Читать книгу Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 12
6. KAPITEL
ОглавлениеBerit Assarsson kam erst spät dazu, Mittagspause zu machen. Sie wusste nicht recht, wo sie essen sollte, ihr Hunger hatte sich mittlerweile schon wieder verflüchtigt, aber etwas musste sie auf jeden Fall zwischen die Zähne bekommen, wenn sie den Nachmittag überstehen wollte.
Sie redigierte gerade ein Buch über das Segeln. Sie verstand nicht besonders viel vom Segeln, aber da das Buch herauskommen sollte und sie den Auftrag bekommen hatte, sich darum zu kümmern, wollte sie sich möglichst keine Blöße geben.
Tor hatte ein Boot gehabt, als sie sich kennen lernten, und natürlich war es schön gewesen, zwischen den Schären hinauszugleiten und sich einen Ankerplatz für die Nacht in einer geschützten Bucht zu suchen. Aber alles andere! Er wurde so schnell gereizt, verlangte von ihr, die Übersicht über alle Leinen und Taue zu behalten, und in Krisensituationen vergaß er völlig, dass sie dazu nicht in der Lage war. Dann gab es Streit und unangenehme Szenen.
Sie verkauften das Boot und kauften sich stattdessen ein Wochenendhäuschen. Oder was man so Häuschen nennt. Es handelte sich um ein recht großes Haus, Anfang des Jahrhunderts gebaut und auf der Insel Vätö gelegen. Winterfest, so dass sie Weihnachten dort feiern konnten, was sie auch regelmäßig taten. Letztes Mal waren ihre beiden Söhne gekommen und hatten ihre Freundinnen mitgebracht.
Berit ging in die Markthalle am Hötorg. Es war kurz nach eins. Um diese Zeit war der größte Andrang schon vorbei. Sie bestellte einen Avocadoteller mit Krabben und einen großen Café au lait und setzte sich an einen der Tische in der Nähe der Blumenabteilung. Wie viele hübsche Tulpen es im Moment gab, welch herrliche Farben! Wenn das Thermometer jetzt noch ein paar Grad unter Null fiele und es ein wenig Schnee gäbe, sähe alles schon viel heller und freundlicher aus.
Die Avocado war ein wenig hart. Sie erwog, mit ihrem Teller zum Tresen zurückzugehen und sich zu beschweren, blieb dann aber doch sitzen. Wie oft hatte sie schon in dieser Markthalle gegessen? Mindestens einmal die Woche in all den fahren, die sie die Stelle im Verlag hatte. Sie versuchte, es im Kopf auszurechnen, sagen wir sechsundvierzig Wochen mal vierzehn, das macht, das macht, das macht...
Moment, letztes Jahr, als sie fünfundvierzig wurde, war sie verreist. Tor hatte sie mit den Tickets zu einer Weltreise überrascht.
»Konntest du nicht warten, bis ich fünfzig werde!«, rief sie aus, fast bestürzt über seine plötzliche Großzügigkeit.
Er hatte sie umarmt, schnell und unbeholfen.
»Wer weiß, ob wir noch so lange leben.«
Sie reisten und blieben fast zwei Monate fort. Das machte acht Wochen und dementsprechend achtmal, die sie nicht hier in der Halle gegessen hatte. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Taschenrechner, konnte ihn aber nicht finden.
Stattdessen war sie gezwungen, einen Kugelschreiber hervorzuholen und es schriftlich auszurechnen, genau wie Fräulein Messer es ihnen damals vor sehr langer Zeit in der Schule beigebracht hatte.
Sie kam auf weit über sechshundert Mal.
Also, weit über sechshundert Mal hatte sie hier unten in diesem kleinen Restaurant unterhalb der Rolltreppe gegessen.
Das ist dein Leben, Berit!
Immer öfter hatte sie ihr Leben satt. Immer öfter überkam sie das Gefühl, dass ihr Leben seinen Zenit überschritten hatte, als hätte es das bereits vor langer Zeit getan, und als wäre jetzt alles zu spät.
Alles, was denn alles?
Berit redete manchmal mit Annie darüber, die ihr Büro nebenan hatte. Sie hatten ungefähr gleichzeitig im Verlag angefangen, waren beide vorher länger mit den Kindern zu Hause gewesen, hatten beide Söhne.
Ja, alles ... Worauf man gewartet hatte, etwas, das noch kommen sollte.
