Читать книгу Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 12
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Die Krücken waren an das Sofa mit dunklen Fettflecken auf dem braunen Leder gelehnt. Der Fernseher lief und war sehr laut gestellt, sodass er ihn zum Glück nicht heimkommen hörte. Er stellte die Tüte mit Einkäufen aus dem Netto auf den Küchentisch, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und starrte aus dem Fenster, während er es mit schnellen Schlucken trank. Das Hühnerhaus, das sein Vater gebaut hatte, als er in Rente ging und plötzlich nicht wusste, wozu er sein Leben gebrauchen sollte, als es allen anderen schwer zu machen, war am Zusammenbrechen. Alles war dort draußen überwuchert, weil sich niemand um den Garten kümmerte; den Garten, den Mama so geliebt hatte. Ihr Kräutergarten war auch weg. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, wo er gewesen war. Dem Gewächshaus fehlten einige Scheiben, mehrere davon waren bei dem letzten Sturm, der hier draußen auf dem offenen Land immer besonders schlimm wütete, kaputtgegangen. Gut, dass sie am Stadtrand wohnten, weit außerhalb von allem; sonst hätte es ständig Beschwerden von Nachbarn über den Lärm und die Unordnung gegeben, da war er sich sicher. Er stellte die leere Flasche zu all den anderen im Kasten neben dem Küchentisch, räumte die Einkäufe weg und schlich an der Wohnzimmertür vorbei in sein Zimmer. Er zog sich aus, um etwas Bequemeres anzuziehen, dann entdeckte er, dass er seine Dienstpistole nicht im Schrank im Präsidium eingeschlossen hatte; sie steckte immer noch im Halfter. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nun hatte er heute gerade ein Lob bekommen. Natürlich nicht direkt Lob und selbstverständlich nicht von Roland Benito persönlich. Aber Mikkel hatte ihm ausnahmsweise mal ein bisschen Anerkennung gegeben. Einen Schulterklopfer. Er hatte die Frau gefunden, die von einem Taxi heimgefahren worden war, und glücklicherweise hatte sie noch eine Quittung gehabt, sodass er sehen konnte, wer der Fahrer gewesen war. Sie hatte ihm damit vor der Nase herumgewedelt – wie eine Art Beweis. Alle fühlten sich schuldig, wenn sie einem Mann mit polizeilicher Dienstmarke gegenüberstanden. Hätte sie das nicht getan, war er darüber im Zweifel, ob er selbst auf die Idee gekommen wäre zu fragen, ob sie en Beleg aufbewahrt hatte. Er dachte nach; doch, natürlich hätte er das. Er war nicht so dumm, wie die anderen ihn darstellten. Aber jetzt hatte er eine der wichtigsten Sachen vergessen. Es war streng verboten, die Pistole mit nach Hause zu nehmen, wenn sie nicht in einem sicheren Waffenschrank aufbewahrt werden konnte. Der Vizepolizeidirektor nahm das sehr ernst. Die Pistole war immer unter seiner scharfen Kontrolle. Das war die letzte Rettungsleine der Polizei. Das äußerste Machtmittel. Er wog sie in der Hand und beeilte sich, sie in die Schublade zu seiner Unterwäsche zu legen, als es im Wohnzimmer still wurde. Der Fernseher war aus. Schnell zog er sich ein Paar Jeans und ein Poloshirt an und besah sich im Spiegel. Die Haare waren gerade zwei Millimeter kurz geschnitten. Das sah cool aus. Ein bisschen wie Mikkels.
»Zum Teufel, Dannevang, schleichst du dich in dein Zimmer, ohne mal kurz reinzuschauen und zu sagen, dass du daheim bist?« In der Stimme lag keine Freundlichkeit.
Dan hasste diesen Namen, der ihn an eine andere Zeit erinnerte und daran, was damals passiert war. Sein Bruder stand hinter ihm in der Türöffnung, er konnte ihn riechen; sein Schweiß hatte immer einen ranzigen Geruch gehabt.
