Читать книгу Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 15

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September, ein Jahr zuvor

»Bitte schön, trink das hier! Das Ganze!«

Benedikte Steenberg reichte ihrer Tochter auf dem Sofa, wohin sie sie beordert hatte, ein Glas Wasser. Wie immer verhätschelte sie ihr einziges Kind mehr als notwendig, obwohl Sara der Grund dafür war, dass sie das einzige Kind geblieben war. Während der Geburt waren Komplikationen aufgetreten, die dazu führten, dass sie ihr anschließend die Gebärmutter entfernen mussten, was natürlich ausschloss, dass Sara Geschwister bekam. Sara hatte nie gefragt, was eigentlich schiefgegangen war, wohl hauptsächlich wegen der Schuldgefühle, die sie wegen dieser Tragödie hatte, aber sie hatte trotzdem genügend von großen Fibromen, grünem Fruchtwasser und der Angst ihrer Eltern, sie zu verlieren, gehört. Aber das war nichts, worüber irgendeiner von ihnen Lust hatte zu sprechen. Erst recht nicht jetzt. Sara wollte nicht einmal daran denken.

»Mama, dass mir ein bisschen schwindelig ist, hat nichts zu sagen. Das ist ganz normal.«

»Denkst du daran, Eisen zu nehmen?«

»Natürlich. Frag einfach meinen Bauch danach.« Pflichtschuldig trank sie aus dem Glas.

»Iss ein paar Dörrpflaumen.«

»Ja, ja, Mama.«

Benedikte wrang den Lappen über dem Putzeimer aus und warf wieder einen besorgten Blick auf Sara, die aufstehen und weiterputzen wollte.

»Du bleibst schön sitzen, Fräulein. Ich bin richtig froh, dass ich hergekommen bin, als du mitten am Großreinemachen warst. Will Kasper das denn nicht für dich tun?«

»Doch, sicher bereitwilliger, als Papa es für dich tut. Aber ich will ja keine schwangere Ehefrau sein, die gar nichts kann.«

»Du bist im dritten Monat, Schätzchen. Du arbeitest die meiste Zeit des Tages und solltest dich ausruhen, wenn du heimkommst …«

»Heute ist mein freier Tag«, unterbrach sie.

»Eine Fehlgeburt innerhalb der ersten Monate ist recht häufig, wenn man nicht aufpasst. Das weißt du doch. Kasper sollte dir verbieten, so ein Projekt im ganzen Haus im Alleingang anzufangen. Aber so wie ich dich kenne, weiß er das bestimmt nicht mal«, fuhr ihre Mutter beharrlich fort.

Sara zuckte bloß die Schultern, stand auf und stellte das leere Wasserglas in die Spüle. Dann brachte sie den Müll raus, das dürfte sie ja nicht belasten.

Der Garten sandte Herbstdüfte in den dunstigen Vormittagssonnenschein. Das Laub mancher Bäume färbte sich schon golden. Die frische Luft ließ den Schwindel verfliegen. Erleichtert setzte sie sich auf die Bank beim Gartentisch und schloss die Augen, das Gesicht der Sonne zugewandt, immer noch mit der warmen Glut des Sommers, aber nicht so intensiv. Sie faltete die Hände über dem Bauch, wie um den kleinen Fötus vor den Sonnenstrahlen zu beschützen. Er war jetzt fast acht Zentimeter groß und die kleinen Fingerchen hatten bereits einen persönlichen Fingerabdruck gebildet. In nur sechs Monaten würde das Kind ein Teil ihres Lebens sein. Ein kleiner Mensch, der total abhängig von seinen Eltern war. Wie oft hatte sie nicht versucht, eine nervöse Mutter zu beruhigen, die Angst hatte, der Verantwortung nicht gerecht zu werden. Aber sie hatte überhaupt nicht gewusst, wie sich diese Angst anfühlte. Bis jetzt nicht. Plötzlich war sie nicht länger diejenige, die auf Baby-Blogs im Internet Ratschläge gab, jetzt war sie diejenige, die sie suchte. Ihre Mutter war keine Hilfe. Im Gegenteil. Selbstverständlich könnte sie abtreiben, aber wieso sollte sie?

»Genau! So sollst du dich entspannen.« Benedikte setzte sich neben sie auf die Bank und zog ein paar hellblaue Haushaltshandschuhe aus. »Jetzt ist das Schlimmste überstanden. Die Böden glänzen, sodass man sich darin spiegeln kann.«

»Danke, Mama.« Sara drückte ihre Finger, trotzdem dankbar für die Hilfe, die anzunehmen sie unerwartet gezwungen war. Sie genossen die Stille und die vermutlich letzte Wärme des Herbstes. Der Gesang der Amseln war längst verklungen.

