eine Weile am Ufer entlanglief.
Vier Enten watschelten lautlos davon. Es war Januar, einige Grad über Null, über eine Woche hatte es ununterbrochen geregnet, aber an diesem Nachmittag war der Himmel bleich und weiß.
Sie atmete durch die Nase.
An den Hängen lagen Berge von Laub, der Verrottungsprozess schien beendet zu sein, sie waren braun und glitschig, erinnerten in nichts an Leder.
Wie dort.
Kein Laut, keine Vögel oder Tropfen, nur ihre eigenen rhythmischen Schritte, das dumpfe Stampfen, als sie sich den Hügel hochkämpfte, schließlich wurde es hallender, sie hatte die Holzbrücke erreicht und wäre beinahe hingefallen. Die vom Wasser aufsteigende Feuchtigkeit hatte einen tückischen Belag gebildet, der die Avia-Sohlen ins Rutschen brachte.
Nein! Nicht stehen bleiben, jetzt keine Schwäche zeigen, ihre Lungen brannten, ein stechendes und leises Röcheln, sie zwang sich weiter, als wäre sie er. Nathan.
Du wärst stolz auf mich. Liebe mich.
Zu Hause angekommen blieb sie gleich hinter der Tür stehen, lehnte sich gegen die Wand und schnürte sich die Schuhe auf. Riss sich die restlichen Kleider vom Leib, den roten, winddurchlässigen Overall, das Zeug darunter, den Sport-BH und die Unterhose. Breitbeinig stand sie da, streckte ihre Arme aus, ließ den Schweiß langsam verdunsten.
Der Vogel flatterte von oben auf sie herab. Das Rauschen seiner Schwingen, er kollerte, knurrte ohne Unterlass. Er setzte sich in ihr Haar, klammerte sich mit seinen groben, glänzenden Krallen fest. Sie bewegte den Kopf, spürte ihn als warmes Gewicht mitten auf ihrem Schädel.
»Hast du auf mich gewartet?«, fragte sie. »Du weißt doch, dass ich immer wiederkomme.«
Sie strich ihm über den Rücken und scheuchte ihn dann weg. Mit griesgrämigem Gurren verschwand er in der Küche.
Auf dem dicken Teppich im Esszimmer machte sie ein paar Stretchingübungen, die sie sich aus einem Gymnastikprogramm im Fernsehen abgeguckt hatte. Sie war nie besonders wild darauf gewesen, etwas gemeinsam mit anderen zu unternehmen. Scheu, hatte Nathan sie genannt. Anfangs war es das gewesen, was ihn am meisten angezogen hatte.
Sie war nach wie vor nicht gerade schlank, aber die Zeit dort in der Ferne hatte ihrem Körper eine neue Form gegeben, sie sah schmaler aus, auch wenn die Waage weiterhin achtundsiebzig Kilo anzeigte. Sie stand lange unter der Dusche, glitt mit dem Schwamm über ihren Bauch, die Schenkel, in die Kniekehlen.
Dort in der Ferne war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht nach sauberen europäischen Duschen gesehnt hätte, nach einem Fußboden unter ihren Füßen, gekachelten Wänden.
Martina und sie hatten in dem gelben Flusswasser gebadet, aber der Geruch von Staub und Schlamm fraß sich in die Poren und war nicht wegzubekommen. Anfangs widerstrebte es ihr, in den Fluss zu steigen. Sie dachte daran, was sich unter der Oberfläche alles bewegen mochte: Schlangen, Piranhas, Blutegel. Doch eines Morgens war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als in voller Montur die Stromschnellen zu durchqueren. Es gab keinen anderen Weg. Danach hatte sie keine Angst mehr gehabt.
Sie trocknete sich sorgfältig ab und cremte sich ein. Die Roma-Flasche war inzwischen fast leer und hatte die gleiche Form wie der Schiefe Turm von Pisa. Sie schnitt sie mit einer Schere auf und kratzte den Rest mit dem Zeigefinger heraus. Betrachtete für einen Moment ihr Gesicht im Spiegel, rotfleckig von der Hitze, nicht mehr jung. Zog Striche um die Augen, wie sie es immer getan hatte, schon seit den Sechzigern. Niemand war es gelungen, ihr das abzugewöhnen.
Nicht einmal Flora.
In ihrem grünen Hauskleid ging sie anschließend in die Küche und holte sich eine Schüssel Naturjoghurt. Der Vogel hatte sich auf dem Fensterbrett niedergelassen. Er glotzte aus einem Auge und grummelte, als wäre er unzufrieden. Draußen auf dem Weg hüpfte eine Amsel, winterfett und aufgeplustert. Im Winter veränderte sich ihr Gesang, wurde eintönig und schrill, als schlage jemand eine hart gespannte Gitarrensaite. Der andere Gesang, der gleichzeitig wehmütig und jubilierend war, verschwand irgendwann im Spätsommer, um Ende Februar wieder zu neuem Leben zu erwachen. In der Krone eines sehr hohen Baumes.
Ihr ganzes Leben hatte Justine im gleichen Haus verbracht, in Hässelby Villastad, nahe am Wasser. Es war ein schmales, hohes und kleines Steinhaus, passend für zwei oder drei Personen. Mehr hatten hier auch nie gewohnt, von der kurzen Zeit mit dem Kind einmal abgesehen.
Justine war als Einzige noch da, sie konnte es so einrichten, wie sie wollte. Bisher hatte sie allerdings das meiste so belassen, wie es war. Sie schlief in ihrem Mädchenzimmer mit den ausgebleichten Tapeten, konnte sich nicht dazu überwinden, in Papas und Floras Schlafzimmer zu ziehen. Dort war das Bett gemacht wie immer, als könnten beide jeden Moment zurückkommen, und ein paar Mal im Jahr nahm Justine die Tagesdecke herunter und wechselte die Laken.
In der Kleiderkammer hingen ihre Kleider, Papas Anzüge und Hemden links und all die zierlichen Kostüme Floras auf der anderen Seite der Stange. Die Schuhe waren von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Manchmal dachte Justine daran, die Staubschicht zu entfernen, brachte es aber nicht einmal über sich, sich zu bücken und die Schuhe zu berühren.
Die Kommode wischte sie ab, wenn sie Lust bekam, etwas zu pflegen. Sie ging mit Fensterputzmittel über das Glas des Spiegels und rückte die Haarbürste und die kleinen Parfümflaschen ein wenig hin und her. Einmal hatte sie Floras Bürste in Richtung Fenster gehalten und die langen grauen Haare angestarrt. Sie hatte sich fest in die Backe gebissen und eines der Haare mit einer schnellen Handbewegung losgerissen. Dann ging sie auf den Balkon und zündete es an. Es brannte, begleitet von einem beißenden Geruch, kräuselte sich und verschwand.
Es wurde bereits dunkel. Sie war jetzt im oberen Flur, zog einen Stuhl zum Fenster, schenkte sich ein Glas Wein ein. Das Wasser des Mälarsees glitzerte, schaukelnde Lichter von der Außenbeleuchtung des Nachbarhauses. Sie war programmiert, ein Timer schaltete sie in der Abenddämmerung ein. Nur selten war jemand zu Hause, und sie kannte die Leute auch nicht, die dort jetzt wohnten.
Das machte nichts.
Sie war allein. Es stand ihr frei, all das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte, was getan werden musste, damit sie wirklich eins mit sich selbst werden konnte. Ein starker und lebendiger Mensch wie alle anderen.
Darauf hatte sie ein Recht.