Читать книгу Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 6

Оглавление

3

Kasper Dupont hatte aggressiv gewirkt, als sie frühmorgens durch seine Haustür getreten waren und ihn befragt hatten, ob er wüsste, wo sich seine Frau aufhielt. Vielleicht klang es auch, als ob sie ihn verdächtigten, sie versteckt zu halten, aber war dieser Verdacht so weit hergeholt? Ihre Eltern hatten sie nicht gesehen, sie hatten auch nicht gehört, dass sie aus der Gerichtspsychiatrie geflohen war. Nach dem, was geschehen war, sprachen sie nicht mehr mit ihrem Schwiegersohn. Dass er Sara nicht glaubte und sie nicht unterstützte, war die Erklärung der Mutter für den Zusammenbruch ihrer Tochter; natürlich hatte Sara Recht, wenn sie sagte, dass sie ihren kleinen Sohn nicht getötet hatte. Sie liebte ihn über alles.

Während Isabella Munch, die einzige Frau in Rolands Team versuchte, den Mann wieder zu beruhigen, guckte sich Roland, den der Wutausbruch völlig überrascht hatte, das Bild des Sohnes an. Ein gelungenes Porträtfoto, das in einem Montana-Regal mit so vielen Fächern stand, dass es an ein Labyrinth erinnerte. Der Junge trug einen hellblauen Strampler mit kleinen weißen Kaninchen und hatte die spezielle tiefblaue Augenfarbe von Babys. Der Fotograf – sicher der Vater selbst – hatte einen besonderen Blick eingefangen, der vor Neugier und Unschuld strahlte. Rolands Zwerchfell zog sich zusammen; wie überleben Eltern es, ein Kind in diesem Alter zu verlieren? War es nicht Folter, so ein Bild herumstehen zu haben? Waren alle Erinnerungen es wert, bewahrt zu werden? In einem anderen Regelfach stand ein Foto von Sara und Kasper. Es war nicht gerahmt, sondern gegen eine silberne, venezianische Maske mit Gold und Glitzer gelehnt, als hätte man es dort vor langer Zeit hingestellt und vergessen. Das Paar saß eng aneinander geschmiegt in einer Gondel mit dem Ponte di Rialto im Hintergrund. Mitten von der Brücke hing ein riesiges Banner. Aufgrund der Distanz war der Text nicht lesbar, aber er konnte ein Bild von zwei Masken erkennen, daher schätzte er, dass die Reise nach Venedig während des Karnevals stattgefunden hatte. Sara lehnte ihren Kopf an Kaspers Schulter, sodass die Brücke hinter ihnen sichtbar war. Ihre Haare schimmerten im Sonnenlicht wie Kupfer. Roland erinnerte sich, wie Irene dort in dem obersten Bogen der Brücke gestanden und zu ihm heruntergewinkt hatte. Damals hatte sie keine Lust auf Bootsfahrten gehabt; sie war mit Rikke schwanger und kämpfte viel mit Übelkeit. Er selbst hatte in einer gewaltig schaukelnden Gondel unten auf dem dreckigen Kanalwasser gesessen und zurückgewinkt. Seitdem waren sie nicht mehr in Venedig gewesen und nun würden sie vielleicht nie wieder dorthin zurückkehren können, wie sie es sich damals geschworen hatten. Irene blieb am liebsten zu Hause und drinnen, wo sie sich sicher war, dass sie mit dem Rollstuhl vorwärtskam.

In den meisten anderen Regalfächern standen Bücher. Hauptsächlich Fachliteratur über Fotografie, Kameras und Kinderbetreuung. Kein Hochzeitsbild, stellte er fest. Einige Erinnerungen waren es also nicht wert, bewahrt zu werden.

Kasper Dupont hatte sich auf ein beigefarbenes Ecksofa gesetzt und sich ein bisschen beruhigt. Die Arme waren demonstrativ vor der Brust verschränkt. Das Gesicht verbissen. Abwehr oder Ohnmacht.