»Was hat es mit diesem Schmuck auf sich?«, fragte Benedikte plötzlich aus heiterem Himmel.

»Welchem Schmuck?«

»Der, von dem du ein Bild auf Facebook gestellt hast. Dieses kleine Schmuckstück mit den sonderbaren Schnüren. Hat sich der Besitzer gemeldet?«

»Ach, das.« Unwillkürlich zog Sara ihre Hand von der ihrer Mutter weg, als ob die Berührung verraten würde, was sie selbst vor Kasper verborgen gehalten hatte. Manchmal vergaß sie, dass alle auf Facebook diese Posts sehen konnten, nicht nur die, für die sie sie gedacht hatte.

»Wie hast du den gefunden?«

»Ähm, das ist lange her, ich kann mich gar nicht daran erinnern. Ist ja auch egal. Willst du einen Kaffee? Es ist doch schönes Wetter. Wir können hier draußen sitzen.«

»Kein Kaffee für dich, Fräulein. Mein Enkelkind verträgt kein Koffein.«

»Nein, Mama. Natürlich nicht.« Sie eilte in die Küche und füllte den Wasserkocher. Draußen am Tisch hatte ihre Mutter eine Zigarette angezündet. Das tat sie nicht, wenn Sara in der Nähe war. Wegen des Kindes. Sollte sie das Foto wieder löschen? Niemand hatte sich als Besitzer des Schmuckes gemeldet. Vielleicht hätte sie es herausbekommen können, falls er dem Dieb gehörte. Dem, der die Tasche in Venedig gestohlen, deren Inhalt samt ihrem Portemonnaie mit Kreditkarten und ihrem Pass geleert und sie wieder zurückgegeben hatte. Hatte diese diebische Person ihren Schmuck darin verloren, ohne es zu wissen? Sie beschloss das Bild zu löschen. Sie hatte es vor zwei Monaten hochgeladen, und wenn sich bis jetzt keiner gemeldet hatte, war es wohl auch für niemanden von Bedeutung.

»Kaffee ist fertig!«

Benedikte zerquetschte die Kippe schnell auf den Fliesen und hielt sie zwischen zwei gespreizten Fingern, als ob sie es eklig fände. Sara suchte nach einem Aschenbecher im Schrank und nahm ihn mit hinaus auf den Tisch.

»Ich dachte, du hättest damit aufgehört.«

»Dachte ich auch. Aber jetzt hast du mich so damit erschreckt, dass du beinahe umgefallen bist, daher musste ich …«

»Du musst dir meinetwegen keine Sorgen machen, Mama. Und erzähl es nicht Papa; du weißt, wie er ausflippen wird.« Und dann habe ich ihn heute Abend hier sitzen, dachte sie, und trank aus ihrem Wasserglas.

»Nein, nein, das werde ich nicht.« Benedikte lächelte über die Zurechtweisung ihrer Tochter.

»Geht’s Papa ansonsten gut?«

»Papa geht’s bestens. Aber er hat angefangen die Tage zu zählen, bis er pensioniert wird. Also mit Grausen. Er weiß nicht, was er machen soll, wenn er die Tiere nicht mehr hat.«

»Es ist noch fast ein Jahr, bis er pensioniert werden soll. Wieso jetzt darüber spekulieren?«

»Du kennst doch deinen Vater. Ich habe ihm gesagt, er sollte stattdessen lieber darüber nachdenken, was er sich für lustige Hobbys zulegen könnte, die die Zeit ausfüllen.«

»Ich verstehe einfach nicht, dass er die Tierklinik schließen will. Die Tiere sind doch sein Leben. Und deins auch.« Sie schenkte ihrer Mutter Kaffee nach. Plötzlich war der Wind kühl geworden.