Annie gab ihr Recht. Sie war vier Jahre jünger und gab ihr trotzdem Recht.
Ich frage mich, wann es aufgehört hat, dachte sie. Ich frage mich, wann man sich aus einem aktiven und jungen Menschen voller Erwartungen in eine roboterähnliche Maschine verwandelt hat.
Sie war wirklich noch nicht alt. Es kam vor, dass die Männer sie mit diesem besonderen Ausdruck im Blick betrachteten, aber in der Regel erst, wenn sie ihr vorgestellt worden waren. Ansonsten fiel sie kaum noch auf. Sie pflegte ihren Körper, pflegte ihr Gesicht, zeigte sich nie ungeschminkt, nicht einmal auf dem Land. Alle fünf Wochen ging sie zum Friseur, einem schwarzen und schönen Mann, der genau wusste, wie sie die Haare haben wollte.
Schade, dass er »andersrum« ist, fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf, ich habe noch nie mit einem Neger gebumst. Sie wurde rot, als würde sie sich schämen.
Sie ließ den Blick über die Verkaufsstände schweifen. Fast immer traf sie irgendeinen Bekannten hier unten, so war es auch heute, da drüben glitt soeben Elisabet über den Boden der Markthalle, sie hatte eine ganz eigene Art, gleichsam vorwärts zu fließen, alles beiseite zu wischen, was sich ihr in den Weg stellte.
Jetzt entdeckte sie Berit, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Liebste, kleine Berit, sitzt du hier ganz solo? Darf ich mich einen Moment zu dir setzen und einen ... was trinkst du, café latte? Ich nehme auch so einen.«
»Eigentlich hatte ich gerade vor zu gehen. Aber setz dich ruhig, einen Moment kann ich ruhig noch bleiben.«
Elisabet war auch in der Verlagsbranche tätig, arbeitete aber in dem großen, weißen Haus am Sveaväg, dem Albert Bonniers Verlag.
»Wie geht es dir, Schätzchen, siehst du nicht ein bisschen blass aus?«
»Wirklich?«
»Ach was, das ist vielleicht nur das Licht hier. Ja, ganz bestimmt ist es das.«
»Um ehrlich zu sein, ich fühle mich ein wenig müde.«
»Tatsächlich? Wir haben doch über Weihnachten ein paar Wochen frei gehabt, oder hast du etwa Weihnachten gearbeitet?«
»Nein, das nicht. Aber ... nicht auf diese Art müde.«
»Ich weiß, was du meinst, es ist dieses ewige graue Wetter. Wenn es wenigstens etwas kälter würde, ich sehne mich nach Eis. Wir sind noch kein einziges Mal mit den Schlittschuhen unterwegs gewesen. Und dabei ist es Mitte Januar. Ob das wohl an El Niño liegt, was meinst du? Ist er es, der uns alles verdirbt, kommt der so hoch in den Norden?«
»Keine Ahnung.«
»So oder so, es ist ein Trauerspiel. Und, gibt es was Neues?«
»Nicht dass ich wüsste. Und bei euch, wie läuft es bei euch?«
»Bestens, viel zu tun.«
»Bei uns auch. The same procedure ... Alles wiederholt sich. Ich glaube, ich verliere allmählich die Lust.«
»Aber Kleines ... Habt ihr denn gar keinen Spaß?«
»Wie man’s nimmt.«
Elisabet lehnte sich über den runden, weißen Eisentisch.
»Ist denn was dran an der Sache, dass ... Curt Lüding verkaufen will?«
Curt Lüding war Berits Chef. Er hatte den Verlag Mitte der siebziger Jahre gegründet, gehörte damals zu den jungen Oppositionellen, die auf die Barrikaden gingen. Zu jener Zeit hatte er Undergroundliteratur und gesellschaftskritische Romane verlegt. Damit hatte er inzwischen aufgehört. Die Zeiten hatten sich geändert.
»Dieses ständige Gerede«, sagte sie, verspürte aber doch ein Rumoren in der Magengegend.
»Du hast also nichts gehört?«
»Nein, du etwa ...«
»Ach, ich weiß nicht ... Nein, es ist bestimmt nichts dran.«
»Meinst du etwa, dass Bonniers kaufen will?«
»Ja.«
Berit pickte mit ihrer Gabel ein Maiskorn auf und stopfte es sich in den Mund.