»Sie sind Fotograf, richtig?«

»Gewesen. Jetzt bin ich Kameramann. Aber was hat das zu tun mit …«

»Wie war die Venedigreise?«, unterbrach Roland.

Kasper sah ihn verständnislos an, als ob er das Bild im Regal wirklich vergessen hatte.

»Ach, die. Das ist über ein Jahr her … Februar. Zum Karneval. Wieso fragen Sie danach?«

»Das Foto«, antwortete er mit einer Kopfbewegung dorthin. »Sie beide sehen glücklich aus.«

»Das waren wir auch. Damals. Wie konnte sie fliehen? Wo kann sie sein? Ich schwöre, dass ich sie weder gesehen noch von ihr gehört habe.«

»Isabella hat völlig Recht. Wir beschuldigen Sie selbstverständlich nicht wegen irgendetwas. Wir müssen nur Sara finden, das ist unsere einzige Aufgabe. Sie wissen also nicht, bei wem Sara vielleicht sein könnte? Jemand, zu dem sie volles Vertrauen hat und der ihr Versteck nicht verraten würde?«

»Nein, da gibt es niemanden. Alle haben ihr den Rücken gekehrt, als sie … als William gestorben ist.«

Roland nickte und setzte sich neben ihn. Isabella stand vor ihnen, ebenfalls mit verschränkten Armen, wie in einem gegenseitigen Machtkampf: Er konnte an ihrer Körpersprache ablesen, dass Kasper Dupont nicht ihr Fall war. Er wirkte auch ein wenig arrogant, zog man die Situation in Betracht, aber Roland wusste aus Erfahrung, dass einige Attitüden in solchen Krisen missdeutet werden konnten und oft nur eine Sache kaschierten: Verletzlichkeit. Der Versuch, diese zu verbergen.

»Können Sie ein bisschen von dem Tag erzählen, an dem das passiert ist?«

»Wozu? Das habe ich jetzt seit mehreren Monaten durchgemacht. Die reine Hölle. Ein Verhör nach dem anderen. Und das ändert ja nichts daran, dass William tot ist, dass seine eigene Mutter …«

Kasper ballte die Hände, sodass die Knöchel weiß wurden. Er hatte den Punkt erreicht, an dem die Trauer zu Wut geworden war. Tiefer Hass auf denjenigen, der seinen Sohn ermordet hatte. Dass der sich als die Frau entpuppte, die er liebte und gerade geheiratet hatte, musste viele widersprüchliche Gefühle ausgelöst haben. Roland verstand seinen Frust und seine Aggressivität.

»Wer hat William gefunden?«

»Zum zehntausendsten Mal: Die Babysitterin.«

»Die Babysitterin? Und wer ist das?«

»Ein junges Mädchen, das uns geholfen hat. Warum wühlt ihr darin wieder rum? Sollt ihr nicht Sara finden?« Kaspers Stimme klang mit einem Mal so erschöpft und entmutigt, dass Roland der Tatsache ins Auge sah, dass er seine Neugier an dem alten Fall verbergen musste. Er konnte darüber in dem Bericht im Präsidium nachlesen.

»Sie haben viele hübsche Dinge.«

Kasper sah ihn erneut verwundert an. »Vieles stammt von meinen Auslandsreisen, aber Sara mochte Nippes, sie …«

»Ihnen fehlt nicht zufällig ein weißer Buddha? Eine Steinfigur?«

»Buddha?« Kasper sah zuerst aus, als ob er keine Ahnung hätte, wovon Roland sprach, dann nickte er plötzlich. »Da war einer, den Sara von einer Freundin bekommen hatte, als sie mit William schwanger war … sie hatten angefangen, zusammen Yoga zu machen und zu meditieren, und die Figur wurde ein Teil dieses … Rituals. Sie hat sie mitgenommen, glaube ich …«

»Wie heißt diese Freundin?«

»Lærke Bendixen.«

»Hat Sara noch andere Freundinnen, mit denen wir Ihrer Meinung nach sprechen sollten?« Isabella hatte ebenfalls kapituliert, die Stimme hatte einen mitfühlenden Klang angenommen – ein bisschen widerwillig sicherlich.

