Читать книгу Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 8
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Juli, ein Jahr und zwei Monate zuvor
Sara lehnte sich auf der Sonnenliege in dem Schatten unter der Kastanie zurück und schloss die Augen. Sie liebte den Garten mit den alten Obstbäumen und den vielen Rosenbüschen. Rosen waren die Leidenschaft des Vorbesitzers gewesen. Der Garten war ausschlaggebend dafür gewesen, dass sie das Haus gekauft hatten, obwohl sie es sich damals eigentlich gar nicht hatten leisten können und es ihnen immer noch schwer zu schaffen machte.
Der frische, fruchtige Duft der karminroten Darcey Bussell war beherrschend in der stehenden warmen Nachmittagsluft. Zum Glück gehörte er nicht zu den Düften, von denen ihr schlecht wurde. Sie biss sich auf die Unterlippe. Das Lächeln wollte nicht verschwinden. Kaspers Kuss wärmte immer noch. Er behütete sie zu sehr und wollte sie nicht allein lassen, aber er hatte erst in einer Woche Urlaub. Obwohl im Sommer viele Wiederholungen gesendet wurden, konnte der DR seinen Kameramann noch nicht entbehren. Die Aufzeichnung einer Kochsendung, die mit Lagerfeuer und Grill am Strand stattfand, musste in den Kasten. Es galt die Chance wahrzunehmen, solange die Sonne schien. Bei dem dänischen Sommer wusste man nie, wann es sich die Wettergötter anders überlegten. Aber sie hatte glücklicherweise frei. Glücklicherweise, weil sie erschöpfter war als je zuvor in ihrem ganzen Leben. Die Brüste und Brustwarzen waren so empfindlich, dass sie eine leichte, luftige Sommerbluse kaum und einen BH überhaupt nicht tragen konnte. Daher genoss sie nun, sich allen Stoffs bis auf ein orange geblümtes Bikinihöschen entledigen zu können und in dem wild wachsenden Garten zu liegen, der sie vor dem nächsten Nachbarn abschirmte. Das Thermometer war gerade auf 29,5 Grad geklettert. Vorsichtig legte sie beide Hände auf den Bauch, dort war eine kleine Beule. Diese Beule waren die zusätzlichen Kilos, die sie auf der Waage feststellen konnte. Diese Beule war die Übelkeit und alles Erbrechen wert. Diese Beule war ihr kleiner Sohn oder ihre kleine Tochter. Sie war auf Kaspers Reaktion gespannt gewesen. Vielleicht auch ein bisschen nervös. Sie hatten überhaupt nicht übers Kinderkriegen gesprochen, so gesehen war es nicht weiter geplant. Aber sie hatten auch nicht besonders viel getan, um zu verhüten, also hatte Kasper vielleicht das Gleiche gehofft wie sie. Das hatte er ganz sicher, das zeigte seine ganz überschwängliche Freude, als der Arzt bestätigt hatte, dass es nicht nur Luft im Bauch war und sie ihm zum Abendessen die Schüssel mit Kartoffelsalat gereicht und ohne große Dramatik erzählt hatte, dass er Vater werden würde. Dass sie Eltern werden würden. Erst war er verstummt, aber nicht aus Widerwillen, das sah sie sofort in seinen Augen. Er wusste bloß nicht gleich, was er sagen sollte, aber als die Neuigkeit bei ihm angekommen war, war er blitzschnell vom Tisch aufgestanden, hatte sie vom Stuhl hochgehoben und herumgewirbelt, bis ihm plötzlich aufging, was er machte und sie mit einem besorgten Blick auf ihren Bauch vorsichtig wieder absetzte. Sie hatte gelacht und ihm erklärt, dass sie nicht so zart war und der Fötus ebenso wenig. Das hatte sie mehrmals wiederholen müssen, da er nicht glaubte, dass sie während der Zeit der Schwangerschaft Sex haben konnten. Er musste doch verrückt sein, wenn er glaubte, dass sie so lange auf ihn verzichten könnte. Die Lust war nur noch größer geworden. Das passierte bei einigen – bei anderen das genaue Gegenteil, hatte sie im Internet gelesen.
Sie zuckte zusammen, als eine Elster schäckerte und ihr Schatten über das Gras glitt. Sie flog über die Baumgruppe ans andere Ende des Gartens. Die Vögel nisteten dort, hatte Kasper beobachtet. Ansonsten hatte Sara nur dagelegen und anderen, gedämpften Rufen hoch oben gelauscht: Schwalben. Vor denen hatte sie nicht so viel Angst, sie waren klein und putzig und kamen selten in ihre Nähe. Sie segelten hoch oben über den blauen Sommerhimmel und wohnten auf einigen der vielen Bauernhöfe weit, weit weg.
