Читать книгу Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 9

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Die Villa sah aus wie viele dieser modernen phantasielosen Bauwerke, viereckige Kästen, wie verkehrt übereinandergestapelt, mit riesigen Fensterfronten. Hier heuert man wohl einfach einen Fensterputzer an, dachte Roland. Aber sie war schön gelegen, nicht weit von der umstrittenen Badebrücke, die trotz des Verbots der Gemeinde, des Küstenamts und des Verkehrsministeriums im Begriff war wiederzuerstehen. Ein beharrlicher Verein mit hundert Mitgliedern, der sich Verein Risskover Badebrücke nannte, war dabei, trotz Strafanzeige für ihr Recht auf Fortbestand zu kämpfen. Ein halbes Jahrhundert hatte diese Brücke ohne die Genehmigung der Behörden existiert, aber nun fühlten sich offenbar einige Bewohner davon gestört und klagten. Die Intoleranz der Gegenwart. Roland wusste nicht recht, was er von der Sache halten sollte; er war selbst ein großer Freund der Badebrücke im Ballehagener Seebad, wo er auch im Winter badete. Aber eins war sicher; die Sache zehrte an vielen Ressourcen. Kräfte, die man an anderen Stellen besser gebrauchen könnte. Jedoch war er sich mit sich selbst uneins, ob der Verein oder die Behörden Recht hatten.

Isabella knallte die Autotür zu und atmete geräuschvoll die salzige Meeresluft ein. Der Wind spielte mit ihrem Pferdeschwanz. »Hier müsste man wohnen!«, rief sie mit einem überzeugenden Lächeln aus.

»Na, bist du euer neuerworbenes Landhaus in Skåde schon leid?«

Isabella sah ihn bloß an, ohne zu antworten, und setzte die dunkle Sonnenbrille wieder auf. Das war kein Thema, das sie diskutieren sollten. Die Schlacht war längst verloren. Dieses Haus hätte seins sein können, wenn nur …

»Aber wenn Freja so nah an der Gerichtspsychiatrie wohnt, ist es wohl sehr naheliegend, dass sie diejenige ist, die ihre Freundin versteckt hält. Vielleicht hat sie ihr auch rausgeholfen, denn es klang ja nicht so, als ob Lærke der Meinung wäre, dass Sara imstande wäre, selbst zu flüchten.«

»Vielleicht war Saras Zustand eine andere Persönlichkeit, eine, die zur Situation passte. Wenn alle glaubten, dass sie nicht flüchten könnte, wurde sie sicher nicht so sehr beobachtet.«

Roland sah zu dem Gebäude hoch und steckte sich ein Stück Kaugummi in den Mund. Jetzt versuchte er es mit etwas Gewöhnlichem anstelle von Nicotinell. Es hatte ein großes Opfer erfordert, sich von den Zigaretten zu trennen, und nun hatte er sich von dem Nikotinkaugummi losgesagt. Es verlor zu schnell den Geschmack, daher wechselte er es oft und war drauf und dran, fast so viel Geld dafür auszugeben, wie er es für Zigaretten getan hatte.

Isabella öffnete ein schwarzes Eisentor, das in den Scharnieren einen gut geölten Laut von sich gab. Im Garten gab es schnurgerade geharkte Kieswege, gut geschnittene Hecken, gejätete Beete und getrimmten Rasen. Genau wie Irene es mochte. Aber für das hier war sicher auch ein Gärtner angestellt, rechtfertigte sich Roland.