»Solche Gerüchte sind irgendwie unangenehm«, sagte sie. »Vielleicht geht es einem deshalb so schlecht. Man weiß, was man hat, oder so ähnlich. Ich werde mich dieses Wochenende den Teufel um den Job scheren, ich werde keinen einzigen Gedanken an ihn verschwenden! Stattdessen werde ich zusehen, dass ich viel draußen bin, einen langen Spaziergang machen, so werde ich den Samstag verbringen. Ich fahre raus nach Hässelby und sehe nach dem Grab, dann kann ich da draußen ein wenig spazieren und nostalgisch werden. Ich bin schon seit Ewigkeiten nicht mehr da gewesen.«
Auf dem Rückweg schaute sie noch schnell in ein Geschäft für extravagante Unterwäsche herein, das auf der Drottninggata lag. Sie probierte ein paar BHs an und entschied sich für einen glänzenden, roten Bügel-BH und einen dazu passenden Slip. Das grelle Licht in der Umkleidekabine ließ ihre Hüften und ihren Bauch schlaff und blass aussehen.
Mein Rumpf, dachte sie. Wie in einem Obduktionsbericht.
Sechshundertneunzig Kronen.
Aber was tut man nicht alles für sein Glück!
Sie hatte Heißhunger auf Schokolade und ging schnell, schnell vorbei an dem Geschäft mit den belgischen Leckereien. Dort hatte sie vor Weihnachten eingekauft, kleine, erlesene, von Hand gefertigte Schokoladenschnecken für die Freundinnen ihrer Söhne. Sie waren dünn wie Bohnenstangen, ein bisschen Fett konnte ihnen nicht schaden.
Die beiden waren ihr fremd. Sie glichen einander, eckig, blond, mit platten Brüsten. Die ganze Zeit hingen sie an den Jungen, fummelten an ihnen herum und winselten wie zwei verwöhnte kleine Kinder. So hätte sie sich einmal bei Tor zu Hause benehmen sollen! Seine Mutter hätte sie hinausgeworfen.
Helle und Marika. Helle war Dänin, weiß der Himmel, wie sie in Stockholm gelandet war. Berit hatte versucht, sich mit ihnen zu unterhalten, etwas über ihre Familien zu erfahren. Sie waren kurz angebunden und verschwiegen oder vielleicht auch nur schüchtern. Den Jungen zuliebe bewahrte sie gute Miene.
Mittlerweile regnete es stark, sie spannte ihren Regenschirm auf und richtete ihn wie einen Schild gegen den Wind. Als sie an dem russischen Restaurant vorbeikam, musste sie die Straßenseite wechseln. Das ganze Lokal wurde abgerissen, ein Bagger blockierte den Bürgersteig. Sie fragte sich, was jetzt wohl in das Haus kam. Sie war manchmal dort gewesen und hatte gegessen, deftige Eintöpfe und Pirogen. Es war gemütlich und warm gewesen, und wenn sie niedergeschlagen war, hatte sie dort gesessen und neue Kräfte gesammelt.
Der Aufzug zu den Büroräumen des Verlags war außer Betrieb. Sie ging die vier Stockwerke hoch, hinterließ mit ihrem Regenschirm eine nasse Spur, hängte ihren Mantel auf und ging zu ihrem Büro. Es war eigentümlich still überall, gab es etwa eine Besprechung, die sie vergessen hatte? Nein, Annie saß an ihrem Schreibtisch, sie ließ die Arme hängen und arbeitete nicht, saß einfach nur da mit einem ausdruckslosen und leblosen Ausdruck im Gesicht.
»Was ist los, Annie, ist etwas passiert?«
Annie gab ihr ein Zeichen:
»Komm rein!«
Dann stand sie auf und schloss die Tür.
»Jetzt, meine Liebe«, sagte sie dumpf. »Jetzt ist hier was im Gange!«
Berit lief ein Schauer über den Rücken.
