Читать книгу Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 11
5. KAPITEL
ОглавлениеDie Bäume lösten sich aus dem Nebel, wurden schwarz, bekamen Kontur. Es war Morgen. Justine hatte die ganze Nacht in einem Sessel sitzend geschlafen, sie war durstig und zwischen den Schulterblättern völlig verspannt. Auf die gleiche Art wie dort, und doch wieder ganz anders. Dort: Sie konnte sich noch gut an die Erleichterung erinnern, die sie empfunden hatte, als sie endlich die Konturen erahnen konnte. Die kompakte tropische Dunkelheit hatte begonnen, sich zu bewegen, war auf dem Rückzug. Sie lag mit weit aufgerissenen Augen da und beobachtete, wie alles Schritt für Schritt wiederkehrte, die Stämme, die Blätter, wie sie in den Tag hineinwuchsen und Form annahmen. Erleichterung breitete sich in ihr aus, ihre Glieder entspannten sich. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen. Jetzt sank sie in einen kurzen Schlaf, während die anderen schon langsam begannen, sich in ihren Schlafsäcken zu räkeln.
Justine ging die Treppe hinab, hielt sich am Geländer fest wie eine müde und gealterte Frau. Ja, wie sich Flora zwischen den Etagen auf und ab geschleppt hatte, bevor sie ins Heim kam. Freiwillig wäre sie nie gegangen. Aber nach dem Anfall hatte sie keine Kraft mehr.
Unten lag die Küche im Dunkeln. Sie machte das Licht über dem Herd an und setzte einen Topf mit Wasser auf. Ihr Kleid war zerknittert, sie musste geschwitzt haben, während sie schlief. Sie hatte nicht gemerkt, dass die Nacht hereinbrach.
War es so, wenn man starb?
An die Wand gelehnt trank sie ihren Tee in langsamen Schlucken, spitzte ihre Ohren auf der Suche nach eventuellen Geräuschen. Empfand eine plötzliche Sehnsucht, ein Bedürfnis nach Worten, nach etwas anderem als dieser Stille. Sie rief den Vogel. Er saß vermutlich auf seinem Ast und schlief, den Kopf nach hinten gedreht und den Schnabel in die grauen Federn gebohrt. Er kam nicht, antwortete auch nicht, saß irgendwo in der Stille und erinnerte sich an seinen Ursprung.
Das Haus war daraus gemauert: aus kühler und brütender Stille. Wie eine Isolierung. Sie saß in den Steinen, im Kellergemäuer, saß in den Wänden, nicht einmal der Sonnenglut eines Augusttages gelang es, das Helle, Lebendige hervorzulocken.
Dort, im Dschungel. Dort existierte keine Stille. Überall lebte, kroch, pfiff und rieselte es, das Rascheln aus Laubschichten, in denen der Prozess endlos weiterging, ein knabberndes, dampfendes Vermodern, Millionen kleiner, schlemmender Kiefer, die niemals satt zu bekommen waren, die Schreie und das Rauschen des Regens, das Heulen einer Säge.
Sie hatte Nathan gefragt.
»Stehen die hier draußen im Dschungel mit einer Kreissäge. Ist es das, was man die Bedrohung der Regenwälder nennt?«
Er antwortete nicht, zwang sie, sich zu wiederholen. Erst dann drehte er sich um, und seine Augen waren so verändert, wie sie es seit Kuala Lumpur waren, wo Martina zu ihrer Gruppe gestoßen war.
Es war ein Insekt. Ein Insekt, das dieses ziehende Geräusch auslösen konnte, das ihr durch Mark und Bein ging und sie frieren ließ, obwohl es heiß war.
Martina ... Sie war im Grunde auch nicht viel mehr als ein Insekt gewesen. So musste sie das sehen. Auf Insekten setzt man seinen Absatz und zermatscht sie. Insekten wie sie, Martina, haben es nicht besser verdient. So musste sie es sehen, genau so.
