Читать книгу Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 13

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Es war noch nicht sieben. Der Morgentau glänzte im Gras. Zum ersten Mal im Jahr roch sie den Herbst und spürte das Gefühl von Nachtfrost in der kühlen Luft, als sie das Fahrrad gegen den üblichen Baum lehnte und merkte, dass sie schnell anfangen musste, bevor sie zu frieren begann, nur mit Laufshirt und -hose bekleidet. Sie machte grundsätzlich keine Aufwärmübungen, betrachtete aber die Fahrradtour zum Fløjstrupper Wald als solche. Doch nun wurde der Schweiß kalt, sie machte einige schnelle Beinhebungen, um wieder warm zu werden; dann lief sie in den Wald, folgte dem Pfad und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Viele schöne Ausflüge hatte sie in diesem Wald zusammen mit Opa gemacht. Er war erst vor wenigen Monaten gestorben. Ganz sicher an Altersschwäche. Er hatte ein langes und spannendes Leben gehabt, aber trotzdem vermisste sie ihn und konnte sich nicht damit abfinden, dass sie nicht länger hier spazieren gehen und vertraut zusammen reden sollten. Er hatte ihr so viel beigebracht, seit sie ein Kind war. Hatte ihr gezeigt, wie man buchstabiert. Zählt. Die Uhr liest. Der Letzte, der von ihren Großeltern noch übrig gewesen war. Er hatte erzählt, dass sie von einer hart arbeitenden Waldarbeiterfamilie abstammten und sie darauf stolz sein sollte. Vielleicht fühlte sie sich deswegen in dem schützenden Rahmen des Waldes so wohl. Das lag ihr im Blut. Ihr Ur-Opa, Ur-Ur-Opa und Ur-Ur-Ur-Opa hatten hier in den Wäldern von Aarhus gearbeitet und es gab immer noch Spuren von ihnen, die Opa ihr gezeigt hatte. Sie lief gerade an einer davon vorbei. Ein Hohlweg, der entlang der Böschung bis ans Wasser führte. Einst war er weitergegangen bis zu einem Platz, der Polterplatz hieß, hatte er erzählt. Das war die Stelle, wo man die gefällten Bäume aufbewahrte, bis die Waldarbeiter sie runter zur Küste schleppten, wo sie zu einem Frachtschiff in der Bucht gesegelt wurden. Vielleicht hatte einer ihrer Vorfahren mitgeholfen, diesen Hohlweg anzulegen. Es war nicht schwer, sich die schwer beladenen Pferdewagen vorzustellen, die vor über hundert Jahren diese tiefen Rinnen in die Erde gefahren hatten. Sie beschleunigte das Tempo ein bisschen. Weiter vorne auf dem Pfad liefen ein morgendlicher Hundebesitzer und ein schwarzer Hund mit der Schnauze am Boden ein gutes Stück vor ihm. Unwillkürlich verlangsamte sie das Tempo, der Hund drehte sich um und lief zurück zu seinem Besitzer, er nahm ihn am Halsband und hielt ihn vom Weg zurück, als sie sich näherte. Sie lächelten und grüßten, als sie passierte, obwohl sie sich nicht kannten. Ein bisschen weiter vorne auf dem Weg kam ihr ein älterer, sehniger Mann in engen Laufhosen entgegen. Kurz darauf musste sie einen anderen jungen Jogger überholen und sich dafür ordentlich anstrengen. Sie war jetzt sechs Kilometer gelaufen. An diesem Morgen fühlte sie sich gut in Form und machte einen Abstecher in den etwas dichteren Teil des Waldes, der an den Skaade Wald grenzte, wo sie so früh am Morgen selten andere Jogger und Leute mit Hunden traf. Erst lief sie einen Deich entlang, dem sie keine Beachtung geschenkt hatte, bis ihr Opa sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass er ein Überbleibsel aus alten Zeiten war. Damals im 19. Jahrhundert wurden Deiche gebaut, um Waldgebiete vor grasenden Tieren und Raubüberfällen zu schützen. »Du musst lernen, die Sinne dabei zu haben, wenn du dich in der Natur bewegst, meine Kleine. Renn nicht mehr mit diesen modernen iPods im Ohr durch die Gegend. Du sollst sehen, riechen und hören. Hier im Wald gibt es über dreihundert Spuren unserer Vorfahren, einige bis aus der Stein- und der Eisenzeit: Grabhügel, Hünengräber, die Straßensysteme und Felder der Vergangenheit«, hatte er sie mit einem Lächeln in den milden Augen, die aufgrund des Windes mit Wasser gefüllt waren, ermahnt. Sie vermisste ihn wieder und war kurz davor zu weinen. Es nahm ihr beinahe die Luft und sie verlangsamte das Tempo. Auf dem nächsten Wegstück hörte sie immer das Gurren der Waldtauben. Sie hatten sicher Nester hier, brüteten, soweit sie wusste, fast das ganze Jahr über, aber heute war es still. Fast kein Lüftchen regte sich. Sie beschleunigte das Tempo wieder ein bisschen. Ein Übelkeit erregender Gestank von Verwesung trieb ihr entgegen. Das, was stank, lag im Gras dicht am Weg. Bei dem Tempo sah sie nicht, was es war. Ein größeres Tier. Sie blieb stehen und ging atemlos zurück. Der Schweiß tropfte ihr von der Stirn und klebte die Kleidung an den Körper. Ihr Atem ging schwer. Sie