»Ich wollte dich doch nicht stören, Josh.«
Das akzeptierte sein Bruder mit einem kurzen Nicken und höhnischen Lächeln in einem unrasierten Gesicht. Die zweite kleine Anerkennung des Tages. Hätte er bloß an das mit der Pistole gedacht, aber er war so in Hochstimmung darüber gewesen, etwas richtig gemacht zu haben, dass er es völlig übersehen hatte.
»Wann gibt’s Essen?« Josh machte einen leichten Hüpfer mit dem Oberkörper, sodass die Krücken in den Achselhöhlen an ihren Platz rutschten und der Beinstumpf baumelte. In Gedanken nannte Dan ihn böse seinen Halbbruder, obwohl sie die gleiche Mutter und den gleichen Vater hatten. Aber Josh war nur ein halber Mensch, sowohl physisch als auch psychisch. Das Ganze war die Schuld des Heeres und dieser verdammten Iraker, sagte Josh.
»Ich habe Koteletts gekauft.«
»Koteletts? Ich hab keinen Bock, heute Schwein zu essen. Hatten die kein Rindfleisch?«
»Doch, aber …«
Josh humpelte zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder aufs Sofa. Die Krücken ließ er mit einem Knall auf den Boden fallen. Dan fing an, Essen zu machen. Es dauerte nicht lange, ein paar Koteletts zu braten und ein bisschen Tiefkühlgemüse zu kochen. Der große Koch war er nicht, und normalerweise war Josh nicht wählerisch, aber seine Laune schwankte von Stunde zu Stunde. Im Fernsehen begannen die Nachrichten. Hätte er Josh doch bloß ablenken können, bis sie vorbei waren, hätte ihm vielleicht die Pistole gezeigt. Danach fragte er so oft, aber es wäre wohl trotzdem keine gute Idee gewesen, und jetzt war es zu spät. Maschinengewehrsalven erklangen aus dem Wohnzimmer, zusammen mit der Stimme des Sonderkorrespondenten im Kriegsgebiet von Afghanistan, der in einem Nachrichtenrausch von erneuten Kämpfen berichtete und wie viele Tote dieser Tag mit sich gebracht hatte. Joshs Schweigsamkeit beunruhigte Dan. Heute stimmte irgendetwas nicht.
Er servierte die Koteletts mit einem Haufen zerkochtem Gemüse am Sofatisch vor dem Fernseher. Josh aß, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Schaufelte in den Mund und die Hälfte ging daneben, weil der einzige Arm, den er benutzen konnte, durch den verkehrten Gebrauch der Krücke auch zerstört war. Axillarisparese nannten die Ärzte es.
»Wieso guckst du das, Josh?«
»Wo ist mein Bier? Und eine Handvoll Kopfschmerztabletten?«
»Waren wir uns nicht einig, dass es nicht jeden Tag zum Essen Bier geben sollte?«
Ein Blick seines Bruders genügte, dass Dan sofort aufstand und holte, worum er gebeten hatte. Die Tabletten wurden mit kaltem Bier heruntergespült.
»Guck dir den da an«, Josh machte eine Kopfbewegung in Richtung Bildschirm und kaute schmatzend. »Warte nur, bis er ohne Arme und Beine nach Hause kommt, dann ist er nicht mehr so eingebildet. Seinem Land dienen und meinem nackten Arsch!«
»Ach, ich erinnere mich, dass du doch selbst sehr versessen darauf warst, damals, als du wegmusstest.« Dan versuchte ein bewunderndes Lächeln, das Josh jedoch nicht sah. »Und jetzt ziehen sie ja die Soldaten ab, also vielleicht passiert dem da ja gar nichts. Nicht alle enden als Kriegsveteranen.« Er wusste sofort, dass er das nicht hätte sagen sollen. Dass es als Kritik aufgefasst werden würde. Dass Kriegsveteranen in Joshs Augen das Gegenteil von Helden waren. Dass der Versprecher eine Strafe nach sich ziehen könnte.