Sie selbst war wie das Haus, aus Stille gemacht und gemauert.
So als bräuchten die Worte Zeit, um Form anzunehmen, um ihren Weg in ihr und aus ihr heraus zu finden.
Es hatte dazu geführt, dass die Menschen die Geduld verloren.
Niemand hatte Lust, auf Worte zu warten.
Einige sahen es als ein Zeichen von Schüchternheit, andere als ein Zeichen von Überheblichkeit. Genau dieses Wort, überheblich, hatte ihre Lehrerin für sie gebraucht, schon nach wenigen Wochen Unterricht. An diesem Morgen, als sie daran dachte, wurde sie von Schwindel erfasst, sank in die Hocke, den Kopf zwischen die Knie gesenkt:
Flora stand auf dem Flickenteppich, mitten im beigen Feld, na ja, eher isabellfarben, dort stand jetzt Flora, und die schweren, braun geschminkten Augenlider wurden wie kleine Luken hochgezogen.
»Steh auf, Justine!«
Nein. Sie sank immer tiefer, in den Teppich hinab, hinein. Flora hatte Stiefel an, die feinen Stiefel mit den Pfennigabsätzen. Von hier aus sah sie deutlich diese Absätze, sah, wie ein kleines Blatt an einem von ihnen klebte, aufgespießt worden war. Floras Hand auf ihrem Scheitel, anfangs noch leicht wie zur Versöhnung. Dann die Finger, die sich krümmten, die Nägel, das Haar, wie ein Eisbrand in seinen Wurzeln, als sie hochgezogen wurde, aaaah ...
»Du kannst ja doch noch den Mund aufmachen!«
Wie ein Pendel, hin und her, die kurzen, zerbrechlichen Haare, wie sie rissen.
Flora stellte sie auf dem Fußboden ab, es war kalt, sie hatte in ihrem Bett gelegen, aber gehört, wie Flora zur Haustür hereinkam. Nur im Nachthemd war sie dann die Treppe hinuntergegangen.
»Weißt du, was deine Lehrerin mir heute Abend erzählt hat? Weißt du das? Deine Lehrerin sagt, du bist aufsässig. Aufsässig und überheblich hat sie dich genannt. Ich war gezwungen, ihr leider Recht zu geben, ihr zu sagen, Fräulein Messer, leider: Es stimmt.«
»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, sie hasst mich.«
»Nimm nicht solche Worte in den Mund, Justine, niemand hasst dich. Man nennt es Erziehung, und es ist ihre Pflicht gemäß dem Schulgesetz, ihren Schülern Manieren beizubringen.«
Verzeih mir, verzeih, aber sag, wie ich sein soll, wie ich sie dazu bringen kann, mich zu mögen ...
»Wenn mir noch einmal Klagen von deiner Lehrerin zu Ohren kommen, werde ich Dinge mit dir machen, dass nicht einmal dein Vater dich noch wiedererkennt.«
Justine hielt sich die Ohren zu, die Augen traten ihr aus dem Kopf, ihr wurde hässlich und kalt am ganzen Körper, hässlich und siedend heiß. Sie senkte ihr Gesicht. Der gleiche Teppich, dieser?
Floras kleiner Stiefelfuß, ja, er war klein, sie hatte es Papa sagen hören, als sie nachts im Flur stand und die beiden dachten, sie würde schlafen. Drinnen konnte sie Flora erkennen, nackt und dünn wie ein Mädchen, mit ihren Stiefeln auf dem sauberen Laken.
Jetzt drückten die gewebten Ketten des Teppichs gegen ihre Schläfe, jede Erhöhung und Unebenheit, der Geruch von kalt gewordenem Essen. Sie presste leicht mit der Sohle, rieb mit dem Fuß über Justines Wange.
»Ich will, dass du es sagst, laut, dass du ein ekelhaftes und abstoßendes Kind bist, das niemand gern hat!«
Sie konnte es nicht.