»Was meinst du?«
»Curt läuft auf Hochtouren.«
»Aha. Inwiefern?«
»Er beruft eine Personalversammlung ein. Aber nicht heute, auch nicht morgen, sondern ausgerechnet am Montag.«
»Eine Personalversammlung?«
»Ja. Offensichtlich hat er uns etwas zu sagen.«
»Will er uns etwa entlassen?«
»Tja. Wer weiß!«
»Aber ...? Wo ist er jetzt?«
»Abgehauen zu einer Versammlung, den Rest des Tages nicht da, morgen auch nicht.«
»Oh, Annie ... Was sollen wir nur tun?«
»Tun! Wir können nichts anderes tun als warten. Den ganzen langen Freitag, das ganze lange Wochenende.«
»Warum musste er das denn heute schon erwähnen, konnte er nicht bis Montag warten?«
Annie zuckte mit den Schultern. Ihre Haare sahen ungepflegt aus, sie sollte etwas dagegen unternehmen.
»Wie sah er aus, wie hat er es gesagt?«
»Seine Birne sieht doch eigentlich immer aus wie ein Port-Salut-Käse!«
Berit nahm eine Büroklammer, die auf dem Schreibtisch lag, begann, sie zu verformen, an ihr zu ziehen, sie zu verbiegen.
»Ich habe Elisabet in der Mittagspause getroffen, du weißt schon, die Blonde, die bei Bonniers arbeitet.«
»Ach, die kleine Klatschtante.«
»Komm schon, sie ist in Ordnung. Aber sie stellte ein paar seltsame Fragen über Lüding, ob Curt vorhabe zu verkaufen.«
»Das hören wir ja nicht zum ersten Mal, ohne dass was daraus geworden wäre.«
»Stimmt. Aber was ist, wenn es jetzt so weit ist, warum sollte er denn sonst eine Personalversammlung einberufen?«
»Auch wieder wahr. Wir als Angestellte bei Bonniers?«
»Du vielleicht, du bist ja noch relativ jung. Aber ich werde dieses Jahr sechsundvierzig. Wer weiß, ob dieser vornehme Haufen eine sechsundvierzigjährige alte Schachtel übernehmen wird?«
Annie schwieg einen Moment.
»Aber wenn er verkauft, dann verkauft er uns doch im Grunde auch!«, platzte sie dann heraus. »Ich meine ... Wir gehören doch sozusagen zur Verkaufsmasse. Ansonsten muss er uns doch irgendwie abfinden, irgendeine Form von Abfindung zahlen?«
»Ha! Hast du das in deinem Vertrag?«
»Nein.«
Die Büroklammer brach entzwei und piekste sie in den Daumen.
»Was meinen die anderen?«
»Das Gleiche wie wir, alle haben eine Scheißangst. Lotta bekam Bauchschmerzen und musste nach Hause fahren.«
Berit ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Der Raum war schmutzig und unaufgeräumt wie immer, ungespülte Kaffeetassen und die leere Verpackung eines Fertiggerichts. Sie drückte den Pappkarton in den Papierkorb und fluchte.
»Ein beschissener Miststall ist das hier!«
»Es gibt Kaffee!«, rief sie anschließend einfach in den Flur hinaus, wütend, wie einen Befehl. Die anderen kamen, stumm und bekümmert.
Der Verlag hatte zwölf Angestellte, Curt Lüding eingerechnet. Sachbücher verkauften sich am besten. Vielleicht sollte man jetzt eher sagen, hatten sich am besten verkauft. Sie hatten eine belletristische Bestsellerautorin, Sonja Karlberg. Sie schrieb eine Art historischer Schinken, die in adligen Kreisen spielten, aber seltsamerweise vom Publikum angenommen wurden. Sie war eine zarte, zerbrechliche alte Dame, zumindest sah sie so aus. Annie, die ihre Lektorin war, bekam schon schlechte Laune, sobald Sonja Karlberg nur ihren Besuch ankündigte. Sie konnte wegen eines Satzfehlers rasend werden, einmal schmiss sie ein Buch direkt auf Annies Tastatur, so dass beides zu Bruch ging.
Schweigend setzten sie sich hin, schlürften aus ihren Kaffeetassen. Es begann zu dämmern, die Regentropfen glitzerten auf den Fensterscheiben. Berit betrachtete die Töpfe mit Grünpflanzen am Fenster. Niemand hatte sie getränkt, sie ließen die Köpfe hängen. Ihr zog sich der Magen zusammen, sie liebte das hier trotz allem, die bedrückten Gesichter um den Tisch, die Schlamperei, die Stapel von Manuskripten, den Stress und die Druckfahnen, all das, was ein Teil ihrer Arbeit war.