»Papas Rücken macht das nicht mehr mit. Ich bin mir sicher, er findet etwas anderes, wenn es so weit ist. Das Gleiche gilt für mich. Er kann sich ja auch für die Rücken-OP entscheiden, an die er sich nicht traut, obwohl sie ihm vielleicht helfen kann, dann könnte ich ihn pflegen und wir würden beide unsere Arbeitslosenprobleme zur gleichen Zeit lösen.«

Sara nickte nur. Sie unterstützte ihren Vater darin, sich in seinem Alter nicht mehr einer so großen Operation zu unterziehen. Vielleicht könnte sie ihm helfen, aber es könnte auch das Gegenteil der Fall sein. Das Schlimmste könnte passieren. Das schlimmste Denkbare. Um seine Haltung zu pointieren, hatte er seine Familie mehrfach an den Zwischenfall erinnert, als er einen ansonsten starken und aufrechten Vollbluthengst wegen einer Rückenverletzung operiert hatte. Es endete damit, dass er lahmte und kurz darauf eingeschläfert werden musste. »Das kannst du nicht vergleichen, Poul«, hatte Mama gesagt. »Das war etwas Unvorhersehbares, das schiefgegangen ist.« »Und wer sagt, dass ich nicht an einen genauso großen Quacksalber wie mich selbst gerate?«, hatte er mit einem Kloß im Hals erwidert. »… und es war nicht deine Schuld«, hatte Mama sofort hinzugefügt. Poul Erik Steenberg war ein kompetenter Tierarzt. Aber Sara hatte die Furcht in seinen Augen gesehen, und was ihr wirklich Angst einjagen konnte, war der Gedanke, ihn zu verlieren. Sie beide. Vielleicht eine kleine gerechte Rache für damals, als sie fürchteten, sie zu verlieren.

Es wurde kalt, als die Wolken kamen und den Himmel wie mit einer Decke überzogen. Sie gingen hinein in ein Haus, das nach Putzmitteln roch, und nicht eine Staubflocke war zu sehen. Benedikte litt an unkontrollierter Putzwut, mit der Sara aufgewachsen war. Nicht, dass sie diese Last sonderlich geerbt hätte. Der Reinlichkeitswahn ihrer Mutter war, wenn man so wollte, eine Folge der Arbeit ihres Vaters, als sie sich nämlich entschied, mithelfende Gattin zu werden; in einer Tierklinik musste es genauso klinisch rein sein wie in einem Krankenhaus. Oft hat Sara gedacht, dass es in ihrem Elternhaus sauberer war als in sämtlichen Krankenhäusern der Stadt. Ein weiterer guter Grund, ihren Vater dort nicht für eine komplizierte Rücken-OP einzuweisen.

Sie bot ihrer Mutter an, zum Essen zu bleiben. Kasper würde nach Hause kommen. Er hatte ab Mittag frei genommen, um mit seiner schwangeren Freundin an ihrem freien Tag zusammen zu sein, deswegen hatte sie mit dem Großreinemachen frühmorgens angefangen, damit es sauber und gemütlich war, wenn er heimkam. Sie hatte auch ein Mittagessen geplant, wie er es mochte. Aber Benedikte wollte nach Hause, Sara sollte es sich mit Kasper gemütlich machen. Stattdessen bekam sie eine Umarmung, einen Kuss auf die Wange und weitere Ermahnungen.

Sara setzte sich mit einem müden Lächeln hin, als die Reifen von Mamas Chevrolet über den Kies knirschten und sie mit hohem Tempo auf die Straße bog. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie einen Strafzettel für zu schnelles Fahren bekäme.

Sara fing an, das Mittagessen vorzubereiten, nachdem sie sich ein bisschen ausgeruht hatte, trank noch ein paar Gläser Wasser und genoss die saubere Umgebung, von der sie wusste, dass auch Kasper Wert darauf legte. Kartoffelsalat und Frikadellen waren das geplante Menü. Kasper liebte das. Mitten beim Kartoffelschälen klingelte das Handy, das wie immer in der Nähe lag. Das war eine Anweisung von Kasper; falls etwas passieren sollte. Alle machten sich solche Sorgen, dass es auch sie ganz besorgt machte. Sie nahm das Telefon mit zwei nassen Fingern und klemmte es zwischen Schulter und Kinn fest, sodass sie während des Gesprächs weiter Kartoffeln schälen konnte.

»Sara«, meldete sie sich ein bisschen abweisend und rechnete damit, dass es einer der üblichen aufdringlichen jungen Zeitungs- oder Werbeanrufer mit unterdrückter Nummer und Nebenjob war, um Geld fürs Studium zu verdienen.

»Sara Dupont? Ich rufe von der Intensivstation im Aarhus Universitätsklinikum in Skejby an …«

Die Frauenstimme war ruhig und achtungsgebietend. Auf Saras nackten Armen breitete sich eine Gänsehaut aus.