»Dass du ein verwöhntes und böses und dreckiges Kind bist, das niemand in der ganzen Welt lieben kann, sag es!«
An mehr konnte sie sich nicht erinnern.
Es war weg.
Der Vogel kam, seine pfeifenden Schwingen. Sie kochte zwei Eier, gab dem Vogel das eine und nahm sich selbst das andere. Es war ein großes und gut gewachsenes Tier. Der Vogel schälte sein Ei mit dem Schnabel, verteilte Schale und Eikrümel in der ganzen Küche.
»Fritz?«, überlegte sie geistesabwesend. »Heißt du vielleicht so?«
Der Vogel schrie auf, schlug mit den Flügeln und flog ihr auf die Schulter. Sie steckte die Finger in seinen grau gefiederten Bauch und fühlte den Körper darunter wie einen warmen und lebendigen Broiler ganz tief unter den Federn.
»Ich sollte vielleicht einen Freund für dich anschaffen«, sagte sie leise. »Wir sind wohl beide etwas zu einsam, du und ich.«
Er schnappte nach ihrem Zeigefinger, nur ganz leicht, hob ihn hoch und stubste ihn wieder weg. Er war einen Tag, nachdem Flora es verlassen hatte, ins Haus gekommen. Justine hatte eine Anzeige in Dagens Nyheter gelesen: »Vogel zu verkaufen aufgrund veränderter Familienverhältnisse, lieb und handzahm.«
Veränderte Familienverhältnisse. Das galt auch für sie.
Ohne lange zu überlegen, griff sie zum Telefon. Der Vogel befand sich draußen in Saltsjöbad, und zuerst wollte das Auto nicht anspringen, aber nachdem sie eine Zeit lang mit »Startpilot« unter die Motorhaube gesprüht hatte, sprang er doch noch an. Es war ein alter Opel Rekord, und sie war immer ein wenig nervös, wenn sie ihn fahren sollte, er war ein wenig unzuverlässig.
An der Kreuzung bei Slussen verfuhr sie sich und kutschierte geraume Zeit planlos durch die Gegend, bis sie die Abfahrt Richtung Nacka entdeckte. Mit großen Bleistiftstrichen hatte sie sich eine Karte gezeichnet. Sie lag neben ihr auf dem Vordersitz, und ihr war es zu verdanken, dass sie schließlich den richtigen Weg fand.
Das Haus sah gepflegt und freundlich aus wie alle Häuser hier. Sie parkte am Zaun und klingelte. Einen Augenblick später kam ein Mann zur Tür und öffnete ihr. Am Telefon hatte sie mit einer Frau gesprochen. Der Mann war in ihrem Alter, das Gesicht streng und verschlossen.
Scheidung, dachte sie.
Er wusste sofort, wer sie war, und bat sie, einzutreten. Im Haus herrschte Chaos. Halb gepackte Kartons standen im Flur verteilt, etwas entfernt sah sie den Boden des Wohnzimmers. Er war mit verstreuten Büchern übersät, so als habe jemand in einem Wutanfall alles aus den Regalen gerissen, was sich in ihnen befand. Aus der Küche drang der Geruch von etwas Angebranntem.
Dort in der Küche saß auch der Vogel, in einem hohen und verschnörkelten Bauer. Er döste, ignorierte sie völlig.
»Oh«, sagte sie. »Ich hatte gedacht, es wäre ein Papagei.«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen?«
»Papageien sind als Haustiere in der Regel etwas weiter verbreitet.«
»Ja, mag sein. Und jetzt haben Sie kein Interesse mehr?«
»Doch, doch. Die Art spielt eigentlich keine Rolle.«
Der Mann zog eine Glaskanne mit tiefschwarzem Kaffee vom Herd.
»Verdammter Mist, den habe ich in der Eile völlig vergessen.«
»O je ...«
Er warf ihr ein schiefes Grinsen zu.