Der Junge, der aufmachte, war hingegen weder gut geschnitten noch getrimmt. Das Teenageralter, wo Identitätsfindung und Identitätsverwirrung eng beieinander lagen. Vielleicht aus Protest gegen das anscheinend geordnete Leben seiner Eltern. Vielleicht testete er Grenzen aus. Die Haare waren blauschwarz gefärbt, machten aber nur einen Hahnenkamm in der Mitte des Schädels aus und waren viel zu lang, etwas, das an Woody Woodpecker erinnerte und einen sonderbaren Kontrast zum Rest bildete, der abrasiert war. Kurze, helle Stoppeln verrieten, dass die natürliche Haarfarbe des Jungen blond war. Um den Hals trug er ein breites, stachelbesetztes Lederhalsband, das zu dem Armband um das sehr dünne Handgelenk passte und den Ohrsteckern, die wie Spikes aus den Ohrläppchen stachen. Roland wünschte sich keine Umarmung, aber die schien auch nicht in Aussicht zu stehen. Der Junge sah hoffnungslos enttäuscht aus und erwartete offenbar jemand anderen. Aber ein Aufblitzen in seinen blauen Augen und ein kleines verspieltes Lächeln, als Roland sie beide vorstellte und seine Dienstmarke vorwies, zeigte, dass er im Grunde wohl ein netter Junge war; er wollte es bloß nicht sein. Jedenfalls sah er nicht aus, als ob er den Besuch der Kriminalpolizei fürchtete. Die Kleidung war eher skater- als punkerartig – eine Mischung aus beiden Stilarten. Eine neue Subkultur. Skatepunker wurden sie genannt und waren bei den echten anarchistischen Punkern nicht besonders gern gesehen. Aber die Musik hatten sie, soweit Roland wusste, gemeinsam; sie hämmerte durch den Fußboden aus dem ersten Stock aus dem Zimmer, in das der Junge verschwand, nachdem er mit lauter und genervter Stimme nach seiner Mutter gerufen und die Treppe mit drei langen Sprüngen genommen hatte. Aufgrund des ohrenbetäubenden Lärms, als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, hörten sie ihre Antwort nicht, aber glücklicherweise knallte er sie schnell wieder zu. Freja kam aus einem Wohnzimmer in ebenso minimalistischem Stil wie das Gebäude. Wieder viel zu kalt und unpersönlich, aber ihr Mann war ja Architekt und das war sicher sein Geschmack, der hier durchschien. Sie hingegen sah aus, als ob sie mehr in den 60er-Jahre Flower-Power-Stil passte mit großen Mustern und kräftigen Farben. Das einzig Farbenprächtige im Wohnzimmer, in dem Schwarz, Weiß und Stahl den Ton angaben. Vielleicht provozierte sie, genau wie ihr Sohn. Roland sah den Architekten vor sich, mit stilvollem, grauem Anzug und Schlips, der weder zu dem Sohn noch zu seiner Ehefrau passte. Vielleicht irrte er sich.

»Ich habe gar nicht gehört, dass Sara geflohen ist«, sagte Freja schockiert, als er sie über den Grund ihres unerwarteten Besuchs aufgeklärt hatte. Auf der Haut um ihren Mund und um die Augen zeigten sich feine Fältchen, die man oft bei Leuten sieht, die viel in der Sonne sind. Der Strand lag wohl auch fast im Garten hinter dem Haus; er hatte das Meer zwischen den Bäumen durch die großen Panoramafenster gesehen, die den Großteil des Giebels ausmachten.

»Und das ist gestern Abend passiert, sagen Sie?«

Sie war auch dem Kaugummikonsum erlegen. Vielleicht auch eine zwangsentwöhnte Raucherin.

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«, fragte Isabella, die von der Umgebung unbeeindruckt zu sein schien. Auch die Begegnung mit dem Sohn schien sie nicht überrascht zu haben. Roland kannte sie eigentlich gar nicht, fiel ihm auf. Aus welchem Milieu kam sie? Was hatte ihr Aufwachsen beeinflusst und sie zu der gemacht, die sie war? Er mischte sich absichtlich nicht besonders viel ins Privatleben seiner Mitarbeiter ein und umgekehrt. So war es leichter, die beiden Persönlichkeiten zu trennen. Roland und Rolando.

»Das ist sehr lange her. Tatsächlich seit ihrer Hochzeit nicht mehr. Als all das passierte, wurde ich … armer Kasper, er …« Sie schwieg.

»Also ist das ungefähr vier Monate her? Sie haben sie nicht in der Gerichtspsychiatrie besucht? Es ist doch nicht sehr weit dorthin.« Isabella machte ihr Vorwürfe, das schimmerte in ihrem Tonfall durch.

»Was genau ist bei dieser Hochzeit passiert?« Ein kleines, schnelles Lächeln sollte Isabellas unfreundlichen Ton ein bisschen ausgleichen.

»Wollen wir uns nicht setzen?«, schlug Freja einladend vor.

Roland setzte sich auf einen Sessel, der eher apart als bequem war, sie auf ein viereckiges Sofa aus weißem Stoff und schwarzlackiertem Holz. Isabella setzte sich nicht, sie ging professionell herum und betrachtete die Dinge im Wohnzimmer. Es war nicht besonders viel, was persönliche Geheimnisse enthüllen könnte. Es gab keine Familienfotos oder andere Gegenstände, die etwas über diejenigen, die in dem Haus wohnten, erzählten. Die Bässe tönten dumpf durch die Decke. Böse Musik, pflegte Roland diese Stilrichtung zu nennen. Böse Musik mit bösen Stimmen. Aber er durfte nicht nach so unbedeutenden Details wie Musikgeschmack urteilen, es ging darum, sich immer analysierend, aber neutral zu halten.

»Nach der Kirche wurde die Hochzeit in ihrem Haus in True abgehalten. Es war wirklich toll geschmückt mit schönen Blumen überall und Musik im Garten – ein phantastischer, sonniger Junitag. Es hätte perfekter nicht sein können. Dann ist es passiert …«

Roland und Isabella warteten schweigend ab. Freja drehte nervös ihren Ehering.

»Was ist passiert?«, wollte Isabella wissen, die zuerst die Geduld verlor.