»Es gibt zwei, mit denen sie sich früher oft getroffen hat. Lærke und Freja. Mit Lærke hatte sie am meisten zu tun.«

»Haben Sie die Adressen?«

Kasper stand notgedrungen auf und ging die Treppe zum ersten Stock hoch. Isabella setzte sich neben Roland.

»Also, ich mag ihn nicht«, fing sie flüsternd an. »Das ist seine Frau, über die er spricht, verdammt noch mal. Was, wenn sie nun wirklich unschuldig ist, wie sie sagt? Ihr eigenes Kind! Müsste er ihr nicht glauben? Er ist so …«

»Deine Meinung über diesen Mann ist nicht von Bedeutung, Isabella. Du bist professionell … die Frau hat zwei Morde auf dem Gewissen, also kann man ihm wohl keinen Vorwurf machen … und jetzt komm mir nicht wieder mit deiner Erklärung von wegen weibliche Intuition.«

Isabella schaffte es gerade nur, den Mund zu einer Entgegnung zu öffnen, da war Kasper schon mit einem Notizbuch zurück. Er blätterte darin vor und zurück und gab ihnen die Adressen und Telefonnummern der beiden Freundinnen.

»Aber ich glaube nicht, dass eine von ihnen Sara versteckt. Sie sind in Feindschaft auseinandergegangen. Wer würde auch einer solchen Mörd… Mutter helfen?« Roland stand auf. »Haben Sie etwas dagegen, dass wir uns ein wenig umsehen, bevor wir gehen?«

Kasper Dupont gestikulierte theatralisch. »Herzlich gerne. Ich verstecke sie jedenfalls nicht.«

Roland nickte Isabella zu, die schnell die Treppe hoch verschwand, die Kasper gerade hinuntergekommen war.

»Das mit Ihrem Sohn tut mir wirklich leid«, sagte Roland, als sie allein waren. »Ich habe gehört, dass es an Ihrem Hochzeitstag passiert ist, während das Haus voller Gäste war.«

Kasper Dupont schaute aus dem Fenster in einen vernachlässigten und zugewucherten Garten, oder vielleicht war das einer von diesen modernen Gärten, in denen die Natur selbst bestimmen darf und alles wild und unkontrolliert wächst. Da draußen hatte sicher die Hochzeitsfeier stattgefunden. Und dort hatten sie wohl auch seine Braut mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden.

»Sara war an dem Tag so glücklich, ich habe nicht verstanden, was passierte. Natürlich hatte es sie nervös gemacht, Mutter zu werden. Die große Verantwortung für einen anderen kleinen Menschen zu haben, der total von einem abhängig ist. Aber das geht doch eigentlich allen Erstgebärenden so? Ich war es ja auch. Das klingt natürlich merkwürdig, weil Sara doch Gesundheitspflegerin ist, aber das eine ist, anderen Ratschläge zur Kinderbetreuung zu geben; derjenige zu sein, bei dem die Verantwortung liegt, ist etwas anderes. Wenn jemand wusste, was schiefgehen konnte, dann sie. Aber von postnataler Depression war überhaupt keine Rede. Und dass sie nun wieder gemordet hat. Eine Gesundheitspflegerin! Ich kannte sie ja überhaupt nicht!«

»Sie haben anfangs an ihrer Schuld gezweifelt? Damals, als Verdacht auf plötzlichen Kindstod bestand?«

Kasper wandte ihm den Blick zu. An dem Ausdruck seiner Augen sah Roland sofort, dass Isabella den Mann völlig falsch eingeschätzt hatte.