»Du Labertasche! Du hast bloß hier auf deinem flachen Arsch zu Hause bei den Alten gesessen, während ich für mein Land gekämpft habe und verstümmelt wurde.«
»Der Golfkrieg war vorbei, als du dahin gekommen bist, Josh. Das war für friedenserhaltende Maßnahmen und nicht Kampf. Du bist auf eine Landmine getreten. Und ich war damals ja erst zehn.«
Josh antwortete nicht, und Dan aß ohne Appetit. Er mochte den Ausdruck in den Augen seines Bruders nicht. Seine Manieren ebenso wenig. Er benutzte den Zeigefinger, um Essensreste aus seinen Zähnen und seinem Zahnfleisch zu entfernen, und wischte ihn danach am Tellerrand ab. Er hatte keine Haare auf dem Kopf. Als er Soldat gewesen war, hatte er einen Bürstenschnitt gehabt. Wie er selbst nun. Aber jetzt hatte er das Ganze abrasiert. Die Narbe in der Mitte des Scheitels war rot und auffällig und erinnerte Dan wieder daran, was passiert war. Er stand auf und trug die leeren Teller in die Küche. Stützte sich auf die Küchentischkante und atmete tief ein. Hatte Josh Recht, wenn er sagte, sein Gehirn sei vom radioaktiven Uranstaub der Granaten, die das amerikanische Militär benutzte, und dem Nervengas der irakischen Streitkräfte vergiftet worden? Oder lag es an den Medikamenten, die die Soldaten genommen hatten, um die Beeinträchtigung durch solche Gifte zu vermeiden? Hatte er wirklich eine Entschuldigung dafür und einen guten Grund, sich so massiv zu verändern, dass Dan ihn nicht wiedererkannte? Er hatte ihn immer respektiert. Zu ihm aufgesehen. Sahen nicht alle kleinen Geschwister zu ihrem großen Bruder auf? Jetzt war es kein Respekt mehr, sondern tiefe Furcht. Jede Minute zusammen mit seinem Bruder fürchtete er. Er wusste nie, was passieren konnte, und das Schlimmste kam jetzt, es fing immer mit diesen Worten an, die aus dem Wohnzimmer gerufen wurden:
»Dannevang! Mein Bad muss vorbereitet werden!«
Er antwortete nicht. Klirrte laut mit einigen Tellern, als ob er am Abwaschen wäre und ihn nicht hören könnte.
»Jetzt, verdammt noch mal, Mann! Mein Penis juckt!«
Dan ging ins Bad und öffnete den Wasserhahn. Mit der einen Hand kontrollierte er, ob das Wasser in der Badewanne passend war. Er wusste genau, welche Temperatur es sein musste. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Das Klacken der Krücken auf dem Boden näherte sich. Die Gumminoppen unter ihnen waren abgefallen, sodass sie überall auf den alten Holzfußböden Spuren hinterließen. Es fühlte sich an, als ob das Geräusch in seinen Bauch drang und seinen Darm zu einem harten Knoten zusammenpresste, der hoch in seinen Hals gedrückt wurde; er musste sich übergeben. Josh mühte sich wie gewöhnlich beschwerlich nach unten, um auf der Bank zu sitzen, die für ihn in einer passenden Höhe angefertigt worden war. Erst ließ er die eine Krücke los und setzte sich, dann ließ er die andere los und stellte sie beide an die Wand. Der Beinstumpf ragte in die Luft, mit dem Armstumpf zeigte er auf Dan.
»Zieh mich aus. Langsam«, kommandierte er, als ob sein Rang als Z-Soldat immer noch gültig wäre. Dan tat, wie befohlen. Der Knoten im Bauch wurde fester. Als er seinem Bruder die Unterhose auszog, war die Übelkeit dabei, ihn zu übermannen. Er schluckte angestrengt mehrere Male in dem Versuch, es zurückzuhalten, und nahm Joshs Schulter, um ihm in die Badewanne zu helfen, aber der Bruder machte sich mit einem Ruck los, und packte stattdessen Dans Nacken mit seiner außergewöhnlich starken linken Hand und presste sein Gesicht fest nach unten in seinen Schoß.
»Nein, nimm den. Jetzt. Komm schon, schluck!«