»Es ist alles ein bisschen viel im Moment.«
Sie sollte wohl etwas sagen, sich nach den Eigenheiten und Essgewohnheiten des Vogels erkundigen. Sie brachte es nicht fertig. Irgendetwas an diesem Vogel, an seiner struppigen, schwarzgrauen Gestalt brachte sie den Tränen nah. Als sähe sie sich selbst da drinnen, zusammengekauert, anderen zur Pflege überlassen.
Der Mann räusperte sich und zog einen Karton zur Seite.
»Wir sind im Aufbruch begriffen«, sagte er.
»Ja ... Ich verstehe.«
»Ja, so ist das. Nach vielen gemeinsamen Jahren ist man eines Tages nicht mehr Mitglied einer Familie. Man hat das immer selbstverständlich gefunden. Sie! Finden Sie niemals etwas selbstverständlich. Tun Sie das bloß nicht!«
»Das tue ich auch nicht.«
»Das tuen aber viele. Ich zum Beispiel, ich habe es getan. Bis jetzt.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Mann schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Wie gesagt, hier haben Sie den Vogel. Er hat viele Jahre mit uns zusammengelebt ... Er ist ein Teil der Familie gewesen. Meine Frau fand ihn als Küken hier draußen im Garten. Er war wahrscheinlich aus dem Nest gefallen. Eine Katze hatte ihn gefangen, eine Katze, die ein Spielzeug haben wollte. Wissen Sie, was ich mit dieser Katze gemacht habe? Ich habe sie erschossen.«
»Sie haben die Katze erschossen ...?«
»Mit einem Luftgewehr. Sie war sofort tot.«
»Ist das denn erlaubt?«
»Das ist mir scheißegal. Es war in meinem Garten, und in meinem Garten mache ich, was ich will.«
»Und der Vogel ...?«
»Um den haben wir uns dann gekümmert und ihn aufgezogen. Aber jetzt sind wir, wie gesagt, unterwegs in verschiedene Richtungen, meine liebe Frau und ich. Und der Vogel braucht ein Zuhause.«
»Er sieht ein wenig, wie soll ich sagen, mitgenommen aus ... Er ist doch gesund und so?«
»Ja, wissen Sie, Tiere bekommen mehr mit, als man glaubt. Er hat monatelang unsere Diskussionen mit angehört. Er trauert, er ahnt, dass die Stunde des Aufbruchs naht. Er hat meine Frau immer geliebt. Sie konnte es übrigens nicht ertragen, dabei zu sein, als Sie kamen.«
»Wird er sich bei mir wohl fühlen, was meinen Sie?«
»Ich denke schon. Er will bei jemandem sein, der ihn auch haben will. Das spürt er instinktiv, und diesem Menschen tut er auch nichts zu Leide.«
Seite an Seite betrachteten sie den Vogel, der mit einem glänzenden und starren Auge zurückglotzte. Der Mann schluckte, fuhr mit den Fingern über die Gitterstäbe.
»Einige Vogelarten leben in Paaren, sie sind einander treu bis in den Tod!«, platzte er heraus, und kleine Speicheltropfen glänzten auf seinem Kinn. »Die Aras in Brasilien zum Beispiel, bis in den Tod!«
Sie nickte vorsichtig.
»Na, was meinen Sie, wenn Sie ihn haben wollen, nehmen Sie ihn doch gleich mit. Ich halte das nicht länger aus... Außerdem muss ich weiter ... packen.«
»Wie viel wollen Sie für ihn haben?«
»Nehmen Sie ihn einfach mit, er gehört Ihnen!«
»Aber in der Anzeige ...«
»Scheiß drauf. Scheiß drauf, was in der Anzeige stand. Ich will keine Öre haben. Nicht einmal für den Bauer.«
»Den Bauer ... den kann ich leider nicht mitnehmen.«
»Sie wollen den Bauer nicht?«
»Nein. Ich glaube nicht, dass ich ihn ins Auto bekomme.«
Er ging zum Fenster hinüber, starrte eine Weile hinaus. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, hatte er rote Augen. Er holte Luft, nahm Anlauf.