»Ist … ist etwas passiert?« Die Hände waren immer noch im Wasser und wühlten nach einer zu schälenden Kartoffel, obwohl sie sich innerlich kalt und gelähmt fühlte. War es Kasper?

»Benedikte Steenberg ist Ihre Mutter, ist das richtig?«

Sara nickte, aber die Antwort blieb ihr im Hals stecken.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sie hier auf die Intensivstation eingeliefert wurde. Ein Autounfall. Es ist sehr ernst. Ich würde empfehlen, dass Sie sofort herkommen, wenn Sie sie noch sehen wollen, bevor sie …«

Das Handy glitt von der Schulter und landete in Wasser und Kartoffeln. Zur gleichen Zeit fuhr ein stechender Schmerz durch den Unterleib, der sie in die Knie zwang, während sie laut schluchzte und sich am Rand des Küchentischs festhielt. Schwach hörte sie draußen auf dem Hof eine Autotür zufallen und Kaspers munteren Gruß vom Eingang und merkte, dass er sie vom Fußboden hochhob und in einen Sessel platzierte. Sie zitterte vor Weinen, aber es kam kein Laut. Kasper ging vor ihr in die Hocke.

»Sara, was ist denn passiert? Du stehst ja unter Schock.«

Unzusammenhängend berichtete sie von dem Anruf der Intensivstation. Er nahm ihre Hände und drückte sie so fest, dass es wehtat.

»Wo liegt sie? Wir fahren sofort los.«

»Ich weiß es nicht … das … das hat sie nicht gesagt, ich …«

Kasper stand schnell auf und nahm sein Handy aus der Tasche. Er wollte sie etwas fragen, rief aber stattdessen die Auskunft an. Kurz darauf gab er eine Nummer ins Telefon ein und lauschte mit einer tiefen Falte zwischen den dunklen Augenbrauen. Sara sah, wie sich seine Lippen bewegten, die Worte hörte sie nicht. Sie umklammerte fest die Armlehne des Sessels und war kurz davor, wieder ohnmächtig zu werden. Versuchte tief einzuatmen und in Kaspers Augen zu lesen. Zuerst waren sie besorgt, dann nahmen sie einen wütenden Ausdruck an. Er unterbrach die Verbindung, rief aber sofort wieder an. Jetzt kamen die Geräusche zurück. Seine Stimme drang langsam durch, aber sie verstand immer noch nicht, was er sagte. Er reichte ihr das Telefon, sie nahm es passiv und verwundert mit einer Hand, die zitterte, entgegen.

»Schätzchen, was ist denn passiert?« Das war Mamas Stimme. Sie klang nicht wie eine Sterbende, die auf der Intensivstation lag.

»Eine Krankenschwester hat aus dem Krankenhaus angerufen … sie hat gesagt … sie hat gesagt, dass du … dass du …« Ihr Weinen erstickte die letzten Worte. Kasper setzte sich auf die Armlehne neben sie und zog sie an sich. Strich ihr übers Haar.

»Das war ein kranker Scherz, Sara. Ein sehr kranker Scherz. Wer kommt denn auf … ich bin schon lange gut nach Hause gekommen, ich sitze hier zusammen mit Papa und genieße ein Glas Wein. Willst du mit ihm sprechen …?«

Sara konnte nicht mit Worten antworten, nur den Kopf schütteln und ließ Kasper das Telefon aus ihrer Hand nehmen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er zu Benedikte. »Das ist doch außergewöhnlich gemein. Ja, ich habe im Krankenhaus angerufen, aber sie haben versichert, dass es keinen Autounfall gab, in dem Benedikte Steenberg involviert ist, deswegen habe ich dich angerufen …« Er griff sich an die Stirn. »Ja, ich werde gut auf sie aufpassen. Grüß Poul Erik.«

Die Erleichterung ließ Sara wieder weinen, sie drückte sich an Kasper, wie ein kleines Kind, das getröstet werden will.

»Wir müssen damit zur Polizei gehen, Sara. Das ist so unmenschlich grob und böse. Wer kennt deine Handynummer? Wer weiß, wie deine Mutter heißt? Wer wusste, dass sie dich heute besuchen wollte?«

Das Stechen im Unterleib kam wieder, und etwas Warmes klebte zwischen ihren Schenkeln. Verzweifelt schaute Sara in Kaspers Augen und drückte seinen Arm fest vor Schmerz. Plötzlich hatten sie an anderes zu denken.

***

Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5

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