starrte auf das tote Tier. Die Maden machten das blutige Fleisch lebendig, das, was übrig war. Unwillkürlich verspürte sie einen Brechreiz, aber es kam nichts mit hoch. Es war ein Fuchs. Er war zerfleischt. Die Eingeweide waren um ihn herum verteilt, einige lagen in Stücken zwischen den Bäumen. Sie beeilte sich weiterzulaufen, um sich nicht zu übergeben, aber der Gestank blieb in den Nasenlöchern hängen. Ein gutes Stück entfernt hielt sie an und stand vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, atemloser als normal während ihrer Lauftouren, versuchte, Luft zu bekommen. Dann lief sie wieder los und stolperte beinahe über eine Baumwurzel, die auf dem Pfad eine Erhebung bildete. War der Fuchs nicht der Killer des Waldes? Vergeblich versuchte sie sich an die Biologiestunden zu erinnern, aber es war zehn Jahre her, dass sie zur Schule gegangen war. Dennoch war sie nicht der Meinung, dass ein anderes Tier als der Mensch der Feind des Fuchses war. Hatte ein Mensch das da gemacht? Die Sinne wurden geschärft, als wäre sie selbst ein Tier auf der Flucht. Die Instinkte des Urmenschen. Es klang, als ob jemand ihr folgte, aber sie entdeckte, dass es bloß das Schlagen ihres Pferdeschwanzes gegen das Nylon der Warnweste war. Aber nun war da etwas, das im Dunklen in den Blättern zwischen den Bäumen raschelte. Vögel machten oft Lärm am Waldboden, wenn sie in den verwelkten Blättern nach Futter suchten, aber nicht so viel Lärm. War das ein Hirsch, der neben ihr lief? Die flüchteten normalerweise oder standen mucksmäuschenstill da und guckten. Sie begann zu bereuen, dass sie sich so weit von ihrer normalen Route entfernt hatte. Ihr Herz pochte, sodass es schwer war, Luft zu holen. Das, was sich im Laub rechts von ihr bewegte, war kein Hirsch. Sie sah nur ab und zu einen Schatten davon. Etwas Geschecktes. Das war ein größeres, muskulöses Tier, das sich geschmeidig in hohem Tempo bewegte, aber sie schaffte es nicht zu sehen, was es war, bevor es wieder hinter Baumstämmen, abgehauenen Zweigen oder Büschen verschwand. Nach Luft schnappend fing sie an, Seitenstechen zu bekommen. Das kam selten vor, nur, wenn sie direkt nach dem Essen lief. »Du darfst nicht anfangen zu gehen, du darfst das Tempo nicht verlangsamen, du darfst nicht anhalten«, wiederholte sie für sich selbst. War es bloß ein Hund und würde sein Herrchen bald auf dem Pfad auftauchen, ihn am Halsband nehmen und zurückhalten, wenn sie vorbeilief? Sie hielt nach dem Besitzer Ausschau, aber sie war ganz allein. Gassigeher hielten sich in der Regel an die Wege am Waldrand. Der keuchende Atem übertönte alles andere. Wo war es jetzt? Letztes Jahr hatte es Gerede über einen Wolf gegeben, der in Südjütland gesichtet worden sein sollte, und soviel sie wusste, war da auch etwas mit einem Luchs gewesen, den einmal vor vielen Jahren einige am Kolding-Gebiet gesehen hatten. Vielleicht floh das Tier bloß vor ihr. Der Gedanke war beruhigend. An den Gerüchten um den Wolf oder Luchs damals war sicher nichts dran gewesen, soweit sie sich erinnerte. Nun durfte die Phantasie die Dinge auch nicht schlimmer machen, als sie waren. Um den Schmerz der Milz zu lindern, stemmte sie die Hand in die Seite und versuchte ein bisschen schneller zu laufen, aber dann sah sie es wieder. Es hatte auf sie gewartet. War vorgelaufen und hatte gewartet. Sie war die Beute. Wie der Fuchs es auch gewesen war. Es war einer dieser Kampfhunde, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Die, die einem neuen Gesetz zufolge gesetzwidrig waren. Jetzt kam er ihr entgegen und setzte zum Sprung an. Reflexartig hielt sie die Arme abwehrend vors Gesicht und spürte zuerst, wie sich die Zähne in das Fleisch ihres einen Armes bohrten, bis ein knackendes Geräusch vom Knöchel kam, dann sein Gewicht, ungefähr wie ihr eigenes, das sie umwarf. Alles war ein schaumiger Wirrwarr aus Kampf, Geräuschen, Gerüchen und Schmerzen. Das Schnauben des Hundes, ihre panischen Schreie und Jammern, feuchte Wärme, Sabber und der Gestank fauligen Atems, als der große Kopf mit Augen ohne Zeichen von Gefühlen oder Versöhnung direkt über ihrem war. Das Ganze dauerte nur ein paar Sekunden. Eine Menge Gedanken schafften es trotzdem, durch ihr Gehirn zu schießen. Das letzte Bild, das sie sah, bevor alles verschwand, als ob sie eine gesegnete Spritze gegen den Schmerz bekäme, war der zerfleischte Fuchs.

Der Hund, ein schwarzgescheckter American Staffordshire Terrier, zog seine Beute weg von dem Pfad zwischen die Bäume. Der Morgentau lag immer noch auf dem Gras.

Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5

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