Читать книгу Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 9

3. KAPITEL

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Nathan hatte die grüne Militärhose getragen, sie war viel zu dick dort im Dschungel, aber das hatte er nicht gewusst, als er sie kaufte, er fand einfach, sie sei praktisch und billig. Preiswert hatte er gesagt, Justine erinnerte sich genau an dieses Wort. Niemand sah, als er fortging, um für einen Moment seine Ruhe zu haben, niemand außer ihr.

Wahrscheinlich schrie er, als der Pfeil ihn traf. Wahrscheinlich schrie er, vor allem aus Überraschung, vielleicht tat es aber auch ein wenig weh. Er fiel im gleichen Augenblick, und unter ihm waren die Stromschnellen und die Wasserfälle, sie schluckten jeden Laut und hatten so viel Kraft, dass alles, was sie mitrissen, zerschmettert wurde.

Manchmal meinte sie, diesen Schrei zu hören. Sie war jetzt daheim, wieder daheim in ihrem Haus, aber dennoch. Und sobald sie diesen Schrei hörte, sah sie auch den Körper, wie er sich im Fallen einmal um sich selbst drehte, sah seine Arme und seine Hände, die sie geliebt hatte.

Ihr Haus war schmal und hoch, auf fast schon holländische Art. Ursprünglich war es nur zweigeschossig gewesen, also hatte Papa das Dachgeschoss ausbauen lassen, um etwas mehr Platz zu schaffen. Aber dann kam es doch nie dazu, dass sie dort oben saßen, im Sommer war es oft zu heiß und im Winter zu kalt.

Ihr Vater hatte keine praktische Veranlagung. Er hatte Handwerker beauftragt, junge Männer in Latzhosen, sie waren die Treppen rauf- und runtergerannt und hatten ihre Lippen lautlos zu eindeutigen Angeboten geformt, wenn sie im Nachthemd herausgekommen war.

Sie hatte krank im Bett gelegen, dagelegen und auf ihre Schritte und das Hämmern gelauscht, und ganz allmählich wurde ihr klar, dass sie kein kleines Mädchen mehr war.

In der hintersten Ecke des Kellers befand sich die Ölheizung. Der Tankwagenfahrer meckerte andauernd, wie schwierig es sei, an die Heizung heranzukommen, wenn er Öl liefern sollte, das Haus liege zu nah am Ufer, es sei praktisch unmöglich, Schläuche zu haben, die lang genug seien. Papa bestach ihn regelmäßig mit einer Flasche Whisky, eine Tradition, die Justine übernommen hatte. Natürlich war es nicht mehr der gleiche Lieferant. Ihrer war verknöchert und reizbar. Er sprach einen Dialekt, der es ihr sehr schwer machte, zu verstehen, was er sagte. Sie hatte das Gefühl zu schrumpfen, sobald sie das Motorengeräusch des großen Tanklastwagens hörte. Eine Zeit lang erwog sie, auf Öl zu verzichten, wusste aber nicht, wie sie sonst das Haus hätte heizen sollen. Es gab zwar einen offenen Kamin im zweiten Stock, aber sie ging davon aus, dass er nicht reichen würde. Die beißende Kälte setzte sich vom See herkommend in die Wände und in den Boden.

Außerdem war sie nur einmal im Jahr gezwungen, dem Tankwagenfahrer zu begegnen. Sie stellte die Whiskyflasche jeweils vor das Kellerfenster, verziert mit einem gekräuselten Papierband.

»Vielen Dank für das Öl«, schrieb sie auf einen kleinen Zettel, auf den sie die Flasche stellte. Der Zettel lag anschließend immer noch da, und die Tinte hatte begonnen, sich aufzulösen.

Im Keller stand auch jener altertümliche Waschzuber, den Flora unbedingt weiterbenutzen wollte. Zweimal im Monat machte sie dort unten große Wäsche, Tage, an denen sowohl Justine als auch ihr Vater schlechter Laune waren. Flora machte sich dann hässlich, und es hatte den Anschein, als genieße sie es geradezu, sich in ein abstoßendes Waschweib zu verwandeln. Sie band sich ein Tuch um die Haare und trug jenen nach Staub stinkenden, gemusterten Kittel, an dem mehrere Knöpfe fehlten. Sie durchlief eine Art umgekehrter Aschenputtelverwandlung, und ihre Finger hinterließen brennende, feuchte Abdrücke auf Justines Wangen.