»Das hat keiner so wirklich herausgefunden. Es war mehr die Stimmung, die sich mit einem Mal änderte. Eine Art Kälte, die von einem zum anderen lief. Wie ein Flüstern. So erinnere ich mich heute daran. Wie ein Flüstern. Und dann wurden alle Gäste plötzlich von Kaspers Vater nach Hause geschickt. Bevor wir unser Auto erreichten, das in der Schlange ganz hinten in der Straße parkte, kam der Krankenwagen. Ich wollte zurücklaufen, aber Thor hat mich überredet, mit ihm nach Hause zu fahren. Danach erfuhren wir, dass Sara William getötet hatte – den süßen kleinen William – und versucht hatte, sich das Leben zu nehmen …« Plötzlich schnipste sie mit den Fingern, als ob ihr eine Idee käme. »Doch, ich habe sie übrigens im Krankenhaus besucht, als sie nach dem Selbstmordversuch dort eingewiesen worden war. Aber sie hatte Beruhigungsmittel bekommen und war nicht ansprechbar. Sie murmelte bloß die ganze Zeit etwas, das ich nicht verstand. Anfangs dachten alle, es wäre plötzlicher Kindstod gewesen und sie tat allen furchtbar leid. Beide, natürlich.«

»Aber dann haben Sie sie nicht mehr besucht?«

»Ich fand, das würde nicht wirklich etwas bringen. Die Beweise waren so überwältigend, dass sie sie nicht leugnen konnte. Stellen Sie sich vor, sein eigenes Kind zu töten. Armer Kasper …«

»War Ihr Sohn mit auf der Hochzeit?«

»Sune? Nein, der hatte keine Lust. Er kennt weder Sara noch Kasper besonders gut. Warum?«

Isabella zuckte als Antwort nur mit den Schultern.

»Sara wurde im Garten gefunden. Aber fand dort nicht die Hochzeit statt? Wieso hat niemand bemerkt, was sie vorhatte?«

»Es gibt einen großen Garten vor dem Haus, wo die Hochzeit gefeiert wurde, und einen kleineren dahinter. Da hat Sara ihren Kräutergarten und so was. Dort haben sie sie gefunden.«

»Die Babysitterin hat den Sohn gefunden, richtig?«

Freja zuckte die Schultern.

»Haben Sie sie getroffen?«

»Die Babysitterin? Nein, ich habe sie natürlich gesehen, aber nicht mit ihr gesprochen. Tatsächlich glaube ich, dass sie an dem Tag gar nicht da war. William hat viel geweint, daran erinnere ich mich, und Sara ist die ganze Zeit zu ihm hoch ins Kinderzimmer gelaufen. Vielleicht hatte sie am Ende genug. Sie war nicht sie selbst und hatte ein bisschen was getrunken.«

»Sie wissen also überhaupt nicht, wo sie sich aufhalten könnte?«, fragte Isabella.

»Nein. Man kann ja richtig nervös werden, wenn sie frei herumläuft. Sie hat sich plötzlich so sehr verändert … als ob sie ihre Identität gewechselt hätte. Ob sie wohl gefährlich ist?«

»Sie hat eine Krankenschwester getötet.«

Roland sah wütend zu Isabella, es war bald genauso anstrengend, sie dabei zu haben wie ihren Freund; Mikkel Jensen fiel es auch oft schwer, sich in seinen Äußerungen zurückzuhalten.

Freja hörte auf zu kauen. »Sie hat eine Krankenschwester …« Ihre Augen wurden groß vor Entsetzen, und sie brachte das letzte Wort nicht raus, als die Stimme versagte.

»Haben Sie eine Garage, ein Nebengebäude – einen Pavillon vielleicht?«

»Wir haben eine Garage, aber dann hätte Thor sie entdeckt, als er heute Morgen gefahren ist, wenn Sie das meinen. Und niemand ist über den Kies im Garten gelaufen, das hätten wir gesehen.«

»Ja. Haben Sie Gärtner?« Rolands Blick wanderte automatisch zu dem riesigen Fenster und dem Garten. Es war, als ob man darin stünde, es war bloß Glas dazwischen.

»Nein, das macht Thor. Er liebt das. Jedenfalls Büsche und Gras. Ich kümmere mich um die Blumen.«

»Was ist mit einem Boot? Haben Sie ein Bootshaus oder so etwas?«

»Nein. Wir haben kein Boot.« Freja sah ihn verwirrt an.

»Dürfen wir uns umsehen, bevor wir gehen?«, fragte Isabella.

Freja richtete einen feindlichen Blick auf sie, wie eine Sprengstoffrakete, die ihr Ziel anvisiert. Sie kaute wieder wütend und unbeherrscht.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich einer Mörderin auf der Flucht helfe und sie verstecke? Übrigens waren wir keine Freundinnen mehr. Falls Sie hier irgendetwas sehen wollen, müssen Sie einen Durchseh… Durchsu…« Sie suchte nach dem Wort. »Durchsuchungsbeschluss haben.«

Das würde zum jetzigen Zeitpunkt schwierig werden.

Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5

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