Nach dem Abitur hatte sie Sprachen studiert. Sie hatte keine Ahnung, was sie eigentlich werden wollte, und es war mehr oder weniger ein Zufall, der sie in die Verlagswelt geführt hatte. Eine winzige Anzeige eines winzigen Verlags, der eine Korrekturleserin suchte. Der Verlag hieß Strena, es gab ihn schon lange nicht mehr. Aber ein paar Jahre lang las Berit gut gehende Thriller Korrektur, während sie heiratete und ihre Kinder aufzog.
Auf einem Verlagsfest kam sie mit Curt Lüding ins Gespräch. Der Zufall wollte es, dass er sich mit seinem Verlag gerade in einer expansiven Phase befand, und er stellte sie augenblicklich ein, ohne formale Qualifikationen zu fordern. Aber so war es vielen in der Branche ergangen, das begriff sie mit der Zeit. Ein wohlwollender Zufall hatte ihnen den Weg gewiesen.
Berits Mann Tor war Wirtschaftsprüfer. Die ersten Jahre wohnten sie zusammengepfercht in seinem kleinen Einzimmerappartement in der Thulegata. Es war eine sehr schwere Zeit. Als die Jungen zwei und drei Jahre alt waren, konnte die Familie endlich in ein eigenes Haus in Ängby ziehen.
Mittlerweile waren die Jungen ausgeflogen.
Aus dem Nest.
Von Zeit zu Zeit erfüllte es Berit mit Trauer, sie nicht mehr bei sich zu haben. Sie waren jetzt erwachsene Männer und verloren für sie, für immer.
Sie verließ den Verlag an diesem Tag schon um vier. Auf dem Heimweg kaufte sie zwei Scheiben Rinderfilet und eine Flasche schweren Rotwein. Tor war noch nicht heimgekommen, und sie deckte im Esszimmer, mit Kerzen und Stoffservietten.
»Er wird glauben, es gäbe etwas zu feiern«, dachte sie grimmig.
Als sie hörte, wie er in die Garage fuhr, gab sie Butter in die Bratpfanne und entkorkte den Wein.
Jetzt öffnete er die Haustür und hängte seinen Mantel auf, sie hörte das Plumpsen seiner Schuhe, als er sie aufschnürte und gegen die Wand schob. Er stand in der Küche, sah abgekämpft aus.
»Ich fand, wir sollten uns einmal etwas gönnen«, sagte sie.
»Aha. Warum?«
»Warum nicht?«
»Ist etwas Besonderes? Hat einer Geburtstag oder so?«
»Nicht dass ich wüsste, man wird doch wohl noch das Recht haben, sich an einem gewöhnlichen Donnerstagabend etwas zu gönnen, meinst du nicht?«
»Tja.«
Während des Abendessens schwiegen sie. Berit trank von dem Wein, der ihr sofort zu Kopf stieg und sie benebelte.
»Was ist los mit dir?«, fragte er.
»Was soll schon los sein mit mir?«
»Du hast doch was, das sehe ich.«
»Tor. Sag mir ehrlich, findest du mich begehrenswert?«
»Berit!«
»Nun sag doch. Bin ich das? Begehrst du mich, wirst du geil, wenn du mich ansiehst?«
Er schob seinen Teller zur Seite.
»Warum fängst du gerade jetzt davon an?«
»Ich fange nichts an. Ich stelle dir eine klare Frage und will eine klare Antwort. Ist das so verdammt schwierig?«
»Du bist doch meine Frau.«
»Eben deshalb.«
Sie stand auf und ging um den Tisch, stellte sich hinter ihn und nahm seinen Kopf. Er hatte eine kahle Stelle auf dem Scheitel bekommen, dort streichelte sie ihn, ließ dann die Hände abwärts gleiten, den Ärmeln seines Hemds folgen, zu seiner Mitte.
»Berit«, sagte er. »Wir essen gerade!«
Am Samstag nahm sie die U-Bahn nach Hässelby. Es war etwas Besonderes, U-Bahn an einem Tag zu fahren, der kein normaler Arbeitstag war. Ganz andere Fahrgäste, viele Kinder mit ihren Eltern, helle Wagen, andere Farben, andere Geräusche. Es fiel einem viel mehr auf, wie heruntergekommen und schmutzig alles aussah. Der Boden des Wagens war mit Dreck und einer ausgelaufenen Flüssigkeit beschmiert, mehrere Sitze waren schwarz bemalt worden.