»Ich gebe zu, dass ich nie gedacht hätte, dass Sara zu so etwas fähig wäre. Sie hat ihn ja geliebt. Sie liebt alle Kinder. Wenn sie nicht anschließend versucht hätte, sich das Leben zu nehmen, wenn die Beweise nicht so klar gewesen wären, wenn sie jetzt nicht noch einen Menschen ermordet hätte, um zu fliehen, dann …«

»Aber sie erklärt sich doch für unschuldig an Williams Tod. Hatte sie kein Alibi, das diese Behauptung beweisen könnte? Es war Ihr Hochzeitstag mit Gästen im Haus.«

Kasper schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einem blutlosen Strich zusammen. In diesem Moment kam Isabella die Treppe hinuntergelaufen, zuckte in Richtung Roland mit den Schultern und hatte nichts gefunden, was bewies, dass Sara sich in dem Haus aufhielt.

»Dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten, aber bitte melden Sie sich, falls sie Sie kontaktiert oder sonst noch etwas ist.« Er reichte Kasper Dupont seine Visitenkarte und folgte Isabella nach draußen.

Es war niemand zu Hause in dem Reihenhaus in der Møllevangs Allee, wo die Freundin Lærke Bendixen wohnte, aber der Nachbar, der gerade dabei war, einen hohen Busch zu einer Spirale zu trimmen, die an einen gigantischen Korkenzieher erinnerte, erzählte ihnen ohne Aufforderung, dass sie einen Vortrag im Scandinavian Congress Center halte. Er war, soviel er wusste, weggefahren, um die Kinder aus dem Kindergarten und der Schule abzuholen.

»Hübscher Schnitt«, lobte Roland zum Dank.

»Das ist meine größte Leidenschaft. Topiary works, wie es in der Fachsprache heißt, ich habe seit vielen Jahren …«

Der Mann könnte sicher den Rest des Tages und die ganze Nacht über den Formschnitt von Büschen und Bäumen reden. Er war genau der Typ dafür; ein Mann in Rente, während die Frau noch arbeiten ging. Schade, dass er keinen größeren Garten hat, dachte Roland, bevor er ihn unterbrach, indem er ihm noch einmal dankte und die Autotür fest zuschlug. Isabella versuchte ein Lächeln zu verbergen.

»Fahren wir direkt zum Kongresszentrum oder warten wir, bis Lærke Bendixen nach Hause kommt?«

»Ich finde, es könnte interessant sein zu hören, worüber Sara Duponts beste Freundin einen Vortrag hält«, antwortete Isabella und schnallte sich an.

»Okay, das war auch mein Gedanke. Hauptsache es geht nicht um Topiary works«, murmelte Roland, bevor er das Auto anließ und mit einem letzten Blick über die Hecke auf den hochkonzentrierten Gärtner rückwärts aus der Einfahrt fuhr.

»Das ist doch ein hübscher kleiner Garten, den er da hat. Was hast du eigentlich gegen Gärten, Büsche – oder vielleicht Gärtner?«, fragte Isabella mit schlecht verhülltem Amüsement. Sie setzte eine dunkle Sonnenbrille auf. Die Sonne war durch die Wolkendecke gebrochen und blendete von den weißen Mauern der Reihenhäuser. Roland hasste es, wenn er Leuten nicht in die Augen sehen konnte, sondern stattdessen sein eigenes Spiegelbild sah. Er antwortete nicht. In Wahrheit plagte ihn sein schlechtes Gewissen. Es war immer Irene gewesen, die sich um den Garten bei der Villa in Højbjerg gekümmert hatte, die ihr Elternhaus war. Nun war es seine alleinige Verantwortung, und Gartenarbeit war noch nie sein Ding gewesen. Das Gras war viel zu lang, in den Beeten musste Unkraut gejätet und die Büsche und Bäume zurückgeschnitten werden. Der Herbst war eine arbeitsreiche Zeit für Gartenbesitzer. Er könnte Irene selbstverständlich einen natürlichen Garten vorschlagen, der wild wuchs wie der der Duponts, aber darauf würde sie sich nie einlassen. Gepflegtheit und saubere Linien entsprachen ihr eher. Er fürchtete den Laubfall, der bald kommen würde, obwohl die vielen verrotteten Blätter natürlich sein Versäumnis verbergen könnten. Aber Irene sah es. Oft saß sie da und schaute aus dem Fenster des ersten Stocks in den Garten hinunter, sagte aber nichts. Er musste sich einfach zusammenreißen und in die Gänge kommen, nicht in Selbstmitleid baden, sondern mehr Mitgefühl für Irene aufbringen, die gern im Garten arbeiten würde, körperlich aber nicht dazu in der Lage war.

