Читать книгу Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 13
7. KAPITEL
ОглавлениеIm Wald lag ein Tier. Es sah aus wie ein Hund.
Erst sah sie nur den Kopf, der Rest waren Blätter und Moos. Sie sah nur den Kopf, bekam aber keine Angst, ungesehen lief sie zum Haus zurück.
Am Kellerfenster fand sie die Schüssel, in der Flora die Wäscheklammern aufbewahrte. Sie kippte die Klammern in der Ecke aus, füllte die Schüssel mit Wasser und lief zurück.
Das Tier trank. Ein Teil rann ins Moos, aber seine Kehle bewegte sich und schluckte, sie sah, dass das Tier durstig war, dass es lange nichts getrunken hatte.
War es ein Hund? Sie berührte den verfilzten Pelz. Da kräuselte sich die Schnauze, ein Fletschen gelber Zähne.
Das Tier trug kein Halsband.
Der Körper inmitten von Moos und Preiselbeerkraut war zart und rot.
»Du kannst nicht mit zu mir nach Hause«, sagte Justine. »Es wohnt eine Hexe in unserem Haus. Ich will nicht, dass ihr Blick dich trifft. Aber ich werde herkommen, ich werde dafür sorgen, dass du etwas zu essen und zu trinken bekommst, das verspreche ich dir.«
Es hatte ein kräftiges Genick, sie gab ihm einen Namen.
Sie sagte seinen Namen so laut sie sich traute, aber es bewegte seinen Körper nicht, und der Schwanz lag im Moos.
Am nächsten Tag nahm sie Fleisch mit. Ohne dass Flora etwas davon merkte, nahm sie ein Stück ihres Koteletts von ihrem Teller herunter und wickelte es in ein Taschentuch.
Das Tier lag da wie zuvor.
Sie konnte seine Augen nicht länger sehen.
Als sie den Fleischbissen an seine Schnauze hielt, fuhr die Zunge ein wenig heraus.
Aber es aß nicht.
Dann sah sie es nie wieder.
Papa kam am Abend zu ihr.
»Wollen wir dein Abendgebet sprechen?«
»MüdebinichgehzurRuh, schließebeideÄugleinzu,
VaterlassdieAugendein, übermeinemBettesein,
HabichUnrechtheutgetan, sieheslieberGottnichtan,
DeineGnadundJesuBlut, machenallenSchadengut,
allediemirsindverwandt, GottlassruhnindeinerHand.«
Er beugte sich zu ihr herab, küsste sie unter dem Ohr.
»Und an wen denken wir beide jetzt? Nur wir zwei?«
»An Mama«, flüsterte sie.
Sein Gesicht war lang und traurig.
»Ich muss dir leider noch sagen, dass ich morgen nicht da bin, wenn du wach wirst.«
Sie war mit einem Satz aus dem Bett.
»Doch!«, schrie sie.
»Justine ...«
Er flehte, was sie sehr wütend machte.
»Du sollst aber hier sein!«
»Ich muss in die Schweiz reisen.«
Er senkte die Stimme.
»Du weißt doch, in die Nähe von da, woher deine Mama kam.«
»Dann will ich mitkommen.«
»Mein liebes Kind, das geht leider nicht, das verstehst du doch. Ich reise geschäftlich dahin, und du musst in die Schule. Ich habe meine Arbeit, du hast deine Schule, wir alle haben unsere täglichen Pflichten.«
Sie schlug seine Hände, schlug seine dummen Beine.
Er legte sie ins Bett und ging nach draußen.
Am Morgen war er abgereist.
Sie dachte an das Tier. Das Tier könnte ihre tägliche Pflicht sein.
Aber Flora holte sie von der Schule ab. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Flora trug ihr schwarzes Kleid und die Perlenkette. An ihrem Handgelenk baumelte eine Handtasche an einer Messingkette.
»Wir fahren nach Vällingby«, sagte sie. »Wir gehen in eine Konditorei.«
Sie begannen, den Hügel hinabzugehen.
»Guck doch mal etwas fröhlicher, Kindchen! Wenigstens einmal!«
Flora hielt sie an der Hand, trippelte mit kurzen Schritten, so wie Tanten trippeln, wenn sie schön sein wollen.
Flora war schön.
»Erzähl doch mal, was ihr heute in der Schule gemacht habt«, sagte sie.
»Ich weiß nicht.«
»Natürlich weißt du das.«
»Wir haben gelesen, glaube ich, und gerechnet.«
Ihre Hand fest um Justines Finger.