In der Nacht war Schnee gefallen, Schnee, der liegen blieb. Sie stieg an der Endhaltestelle aus, und die Erinnerungen kehrten zu ihr zurück, die Erinnerungen an ihre Jugendzeit. Als sie zur Bushaltestelle ging, fiel ihr auf, dass man vor der U-Bahnhalle umgebaut und alles freundlicher gestaltet hatte. Der Lebensmittelladen war verschwunden, stattdessen befand sich dort jetzt ein Supermarkt mit schreiend roten Sonderangebotsschildern.
Sie hatte vorgehabt, zum Friedhof zu gehen, aber weil der Bus nun einmal dastand, fuhr sie die wenigen Haltestellen. Die Sonne glitzerte auf der Schneedecke, ließ ihre Augen tränen. Sie hätte eine Sonnenbrille mitnehmen sollen!
Der Friedhof sah idyllisch aus, fast ländlich mit seinen schneebeschwerten Grabsteinen und den Blaumeisen, die in den Ästen hingen. Rechter Hand der kleinen Kapelle lag ein Haufen schneebedeckter Kränze. Der Freitag war ein typischer Beerdigungstag. Beide Eltern waren an Freitagen beerdigt worden, zuerst die Mutter, zwei Jahre später ihr Vater.
Abgesehen von vereinzelten Autos, die oben auf dem Sandviksväg vorbeifuhren, war es hier still und friedvoll. Der Friedhof ist die Ruhestatt der Toten, so pflegte es am Eingang zu stehen, hier durfte man nicht stören und keinen Streit vom Zaun brechen. Davon hatten die Toten in ihrem Leben schon genug abbekommen. Nun hatten sie das Recht, in Ewigkeit zu ruhen.
Sie war allein. Sie sah sich um, in einem der Mietshäuser an der Fyrspannsgata war die junge Tochter eines Arztes von einem Psychopathen gefangen gehalten worden. Das mochte jetzt wohl ein Jahr her sein. Sie erinnerte sich plötzlich an eine Reihe von Details. An einem dieser Fenster hatte das junge Mädchen gestanden und hinausgeschaut, gehofft, jemand würde sie sehen und auf sie aufmerksam werden. Aber wer wird schon aufmerksam, wenn ein Mädchen an einem Fenster steht? Nicht einmal, wenn sie geschrien und um Hilfe gerufen hätte, wäre sie beachtet worden.
Wie war es diesem armen Mädchen seitdem ergangen? Den Zeitungsberichten zufolge war sie mit dem Leben davongekommen, aber was war mit ihrer Psyche? Die dürfte doch für immer Schaden genommen haben?
Berit fragte sich, welches Fenster es wohl war. In den Boulevardzeitungen hatte es bestimmt Bilder des Hauses gegeben, auf denen das Fenster eingezeichnet war. Bestimmt waren Schaulustige dorthin gepilgert, um zu gaffen. Um den Versuch zu machen, sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der in den Händen eines Verrückten ist.
Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: ein Buch über dieses Mädchen zu machen. Sie zu überreden, eine Art Tagebuch über diese furchtbare Zeit als Eingesperrte zu schreiben. Sie wunderte sich, dass Melin & Gartner das noch nicht gemacht hatten, das war doch sonst ein Verlag, der immer auf Draht war. Verbrecher und ihre Opfer, suspekte Gestalten, das ließ sich verkaufen.
Jetzt stand sie also doch da und dachte schon wieder an ihren verdammten Job! Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun!
Suchend ging sie den geräumten und gestreuten kleinen Weg hinab. Hinten links lag es, das Familiengrab, das wohl kaum mehr als zwei Personen beherbergen würde. Familiengrab, so etwas hatte es früher einmal gegeben, als die Leute noch zu Hause blieben.
Das Grab war verschneit. Mit den Handschuhen fegte sie den Stein sauber und sprach die Namen der beiden Menschen aus, die ihre Eltern gewesen waren. Es versetzte ihr einen Stich, sie sollte wirklich etwas öfter herkommen.
Sie hatte Grablichter gekauft, für jeden der beiden eins.
»Eins für Mama und eins für Papa«, flüsterte sie, während sie versuchte, die beiden Dochte anzuzünden, was schwerer war, als sie gedacht hatte. Der kleinste Lufthauch ließ das Streichholz wieder erlöschen. Dabei war es so gut wie windstill.