Isabella war diejenige, die das Schild als Erste entdeckte, das den Weg zu dem Raum wies, in dem Lærke Bendixen ihren Vortrag hielt. Roland nahm eine der Broschüren mit, die in ordentlichen, kleinen Reihen in einem Aufsteller vor der Tür standen, und las die Überschrift Wir haben mehrere Persönlichkeiten und den Untertitel Persönlichkeitsspaltung ist NICHT Schizophrenie. Vortrag von Psychotherapeutin Lærke Bendixen.

»Ach nein, nicht eine von diesen selbsternannten Therapeutinnen«, seufzte er und steckte die Broschüre zurück in den Aufsteller.

»Sie ist sicher mehr als das. Sie hat eine dreijährige Ausbildung an der Akademie für Psychotherapie in Kopenhagen absolviert und zwei Jahre als selbständige Therapeutin gearbeitet. Steht auf der Rückseite.« Isabella faltete die Broschüre zusammen, stopfte sie in die Tasche ihrer Lederjacke und öffnete vorsichtig die Tür zu dem Raum. Darin war es dunkel. Wechselnde farbige Bilder mit Säulen, Zahlen und Diagrammen blinkten auf einer Leinwand auf. Der Raum war nicht voll besetzt und Roland und Isabella setzten sich auf die ersten freien Stühle direkt an der Tür. Nur wenige drehten sich um und sahen sie an, konzentrierten sich jedoch schnell wieder auf die ruhige, tiefe Stimme der Rednerin.

»Wie das Diagramm hier zeigt, wird bei jedem zehnten psychiatrischen Patient in den USA DIS diagnostiziert. Oft ist die Diagnose Kindheitstraumata geschuldet, in der Regel sexueller Missbrauch, aber eine neue Theorie ist, dass auch gesunde Menschen die Persönlichkeit wechseln. Es ist einfach eine Notwendigkeit, mehrere Persönlichkeiten zu haben, um sich dem wechselnden Alltag der Gegenwart anzupassen.«

Roland schluckte ein weiteres Mal. Er war selbst in zwei Personen aufgeteilt; Roland auf der Arbeit und Rolando in seinem Privatleben.

»DIS ist eine der umstrittensten psychiatrischen Diagnosen, weil sie oft mit Kriminalität verknüpft wird. Seit sie als psychische Krankheit bekannt ist, haben mehrere Verbrecher diese Diagnose benutzt und erklärt, dass sie für ihre Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden könnten. Bei diesen Fällen spricht man von einer pseudologischen Störung.«

Lærke Bendixen blickte auf einige Papiere vor sich. Sie setzte eine moderne Brille auf, während sie in einem fast unbemerkten Augenblick eine Karte las und dann den Blick wieder auf die Leinwand richtete, als ein neues Bild von einer Frau mit langen Haaren, lila Halstuch und einem sympathischen Lächeln erschien.

»Simone Reinders vom King’s College in London ist der Ansicht, dass es mehrere Typen gibt. Ihrer Meinung nach ist DIS eine Krankheit, die sowohl von den Behandelnden als auch dem juristischen System differenziert betrachtet werden muss. Simone Reinders leitete 2003 einen DIS-Versuch, wo sie mit Hilfe von PET-Scans nachgewiesen hat, dass DIS-Patienten traumatisches Material im Gehirn unterschiedlich behandeln, je nachdem, in welchem Persönlichkeitszustand sie sich gerade befinden. Elf Patientinnen waren an dem Versuch beteiligt. Alle konnten mit Hilfe eines Therapeuten zwischen ihren beiden Persönlichkeitszuständen wechseln. Die eine Persönlichkeit erinnerte sich an traumatische Erlebnisse, über die die andere nichts wusste. Der Versuch zeigte also, dass Menschen, die an DIS leiden, verschiedene Identitäten haben, von denen jede Zugang zu unterschiedlichen Erinnerungen haben kann.«