»Gelesen und gerechnet, glaube ich!«
Justine musste mal Pipi. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber Flora würde es nicht gefallen, wenn sie das tat. Flora war jetzt ihre Mama, und sie war ihr Kind.
In Vällingby ging Flora in Geschäfte. Justine durfte ihre Tasche halten, während sie hinter verschiedenen Vorhängen verschwand.
Ein nackter Arm, der auftauchte.
»Fräulein, das hier ist viel zu groß. Wollen Sie bitte so freundlich sein und mir stattdessen eins in Größe 34 bringen.«
Das Stolzieren der Verkäuferinnen, wie sie ihr um den Bart gingen und Sachen herbeitrugen. Sie kam in neuen Kleidern heraus, schritt durch die Boutique und präsentierte sich.
»Und, Justine, was meinst du? Soll ich es nehmen? Glaubst du, es würde Papa gefallen, mich hierin zu sehen?«
Erst jetzt schien sie von ihnen wahrgenommen zu werden. Sie setzten ein freundliches Gesicht auf – ist sie nicht fein, deine Mama!
In der Konditorei durfte sie endlich Pipi machen.
Als sie zurückkam, hatte Flora bereits bestellt, Limonade und einen Bienenstich.
Sie selbst aß nichts, trank nur Kaffee aus einer sehr kleinen Tasse.
Auf den Tischen lagen karierte Tischdecken. Der Raum war sehr verraucht. Am Nebentisch saß ein Kind in Justines Alter zusammen mit einer älteren Frau, die gerade ihr Taschentuch mit Speichel befeuchtete und dem Kind den Mund abwischte.
»Oma!«, sagte das Mädchen, aber ohne sich zu wehren.
Sie biss in ein Teilchen, und als niemand hinguckte, streckte sie Justine die Zunge raus, die voller Teigklümpchen war.
Floras roter Nagel.
»Jetzt iss schon, Justine! Iss!«
An einem anderen Tisch, ein Mann mit einer Zeitung. Er schaute in ihre Richtung. Er lächelte Justine an und blinzelte ihr zu, sein Haar wie ein glänzend schwarzer Kuchen.
Als Flora eine Zigarette aus der Packung schüttelte, war er unverzüglich zur Stelle und hielt ein Feuerzeug bereit.
Sie beugte gnädig den Nacken.
»Iss, Justine!«, wiederholte sie. »Du musst aufessen, ich warne dich, lass bloß nichts übrig, ich kaufe doch keine Teilchen, nur damit du die Hälfte liegen lässt.«
»Kinder sind schon lustig«, sagte der Mann.
Flora stieß Rauch aus. Ihre Lippen hinterließen rote Spuren auf der Zigarette.
»Manchmal sind sie gar nicht lustig!«, sagte sie.
Justine aß in kleinen, kleinen Bissen. Die obere Schicht hatte sie zuerst gegessen. Der Rest lag auf dem Teller wie ein fettiger und sahniger Brei.
Sie dachte an das Tier. Sie würde heute nicht zu ihm gehen können.
Der Mann hatte inzwischen seinen Stuhl ein wenig in Richtung ihres Tisches gezogen. Das Mädchen und seine Oma waren gegangen.
»Kannst du singen?«, fragte der Mann und lächelte Justine wieder an. Seine Lippen waren trocken und schmal. Sein Schlips saß mit Hilfe eines dunkelgrünen Steins, dessen Farbe sich veränderte, sobald der Mann sich bewegte.
Sie starrte ihren Löffel an. Der ganze Stiel war klebrig.
»Alle Mädchen können singen«, fuhr der Mann fort.
Flora begann zu kichern, sie klang wie ein Kind, babykleine, weiße Zähne.
»Wenn du singst, bekommst du eine Krone«, sagte der Mann und legte seine Hand auf den Tisch, kurze schwarze Haare, die Nägel breit und flach. Er trommelte einen Moment lang mit den Fingerspitzen.
»Kleine!«
Floras Eisenklammer um ihren Kiefer, ihre Haut, die zusammengepresst wurde.
»Jetzt zeig dem Onkel doch mal, dass du wirklich singen kannst!«
Sie wand sich aus ihrem Griff.