Der Flur war winzig, aber trotzdem mussten sie hier ihre Hüte und Mäntel aufbewahren. Überhaupt gab es nur wenig Kleiderschränke. Als Erwachsene hatte sie sich manchmal darüber gewundert, dass sich Papa, bei seinem Vermögen, dazu entschlossen hatte, in einem so kleinen Haus zu bleiben, selbst wenn es direkt am Mälarsee lag. Es hatte etwas mit ihrer Mutter zu tun, mit etwas Nostalgischem.

Justine hatte Floras Mäntel und den Blaufuchspelz weggeräumt, alles in große Plastiksäcke gestopft, Papas Lodenmantel, seine Mützen und Hüte hatte sie in einen anderen Sack gelegt. Sie war fest entschlossen gewesen, das Ganze zu Emmaus oder Humana zu bringen, aber in letzter Minute hatte sie es sich anders überlegt und die Sachen in den Keller getragen. Der Gedanke, irgendwo auf der Straße einer unbekannten Frau zu begegnen, die Floras Pelz trug, erfüllte sie mit großem Unbehagen, Es war, als würden die Augen ihrer Stiefmutter sie dann aus dem fremden Gesicht anschauen, sie zum Rückzug zwingen.

Gleich rechts vom Flur ging das blaue Zimmer ab, das sie als Esszimmer benutzt hatten. Alles war dort blau oder weiß, der dicke Teppichboden, die Samtvorhänge, das Fensterbrett mit den Usambaraveilchen und Browallia. Die Pflanzen hatten nicht überlebt. Sie hatte alle gut getränkt, bevor sie fuhr, und Tüten aus braunem Karton über sie gestülpt. Es hatte nichts genützt.

Der Vogel dagegen hatte keine Not gelitten. Sie ließ ihn auf dem Speicher hausen, dort konnte er sich nicht verletzen. Sie hatte ihm Schüsseln mit Körnern und Wasser und einen ganzen Korb mit geschälten Äpfeln hingestellt. Er hatte sich ein paar schöne Tage gemacht.

Sogar in der Farbgebung der Bilder dominierte Blau, Winterlandschaften, Segelboote und ein gewebter Wandbehang aus dünnen Seidenfetzen, der die ganze Schmalwand einnahm. Justines Mutter hatte ihn gewebt, lange bevor Justine geboren wurde. Er hatte immer dort gehangen, war wie ein Teil ihrer selbst.

An ihre Mutter erinnerte sie sich nur bruchstückhaft:

Ein prasselnder Regenschauer, ein Stück Stoff, unter dem sie und die Mutter zusammengekauert saßen, durchnässte Strümpfe, die sich an ihren Zehen festsaugten.

Ein Duft von pelzigen Blumen, etwas Heißes mit Honig.

Widerwillig hatte ihr Vater erzählt.

Sie war beim Fensterputzen. Es war das Fenster zum Wasser hin, im ersten Stock, an einem Tag mit scharfen Konturen aus grellem Sonnenlicht und dem sirrenden Gesang der Meisen. Windstill war es, das Eis lag noch in der Bucht, hatte aber begonnen, brüchig zu werden, und vielleicht freute sie sich darüber, vielleicht trällerte sie vor sich hin im flutenden Sonnenlicht, vielleicht hatte sie daran gedacht, anschließend, sobald sie fertig war, hinauszugehen und sich eine Weile auf den Balkon zu setzen, das Gesicht gen Himmel gewandt. Sie hatte dieses typisch nordische Ritual des Genießens sehr schnell übernommen. Sie stammte aus Annecy, einer kleinen Stadt in Frankreich in der Nähe der Schweizer Grenze, und er hatte sie gegen den Willen ihrer Eltern von dort als seine Braut entführt.

Es war ein Donnerstag. Er war sieben Minuten nach vier heimgekommen. Da lag sie auf dem Boden neben dem Fenster, die Arme ausgestreckt wie eine Gekreuzigte. Er sah sofort, dass nichts mehr zu machen war.

»Wie sieht man das?«, fragte Justine. Sie war in einer Phase, in der sie fast schon besessen war von dem Wunsch, so viel wie möglich über ihre Mutter zu erfahren.

Er konnte nicht antworten.

»Vielleicht hat sie doch noch gelebt. Wenn du sofort einen Arzt gerufen hättest, wäre sie vielleicht noch zu retten gewesen.«

»Mach mir bitte keine Vorwürfe«, sagte er, und es zuckte ein wenig um seine Mundwinkel. »Wenn du irgendwann selbst einmal einen Toten siehst, wirst du verstehen, was ich meine.«

Zuerst hatte er geglaubt, sie wäre von der Leiter gefallen und hätte sich etwas Lebenswichtiges gebrochen. Aber die Obduktion ergab, dass in ihrem Gehirn ganz einfach eine Ader geplatzt war, durch die ihr Leben verronnen war.