Das Bild der Forscherin verschwand, und es wurde dunkel im Raum, bis die Deckenlampen angeschaltet wurden und die Zuhörer dazu brachten, die Augen zusammenzukneifen. Lærke nahm die Brille ab und schaute über ihr Publikum. Roland schien es, dass sie ihn direkt anschaute. So empfanden das sicher alle in dem Raum. Das war das Kennzeichen einer routinierten Rednerin.

»Persönlichkeitsspaltung wird gebraucht – oder missbraucht – in der Welt des Films und der Literatur. Bestimmt erinnern sich alle an Robert Louis Stevensons Novelle von 1886 über Dr. Jekyll und Mr. Hyde?«

Das wurde wie eine Frage gesagt und wie in einer Kindersendung im Fernsehen ertönten vereinzelte bestätigende Antworten aus dem Publikum.

»Auch Gollum aus Der Herr der Ringe hat eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung.« Hier lächelte Lærke, und das stand ihr.

»Im Alltag denken wir nicht darüber nach, dass die meisten von uns rein faktisch die Identität wechseln und dass wir unterschiedliche Persönlichkeiten aufweisen in unterschiedlichen Zusammenhängen und je nachdem, mit wem wir gerade zusammen sind. Wir würden Probleme bekommen, würden wir nicht die Elternrolle ablegen, wenn wir mit Kollegen und Freunden zusammen sind, und die geschäftsmäßige Rolle, wenn wir mit unseren Kindern spielen.«

Sie trank aus einem Wasserglas, und Roland wunderte sich darüber, wie still es in dem Raum war. Niemand hustete, niemand nieste, niemand tuschelte – es war beinahe, als ob sie nicht einmal atmeten. Andere als er selbst saßen sicher nun da und dachten an ihre verschiedenen Persönlichkeiten. Doch dann schloss Lærke Bendixen mit den erlösenden Worten: »Machen Sie frei von ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten Gebrauch. Sie sind deshalb noch nicht gleich schizophren. Viel zu viele suchen nach ihrem wahren Ich, aber wir sollten für alle unsere Persönlichkeiten dankbar sein und uns daran erinnern, sie konstruktiv zu gebrauchen, um das Beste daraus zu machen.«

Ohne Zweifel waren dies die abschließenden Worte. Einige standen auf und Roland ärgerte sich darüber, dass sie nicht etwas früher in den Vortrag gekommen waren. Er schien interessant gewesen zu sein. Lærke Bendixen verstand es, ihr Publikum mit ihrem psychologischen Wissen zu fesseln; aber konnte sie mit diesem Hintergrund nicht gerade diejenige sein, die ihre Freundin versteckt hielt?

Er und Isabella blieben sitzen, während die anderen plaudernd den Raum verließen. Erst als sie aufstanden und zu ihr hingingen, bemerkte Lærke Bendixen sie. Roland zeigte seinen Dienstausweis.

»Können wir einen Moment mit Ihnen sprechen?«

Lærke schob die Papiere in ihre Tasche und schloss sie. Dann stöpselte sie den Projektor aus und rollte ohne Eile das Kabel auf.

»Selbstverständlich, womit kann ich Ihnen helfen?«

Die Stimme war sachlich, sie rechnete sicher damit, dass es um den Vortrag ging, der auch für die Polizei brauchbar sein könnte. Das Polizeipräsidium könnte eine Einladung bekommen haben, die in der ›Ablage P.‹ unter dem Schreibtisch gelandet war wie so vieles andere.

»Das war ein guter Vortrag. Was bedeutet DIS eigentlich?«

Lærke sah sie lächelnd an, während sie fortfuhr, das Kabel aufzurollen.

»Sie waren sicher nicht von Anfang an hier. Sie waren diejenigen, die am Ende des Vortrags gekommen sind, richtig?«

Isabella nickte.