»Ich denke auf jeden Fall an euch«, flüsterte sie. »Auch wenn es nicht immer danach aussieht, auch wenn ich nicht so oft herkomme. Ich denke manchmal an euch, das wisst ihr doch hoffentlich. Könnt ihr mich jetzt sehen, bewegt ihr euch jetzt über mir, unsichtbar, haltet ihr ein wachsames Auge auf mich? Gerade im Moment würde ich mir wünschen, dass ihr das tätet.«
Sie waren beide an Krebs gestorben. Ihr Vater war Kettenraucher gewesen, seine mühsamen Atemzüge standen ihr noch vor Augen, sein Kratzen am Hemdkragen, wenn er nicht genügend Luft bekam.
»Was immer du tust, Mädchen, fange nie mit dem Rauchen an«, hatte er ihr gesagt. Jedes Mal, wenn sie ins Krankenhaus kam, hatte er seine Worte wiederholt, »fange nie mit dem Rauchen an!«
Er wusste nicht, dass sie bereits angefangen hatte. Nicht einmal der Anblick der ausgemergelten Gestalt dort auf dem Bettlaken konnte sie dazu bewegen, wieder aufzuhören.
Ihre Mutter hatte Hautkrebs gehabt, die gleiche Krankheit, an der Tage Danielsson, der Kabarettist, irgendwann in den achtziger Jahren gestorben war.
Sie waren schon alt, als sie Berit bekamen, so alt, wie sie selbst heute war. Sie hätten ebenso gut an Altersschwäche sterben können. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie glaubte, unfruchtbar zu sein. Aber als sie eine ganze Woche lang jeden Morgen das Frühstück wieder erbrach, musste sie einsehen, dass sie es nicht war.
Berit verließ das Grab mit den beiden Kerzenflammen, die in der Januarsonne kaum zu erkennen waren. Sie folgte dem Hässelby Strandväg und ging an dem Haus vorbei, in dem sie aufgewachsen war. Es hatte sich nicht verändert. Sie fragte sich, wer jetzt dort wohnte, aber es regte sich nichts, der Gang zur Haustür war weiß und nicht freigeschaufelt.
Hier war sie als Kind täglich gegangen, auf ihrem Weg zur Schule, die ein ganzes Stück entfernt lag. Es waren mehr Häuser geworden, ansonsten schien die Zeit hier seltsam stillzustehen. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihren früheren Klassenkameraden, erinnerte sich kaum noch an ihre Namen.
Der Mälarsee lag ruhig da, es dampfte leicht von seiner Oberfläche. Sie sehnte sich nach Eis, danach, sich die Schlittschuhe anzuziehen und geradewegs auf den Horizont zuzulaufen. Fort von allem, was sie umgab, vom Alltag, den Menschen, fort von sich selbst. Plötzlich fror sie an den Händen und merkte, dass sie ihre Handschuhe am Grab vergessen hatte.
Sie stand vor einem schmalen und hohen Steinhaus. Sie erinnerte sich an den Anblick dieses Hauses, sie war ein Kind.
Justind verschwind, Justind verschwind!
Ein Chor aus hellen Stimmen, und sie war ein Teil dieses Chors, und ihre Stimme war eine von denen, die sangen.
Justein, herein, Justind verschwind, Justein herein und pisse fein.
Es rauschte ihr in den Ohren, ihr wurde schwindlig.
Eine Frau stand auf der Treppe. Sie hatte kurze, lockige Haare, trug eine geblümte Hose. Eine Frau stand auf der Treppe, und etwas an dieser Frau kam ihr bekannt vor. Berit hob den Arm.
»Justine?«, sagte sie zögernd. »Ist das denn die Möglichkeit? Bist du es wirklich, Justine?«
Da kam die Frau ihr entgegen, und ihre Augen waren grün und ihr Blick direkt.
»Berit Blomgren! Wie eigenartig! Ich habe gerade an dich gedacht.«
Die Worte hallten ihr entgegen.
»Hast du?«, flüsterte sie.
Die andere lachte.