»Ein Aneurysma!«

Jedes Mal, wenn sie sich während Justines Kindheit darüber unterhielten, was geschehen war, sprach er das Wort langsam und überdeutlich aus.

Sie machte sich manchmal Sorgen, es könne erblich sein.

Sie fragte ihn nach sich selbst.

»Wo war ich denn, Papa, was habe ich gemacht?«

Er erinnerte sich nicht.

Sie war erst drei Jahre alt gewesen, als es geschah, drei Jahre und ein paar Monate. Wie reagiert eine Dreijährige darauf, wenn ihre Mutter von einer Leiter stürzt und stirbt?

Sie musste irgendwo im Haus gewesen sein, musste geschrien und geweint haben.

Auch wenn sie nicht verstanden hatte, was geschehen war, musste sie die vollkommene Verwandlung der Mutter entsetzt haben.

Ab und zu erwachte sie von einem Traum. Davon, dass ihr Stirnbein schmerzte wie nach langem und heftigem Weinen. Sie betrachtete sich dann im Spiegel und sah, dass die Augenlider geschwollen und die Augen glasig waren.

Fragmente einer Beisetzung, Fragmente aus Lehm und aus Blumen, die nie geduftet hatten.

Ein Vater, der auf dem Eis stand und schrie.

Im Album sah sie Bilder der Frau, die ihre Mutter gewesen war. Das fremde Gesicht ließ sie eigenartig kalt. Dichtes, nach hinten gekämmtes Haar, an den Seiten gelockt, Justine war ihr nicht einmal ähnlich.

Es lag eine Distanz in den Augen dieser Frau, die schlecht mit ihren eigenen Vorstellungen von ihr in Einklang zu bringen war.

Eine steile und enge Treppe führte in die obere Etage. Hier oben hatte die Mutter gestanden und Fenster geputzt. Links lagen die Schlafzimmer, rechts öffnete sich der Flur zu einem Wohnzimmer mit Aussicht auf die Lambarinsel und über den Mälarsee. Bücherregale bedeckten die Wände, nur wenige Möbelstücke: eine Musikanlage, ein länglicher Glastisch und zwei Sessel.

Sie gehörten Papa und Flora.

Justine waren mehrmals große Summen für das Haus geboten worden. Die Makler ließen nicht locker, stopften Prospekte in ihren Briefkasten, riefen sogar von Zeit zu Zeit an. Einer von ihnen war besonders aufdringlich. Er hieß Jakob Hellstrand.

»Sie könnten ein paar Millionen für den Kasten bekommen, Justine«, schwadronierte er und benutzte ihren Namen, als wären sie eng befreundet. »Ich habe einen Kunden, der das Haus umbauen will, er hat immer schon von dieser Lage geträumt.«

»Es tut mir Leid, aber ich glaube, daraus wird nichts.«

»Warum denn nicht? Denken Sie einmal darüber nach, was Sie für das Geld alles bekommen könnten. Eine allein stehende Frau wie Sie, Justine, Sie sollten nicht hier draußen in Hässelby hocken und verstauben, kaufen Sie sich stattdessen eine Wohnung in der Stadt und fangen Sie endlich an, richtig zu leben.«

»Sie wissen wohl kaum, ob ich richtig lebe oder nicht. Vielleicht tue ich das ja schon längst?«

Er lachte in den Hörer hinein.

»Ja, da haben Sie natürlich Recht. Aber geben Sie zu, Justine, geben Sie zu, dass ein bisschen was dran ist an dem, was ich sage.«

Eigentlich hätte sie wütend werden sollen, wurde es aber nicht. Es kam nur selten vor, dass jemand ihren Namen aussprach.

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben, Justine. Sie haben doch meine Handynummer, oder?«

»Ja.«

»Es ist schwer für eine allein stehende Frau, sich um ein ganzes Haus zu kümmern, so ganz allein.«

»Ich rufe Sie an, wenn es so weit ist«, sagte sie. »Falls ich mich dazu entschließen sollte zu verkaufen.«

Sie hatte nicht die geringste Absicht zu verkaufen. Geld brauchte sie auch nicht. Ihr Vater hatte ihr bei seinem Tod genug vermacht. Sie konnte problemlos davon leben, bis ans Ende ihrer Tage.

Und Flora würde niemals mehr etwas für sich selbst fordern.

Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller

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