»DIS ist eine Abkürzung für Dissoziative Identitätsstörung, englisch DID, Dissociative Identity Disorder.«

Sie legte das Kabel zu dem Projektor auf einem Rolltisch. Es war kein Equipment der modernen, drahtlosen Art.

»Ich hoffe, Sie konnten mit dem, was Sie gehört haben, etwas anfangen. Es wäre sehr nützlich, wenn die Polizei mehr über dieses Leiden wüsste.«

»Und Ihre Freundin, Sara Dupont, ist ihre Diagnose auch DIS?«, fragte Roland geradeheraus.

Lærke Bendixen erstarrte fast unmerklich.

»Nein, Sara leidet nicht an DID. Geht es um sie? Es ist doch wohl nichts passiert?«

»Sara ist gestern Abend aus der Gerichtspsychiatrie geflohen. Bevor sie verschwunden ist, hat sie einer Krankenschwester den Kopf zertrümmert.« Isabella konnte sich auch kurz fassen.

Jetzt verhärtete sich Lærkes Haltung sichtlich, während sie mehrmals den Kopf schüttelte. »Nein, das kann nicht sein. Sara ist keine Mörderin!«

»Sie sind vielleicht auch der Meinung, dass sie nicht am Mord ihres Sohnes schuld ist?«

»Doch, aber … nein, anfangs nicht. Es konnte einfach nicht sein, aber dann kamen ja die Beweise ans Licht, sodass wir …« Sie geriet ins Stocken und starrte hinauf an die leere, weiße Projektor-Leinwand.

»Haben Sie nicht versucht, Sara zu helfen? Als Psychotherapeutin, meine ich«, fragte Isabella.

»Doch, doch. Natürlich habe ich das, aber ich kann nicht mit ihr über das, was passiert ist, reden. Ich bin sicher auch viel zu dicht dran, wir kennen uns seit dem Gymnasium. Aber sie bleibt dabei, die Schuld auf alle anderen zu schieben und will keine Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. Das ist eine schwierige Situation, die bessere professionelle Behandlung erfordert, als ich sie als Therapeutin geben kann. Die sie in der Gerichtspsychiatrie bekommen hat. Ist sie wirklich geflohen …?«

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Ähm, das ist sehr lange her, sicher einen Monat. Ich war in letzter Zeit so mit Vorträgen beschäftigt, daher …«

»Wie ist denn Ihre Einschätzung ihres Zustandes? Wie war sie, als Sie sie vor einem Monat gesehen haben?«

»Das ist schwer zu sagen … aufgrund der Medikamente war sie sehr umnebelt und es war sehr schwierig, sich mit ihr zu unterhalten. Sie müssen die Dosis wohl verringert haben, da sie ja flüchten konnte, und …« Gedankenvoll geriet sie wieder ins Stocken. Plötzlich wirkte sie unsicher und war nicht länger die eloquente Referentin, der sie gerade gelauscht hatten. Auch sie jonglierte offenbar mit mehreren Identitäten.

»Ihre Einschätzung ist also, dass sie ansonsten außerstande gewesen wäre auszubrechen?«

»Ja, das meine ich – ganz bestimmt. Es sei denn, ihr wurde dabei geholfen …«

»Und wer, glauben Sie, hätte ihr helfen sollen?« Isabella steckte die Hände in die Jackentasche. »Sie vielleicht?«

Lærke sah schnell zu ihr. »Ich? Warum in aller Welt hätte ich ihr raushelfen sollen, wenn ich finde, dass sie genau die richtige Hilfe bekommt, dort wo sie ist … war. Ich finde, es ist schrecklich, dass sie nun ohne Behandlung ist.«

Roland glaubte ihr; der überrumpelte Ausdruck war echt. Sie richteten alle drei die Aufmerksamkeit auf die Tür, als sie lautlos geschlossen wurde, aber nicht lautlos genug. Jemand hatte gerade den Raum verlassen.

Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5

Подняться наверх