»Ja!«, rief sie. »Stell dir vor, das habe ich getan.«
»Ich heiße jetzt allerdings Assarsson ...«
»Aha. Ja natürlich, du bist bestimmt verheiratet.«
»Genau.«
»Ich war gerade dabei, den alten Tretschlitten rauszuholen. Du weißt schon, so einen, der vorne eine Ladefläche hat und bei dem man sich hinten auf die Kufen stellen kann. Man hat ja nicht mehr so oft Gelegenheit, ihn zu benutzen. Aber jetzt scheint es tatsächlich Winter zu werden.«
»Wir hatten alle Tretschlitten, als wir klein waren. Ich bekam einen roten, den Papa selbst gestrichen hatte.«
»Ich hatte nur einen ganz gewöhnlichen, lackierten. Er steht da draußen im Schuppen. Aber möchtest du nicht auf einen Sprung reinkommen, du siehst aus, als würdest du frieren.«
»Ja ... warum nicht? Ich bin auf dem Friedhof gewesen. Ich muss meine Handschuhe dort vergessen haben.«
»Möchtest du ein bisschen Glühwein, ich habe von Weihnachten noch eine Flasche übrig.«
»Glühwein? Ja, das wäre jetzt genau das Richtige, das wärmt einen von innen.«
Die Sonne flutete über den Fußboden. Berit trank von ihrem Glühwein und spürte, wie die Wärme zurückkehrte. Justine saß, das Kinn in die Hände gestützt, vor ihr und sah sie an. Ihr Gesicht war rund und weiß, sie hatte heute weniger Sommersprossen als früher. Sie war von Sommersprossen übersät gewesen.
»Wie viele Jahre ist das jetzt her ...«, murmelte Berit, »seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
»Das war 1969, als wir mit der Realschule fertig waren.«
»Ja ... Da muss es wohl gewesen sein.«
Sie dachte eine Weile nach.
»Mein Gott, das ist ja fast dreißig Jahre her!«
»Ja.«
»Hast du hier ... Du bist anscheinend hier geblieben, im Haus deiner Eltern?«
»Ja.«
»Hast du die ganze Zeit hier gewohnt?«
»Ja.«
»Sind sie tot ... Ja, ich erinnere mich, dass ich es in der Zeitung gelesen habe, als dein Vater gestorben ist. Da stand ziemlich viel über ihn drin.«
»Stimmt. Papa ist tot. Flora ist in einem Pflegeheim.«
»Flora, ja ... So hieß sie, deine Mama. Ich fand immer, dass es ein unheimlich schöner Name war. Sie war auch sehr schön, sie roch so gut.«
»Sie war nicht meine richtige Mama.«
»Nein, ich weiß.« Sie trank noch einen Schluck Glühwein, er war stark und würzig.
»Meine Eltern liegen hier auf dem Friedhof begraben. Sie waren schon ziemlich alt, du erinnerst dich vielleicht. Ich blieb nicht sehr lange hier. Ich wollte weg. Außerdem traf ich recht früh meinen Mann, Tor heißt er, er ist Wirtschaftsprüfer. Klingt ziemlich trocken, nicht wahr?«
Justine lächelte.
»Nimm noch etwas Glühwein, wir können die Flasche ruhig leer machen, Weihnachten ist ja eh vorbei.«
»Skål.«
»Skål. Auf unser Wiedersehen.«
»Aber, sag mal ... Warum hast du denn gerade heute an mich gedacht? Das kommt mir so komisch vor. Ausgerechnet an einem der ganz seltenen Tage, an denen ich einmal nach Hässelby komme, ja, da denkst du an mich, und dann treffen wir uns auch noch rein zufällig.«
»So zufällig war es nun auch wieder nicht, du bist immerhin hierher gekommen.«
»Stimmt ... Aber ich lief mehr herum und versuchte, ein wenig nostalgisch zu werden.«
»Die fernen Kindertage.«
»So ungefähr, ja.«
»Hast du Kinder, Berit?«
»Ja, zwei Jungs, einundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt. Sie sind von zu Hause ausgezogen, wir sind jetzt allein, Tor und ich. Jetzt haben wir endlich einmal Zeit füreinander, wie man so sagt. Und du?«
Justine schüttelte den Kopf.
Dann steckte sie die Finger in den Mund und pfiff kurz und durchdringend. Irgendwo hinter ihnen begann ein Rauschen, das Zimmer schien zu schrumpfen, es zischte und heulte, etwas Scharfes landete auf Berits Kopf, etwas, das sich in ihrem Haar verfing.
»Oh, mein Gott, was ist das!«
Sie schrie und fuhr hoch, so dass sie ihr volles Glas Glühwein über ihre Hose verschüttete.