»Dann werde ich ihn wohl wegwerfen müssen oder aber versuchen, ihn zu verkaufen. Oh Scheiße, ich halte das nicht aus, mich mit noch mehr beschissenen Anzeigen abzugeben. Und dem Vogel müssen wir die Flügel stutzen. Er kann aus einem Impuls heraus einfach abhauen, verstehen Sie, und dann wird er nicht mehr als ein paar Minuten unbeschadet überstehen, ehe sich die Elstern über ihn hermachen. Sie hacken ihn in kleine Stücke.«
Justine entfuhr ein kleiner Schrei.
»Nein ... Das können wir nicht tun!«
Hastig wickelte sie ihr Halstuch ab. Es war lang und dünn und mehrmals um ihren Hals geschlungen.
»Nicht die Flügel stutzen, nur das nicht ... Lassen Sie mich das so machen ... stattdessen ...«
Sie hakte die Tür des Bauers auf und streckte ihren Arm hinein, langsam und steif. Sie hatte ein wenig Angst, der Mann machte sie nervös, sie wäre lieber allein gewesen. Der Vogel öffnete seinen Schnabel, er war schwarz und ein wenig gebogen, er ließ ein Zischen hören.
»Komm«, flüsterte sie. »Klettere auf meinen Arm und setz dich.«
Der Mann bewegte sich hinter ihr.
»Sie verstehen etwas von Tieren, nicht wahr?«
»Ja«, murmelte sie, und in gewisser Weise stimmte es ja auch. Der Vogel machte einen zögernden Schritt in ihre Richtung und saß auf einmal auf ihrer Hand. Er war schwer und warm. Sie zog den Arm zurück. Der Vogel blieb sitzen.
Sie schob ihn auf den Küchentisch hinunter und wickelte dann das Halstuch um seinen Rumpf und seine Flügel. Er machte keine Anstalten zu fliehen.
Sie nahm ihn in den Arm wie ein Kind.
»Soooo«, flüsterte der Mann. »Sooo ...«
Er sang ein wenig vor sich hin, summte mit eintöniger Stimme, wandte daraufhin die Lippen in Richtung Decke und gab einen Laut von sich wie aus einem samischen Jojk. Justine lief der Schweiß den Rücken hinunter.
Sie ging zur Tür und versuchte, sich die Stiefel überzuziehen.
»Ich werde Ihnen helfen!« Der Mann fiel neben ihr auf die Knie, presste ihre Füße in die Schuhe und verknotete die Schnürsenkel mit festen Doppelknoten. Er war verstummt. Er öffnete die Tür und folgte ihr hinaus. Als sie dabei war, ins Auto zu steigen, beugte er sich über den Vogel und küsste ihn schmatzend auf den Schnabel, wandte sich dann bestürzt ihr zu.
»Er hackt sonst immer nach einem, wenn man das macht, hackt einem Löcher in die Kleider.«
»Tatsächlich ...«
Justine legte den Vogel neben sich auf den Vordersitz. Er sah aus, als würde er schlafen.
»Sehen Sie mal, das Tier sieht jetzt aus wie eine Kohlroulade«, sagte der Mann, und sie bemerkte, dass er den Vogel nun zu etwas Neutralem gemacht hatte.
Während sie den Wagen anließ, blieb seine Hand auf dem offenen Autofenster liegen. Es war eine schmale und eigenartig kindliche Hand.
»Ich fahre dann mal«, sagte sie und legte den ersten Gang ein. Die Knöchel des Mannes wurden weiß.
»Ja«, kam es von oben.