»Wie heißt sie?«
»Justine.«
»Komischer Name.«
»Französisch.«
»Dann versteht sie vielleicht gar nicht, was wir ihr sagen?«
»Sie hat die Fähigkeit, einfach abzuschalten. Aber sie versteht natürlich alles. Und wenn sie nicht augenblicklich aufisst, dann weiß sie, was sie erwartet, wenn wir nach Hause kommen.«
»Und was erwartet sie dann, junge Frau?«
»Sie bekommt eine Tracht Prügel.«
»Von Ihnen?«
»Von mir, ja!«
»Dann sind Sie also eine ganz Strenge, junge Frau?«
»Das bin ich, ja!«
»Sind Sie vielleicht auch von da?«
»Wie bitte?«
»Sind Sie selbst auch Französin?«
Flora kicherte wieder. Sie sagte einen Namen, es klang wie Bertil. Inzwischen hatte der Mann seinen Stuhl zwischen Floras und Justines geklemmt. Er saß jetzt so nah, dass Justine sein Rasierwasser riechen konnte. Es war stark, stärker als Parfüm, ihre Nase begann zu jucken und zu laufen.
»Schüstinn«, sagte er.
Sie wagte nicht, ihn anzusehen, schaute stattdessen auf ihren Teller hinab, das geflochtene Blattmuster, den Teig.
»Isst du jetzt bald mal!«
Floras Porzellanaugen, ihre Wimpern waren lang und in mehreren Schichten geschminkt. Jeden Morgen stand Flora im Badezimmer und bestrich sie mit Hilfe einer kurzen und kräftigen Bürste mit Farbe.
»Ich ... kann nicht mehr!«
Die Worte kamen in Form eines Schreis, das hatte sie nicht gewollt, sie hatte flüstern wollen, aber der Schrei hatte sich einen Weg in ihr gebahnt und war aus ihr herausgeplatzt. Tränen brannten auf ihrer Hand, ihr Mund verharrte noch im Schrei, der in lauthalses Weinen überging.
Flora schlug sie. Mitten in der Konditorei gab Flora ihr eine Ohrfeige. Das Weinen hörte auf, wurde schlagartig abgeschnitten.
»Justine neigt zur Hysterie«, sagte Flora, und ihre Lippen waren rot und hatten auch auf der Kaffeetasse ihre Spuren hinterlassen.
»Ihre französischen Nerven?«, sagte der Mann, einen Akzent nachahmend.
Floras kurzes, neuerliches Lachen, dumpf und gurrend.
Auf dem Heimweg nahmen sie ein Taxi, der Rücksitz war voller Tüten. Der Taxifahrer machte Scherze über die Tüten, haben Sie vorgehabt, ganz Vällingby leer zu kaufen, meine Dame? Flora ging auf seine Scherze ein. Der Duft des Manns war ihnen bis in das Auto hinein gefolgt.
Daheim packte sie alle Kleider aus und hängte sie im Schlafzimmer auf Bügel. Es waren zwei Kleider, eine Bluse und ein Rock. Ihre Bewegungen waren ruckartig. Sie zerrte eins der Kleider wieder herunter und warf es auf das Bett.
»Warum habe ich das bloß gekauft! In diesem Licht sieht man doch, dass es überhaupt nicht zu meinem Teint passt. Jetzt kann ich mich überhaupt nicht mehr darüber freuen. Das ist deine Schuld, Justine, wegen dir habe ich jetzt schlechte Laune. Du bist verzogen und verwöhnt.«
Und sie packte Justine an den Handgelenken und wirbelte sie herum, immer wieder herum, in einem immer rasenderen Tempo. Vollkommen gestreckt war ihr Körper, das Hirn fuhr ihr in die Füße, die Übelkeit war wie eine Welle. Ihre Beine schlugen hart gegen das Kopfende des Betts, Flora verlor die Balance und fiel hin. Justine lag an der Wand, die Knie ganz dicht an der Wandleiste.
Flora brachte sie in den Keller. Sie ließ Wasser in den Waschzuber ein, Justine saß auf der Bank, in Unterhose und Unterhemd.
»Weißt du, wie man die Wäsche sauber bekommt? Hast du mich beim Waschen gesehen? Hast du gesehen, dass ich die Wäsche koche, damit sie richtig sauber wird. Aber erst lasse ich sie einweichen.«
Und ihre kalten Fingerspitzen hoben Justine über den Rand. Sie saß jetzt im Waschzuber, das Wasser bis zum Bauch. Sie schlang die Arme um ihre Beine, drückte sie gegen den Nabel.
Flora war gegangen. Sie war die Kellertreppe hochgestöckelt und Justine hatte gehört, wie sie den Schlüssel zweimal umdrehte. Als Justine vorsichtig ihre Stellung änderte, platschte das Wasser gegen die verbeulten Seiten des Waschzubers.
Das Wasser war jetzt kalt. Aber wenn Flora nun zurückkam und Feuer machte? Welche Temperatur konnte sie aushalten? Würde sie wie die Hechte werden, die mit weißen Augen auf der Servierplatte lagen? Würde ihr Fleisch die gleiche Farbe annehmen und so lose werden, dass man es vom Skelett abheben konnte?
Das würde Flora nicht tun, sie würde es nicht wagen.
Einmal, als Papa verreist war, hatte Flora sie bis spät nachts im Keller gelassen. Sie war in ihrem Morgenrock heruntergekommen, hatte mit der Streichholzschachtel gewedelt, sie aber schließlich weggelegt. Dann hatte sie das Wasser abgelassen und Justine auf ihren Schoß genommen. Die Füße waren aufgequollen und runzelig gewesen, die Zehennägel fühlten sich an, als würden sie sich lösen.
Flora war mit einem Handtuch und Justines Schlafanzug gekommen. Sie hatte Justine im Keller abgetrocknet und ihr den Schlafanzug angezogen. Dann hatte sie Justine die ganzen Treppen hochgetragen und bei sich ins Bett gelegt, die Decke über sie beide gezogen. Floras Arm hatte auf Justines Brustkorb gelegen, und Justine hatte Floras knochiges Becken die ganze Nacht an ihrem Rücken gespürt.
Wenn sie ganz still saß, hatte sie das Gefühl, Stimmen zu hören. Sie dachte, dass Papa nach Hause gekommen war und jetzt sehr wütend werden würde. Dann verstummten die Stimmen.
Sie konnte zwar aus dem Zuber klettern, aber nicht auf den Fußboden kommen. Dazu musste sie erst noch etwas wachsen. Sie sah, wie eine Spinne über die Wand lief. Sie hatte Angst vor Spinnen, und sie starrte die Spinne an, bis sie die Richtung wechselte und in ihrem Schlupfloch verschwand. Ihr Schienbein, das gegen das Bett geschlagen war, als Flora sie herumschleuderte, tat ihr weh. Flora behauptete, dass es Menschen, die zu Hysterie neigten, gut tat, ordentlich herumgeschleudert zu werden. Einmal packte sie Justine an den Fußgelenken und wirbelte sie herum, bis ihr schwarz vor Augen wurde.
»Das haben die Ärzte früher mit allen gemacht, die krank im Kopf waren. Das Blut wird ins Gehirn geschleudert, damit mehr Sauerstoff hineingelangt. Es hilft auch, sich zu erbrechen, dann kommt die Verrücktheit heraus. Ich würde dich noch viel länger herumwirbeln, wenn ich könnte. Du bist so schwer geworden.«
Papa kam von seiner Reise zurück. Er schenkte ihr ein Instrument, glänzend wie Gold und mit Quasten versehen.
»Wenn du groß bist, kannst du ein ganzes Orchester gründen.«
Sie sollte sich mit dem Instrument draußen aufhalten, ganz hinten im Garten. Sie blies hinein, und es kamen Töne. Ihr Vater kam herunter und hörte zu. Er rief Flora, und sie standen unter dem Apfelbaum und hörten, wie sie in das goldene Horn blies.
»Das ist weiß Gott nicht leicht, sie ist offensichtlich begabt. Hörst du? Ich werde dafür sorgen, dass sie Unterricht bekommt.«
»Mädchen spielen doch nicht Trompete!«
»Das ist ein Horn, Flora, ein altes Posthorn aus Luzern.«
Weder ihm noch Flora gelang es, dem Horn Töne zu entlocken. Justine setzte nochmals an, ihre Lippen wurden taub.
Papa gelang es, einen Haken über ihrem Bett festzuschrauben. So etwas konnte er nicht gut, er wurde stets gereizt, wenn er Schrauben anbringen und Nägel einschlagen musste. Aber jetzt hing das Horn an seinem roten Seidenband an der Wand.
Die Sache mit dem Unterricht vergaß er wieder. Justine erinnerte ihn von Zeit zu Zeit daran, oh, sagte er jedes Mal, das habe ich ja völlig vergessen. Sie stand meistens unten am Ufer und blies das Horn. Sie sah sich selbst in Jacke und kurzem Faltenrock bei einer Parade. Die Straßen der Stadt waren abgesperrt. Justine ging voran, die anderen Musiker folgten ihr wie Ratten.