Als das Auto sich in Bewegung setzte, ließ er los und machte eine Bewegung, als wollte er sie wieder zurückwinken. Erst als sie auf der Autobahn war, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, nach dem Namen des Vogels zu fragen.
Sie ließ ihn in ihrem Zimmer wohnen. Aus dem Garten holte sie einen Baum herein, den sie in einen Weihnachtsbaumständer stellte, und mit Hilfe eines Hakens in der Wand festmachte. Der Baum wurde zum Schlafplatz des Vogels. Nach ein paar Stunden hatte er jedes einzelne Blatt von den Ästen abgebissen.
Er mochte es, in der Küche zu sein oder ihr Gesellschaft zu leisten, wenn sie dasaß und auf das Wasser hinausschaute. Überall fand sie seine eingetrockneten Spuren. Die erste Zeit achtete sie darauf, Zeitungen auszubreiten und alles wieder sauber zu machen. Mittlerweile geschah dies eher sporadisch, wenn ihr einfiel, dass das Haus ihr ganz allein gehörte und sie es pflegen musste, denn ihr Eigentum war es wert, gepflegt zu werden. Wie sie selbst.
Die Wurzeln umgestürzter Bäume. Etwas, worunter man als Kind kriechen konnte; sie konnten wieder zurückklappen, aber das passierte nie, und sie saß dort, bis zum Hals in der Erde.
Die Tiere: Kleintiere, schnüffelnde Tiere, Pelze mit wuscheligem Glanz. Oder die Rehe, die regungslos genau dort standen, wo der Wald in Felder überging, die Feuchtigkeit der Schnauzen, das Weiß in ihren Augen. Dort hinter der Wurzelwand war sie von ihnen umgeben, kauerte sich zusammen und war Schneewittchen, verlassen von dem Jäger. Sie dachte an ihn, und da schwoll es ein wenig an zwischen ihren Beinen, das Blut war jetzt zum ersten Mal aus ihr gekommen, aber sie war noch ein Kind. Und doch.
Und er führte sie in den Wald hinaus, und er hob sein Gewehr. Zielte direkt auf ihre linke Brust. Sie saß bei der toten Hindin, als er ging, sie schaute in die Wunde hinab. Er hatte darin gewühlt und geschnitten, das Herz mitgenommen. Was war eine Hindin? Sie wusste es nicht, aber der Körper war zerfleischt, und der Jäger trug nun das Herz zu jener Frau, die in Schneewittchens Zuhause wohnte.
Ich habe mit dem Mädchen getan, was du befohlen.
Für eine Sekunde zerbrechlich, griff dann nach dem Spiegel, sah ihr eigenes Bild.
Satisfaction.
Die Füchse kamen und die Mäuse. Und wie Flocken fielen die Federn der Eulen in das Wurzelloch hinab, in dem Schneewittchen saß. Wie warmer und schützender Schnee.
Tiere machten Flora krank, sie bekam eine Gänsehaut und ekelte sich. Die Katze schlich sich in die Diele, Flora jagte sie mit einem Besen wieder hinaus. Das Fell sträubte sich ihr, sie hob den Schwanz.
Als Papa abends gute Nacht sagte, erzählte sie ihm davon.
Er machte ein aufgelöstes Gesicht, strich ihr schwach über die Hand, lange, aber schwach.
Abend für Abend bat sie Papa um ein Tier, eine Katze oder einen Hund oder einen Vogel. Vielleicht hatte er gewollt, aber er war ein Spielball in Floras Hand.
»Etwa ein paar verlauste Mäuse mit ihren Dreckslöchern«, würde sie sagen und die geschminkten Porzellanaugen würden ihn anstarren, gnadenlos. »Bakterien und Gestank. Tiere sind Tiere, sie gehören nicht in menschliche Behausungen.«
Mit ihrem Blaufuchspelz war das etwas anderes. Er war tot. Sie bekam ihn an einem Wintertag. Er sollte sie besänftigen. Flora war jemand, der fast immer besänftigt werden musste.