»Liegst du hier so rum – ganz nackt?!«
Sara hatte niemanden kommen hören. Sie schirmte die Sonne mit der Hand ab und schaute erschrocken zu Freja auf, die die Sonnenbrille in ihre dunklen Haare hochschob und lächelte. Sie trug ein leichtes, knallbuntes Sommerkleid. Ihre Haut war gebräunt, wie das ganze Jahr über. Sie unterrichtete an einer Musikschule und hatte lange Ferien. Den Sommer verbrachte sie die meiste Zeit am Strand vor ihrer Villa in Risskov, wo sie zusammen mit Thor und ihrem 12-jährigen Sohn Sune wohnte. Sara hingegen war blass und sommersprossig, sie vertrug die Sonne nicht und wurde rot wie hot chili, deswegen hielt sie sich immer im Schatten auf. Es war lange her, dass sie Freja gesehen hatte, sie hatte sie nur über ihre Pinnwand bei Facebook im Auge behalten, damit sie auf dem Laufenden blieb, was sie so unternahm, und sie wusste, dass Freja es umgekehrt mit ihr genauso gemacht hatte.
»Hi, Freja. Mensch, das ist ja eine Überraschung!«
Sara beeilte sich, die Bluse anzuziehen, und verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse, als der Stoff ihre Brüste berührte.
»Bleib ruhig liegen. Du musst dir nicht meinetwegen was anziehen. Ich erinnere mich noch gut, wie das war. Das mit den Brüsten. Bitte schön, das ist für dich.« Sie überreichte ihr ein Geschenk mit ebenso schreiend buntem Papier wie das Muster des Kleides samt einer großen Schleife. Abstrakt. Sara kannte niemanden, der so abstrakt war wie Freja.
Gespannt nahm sie das Geschenk entgegen. Freja setzte sich auf einen Gartenstuhl. Direkt in die Sonne, wo es glühend heiß war.
»Warum kriege ich jetzt ein Geschenk? Ich hab doch nicht Geburtstag.«
»Weil du Mutter wirst. Das steht doch überall auf deiner Pinnwand. Das Geschenk ist nur zum Spaß.« Freja kaute Kaugummi, das war auch eine ihrer Eigenarten. Wenn Sara Minze roch, dachte sie immer an Freja. Sie war im Zweifel gewesen, ob es zu früh war, für alle Freunde öffentlich zu machen, dass sie schwanger war, aber dann hatten andere im zweiten Monat Bilder von ihren wachsenden Bäuchen hochgeladen und sie war von der Stimmung angesteckt worden.
Sie packte aus mit einem misstrauischen Blick zu ihrer Freundin, die, spontan wie sie war, oft auf Ideen kam, die nicht immer zur Situation passten. Sara vergaß nie, wie sie ihr einmal einen ausgestopften Vogel zum Geburtstag verehrt hatte, weil sie sie mit ihrer Angst vor Federvieh aufziehen wollte; sie hatte beinahe einen Herzstillstand bekommen und den Vogel mit einem lauten Schrei entsetzt von sich geworfen, als die ekligen Federn ihre Haut berührten; er flog auf den Boden und der Kopf fiel ab. Ein makabrer Anblick. Kasper hatte ihn entsorgt, als die Gäste gegangen waren. Nur Freja hatte sich amüsiert, aber Sara glaubte nicht, dass es böse gemeint war. Sie wusste es einfach nicht besser. Sie waren ehemalige Klassenkameradinnen und hatten nach vielen Jahren wieder zusammengefunden, obwohl sie in der Schule eigentlich nicht besonders viel miteinander zu tun gehabt hatten. Freja hatte zu der Gruppe gehört, die diejenigen mobbte, die anders waren. Sie selbst hatte versucht, sich da rauszuhalten, was sie dann zu einer Außenseiterin gemacht hatte. Jedenfalls in Frejas Kreis. Die meisten sahen zu ihr auf. Fürchteten sie beinahe. Sie entdeckte überrascht, dass sie fast Nachbarn waren, als sie und Kasper in die Wohnung in Trøjborg zogen. Das war, bevor Freja Thor traf, der Architekt war und selbst ihre extravagante Villa in Risskov entworfen hatte. Sie mussten sich wegen der Kombination ihrer Namen eine Menge anhören und in ihrem Freundeskreis hießen sie bloß die Wikinger, wenn sie erwähnt wurden. Und sie es nicht hörten.
Aber dieses Mal gab es nichts zu befürchten. Nur ein Buch fiel aus dem Papier. Wo habe ich das Baby hingelegt? von Julia Lahme. Sara stand halb auf und umarmte Freja. Hauptsächlich aus Erleichterung. Sie setzte sich wieder auf den Liegestuhl, winkelte das eine Bein an und betrachtete das Cover.
»Glaubst du nicht, dass ich eine gute Mutter werde?« Das klang sicher ein bisschen zu besorgt. Freja sah plötzlich beschämt aus, was man nicht oft erlebte.
»Doch, doch – natürlich wirst du eine gute Mutter, Süße. So war das gar nicht gemeint. Ich habe bloß gehört, dass das Buch total witzig sein soll. Bist du nervös? Herrgott, du bist doch Kinderpflegerin. Was kann da schon schiefgehen?«
»Ach, eine Menge, Freja. Es kann so viel schiefgehen. Wer weiß, ob ich eine gute Mutter werde, auch wenn ich davon lebe, anderen Müttern zu erzählen, wie sie sich verhalten sollen, um es zu sein. Das sagt sich so leicht, und …«
»Jetzt hör schon auf! Du wirst eine Glucke. Garantiert!«
»Ich kann mich erinnern, dass du Probleme hattest, als du mit Sune schwanger warst.«
»Ja, das war echt hart. Ich musste ja die letzten beiden Monate im Bett bleiben und er kam viel zu früh. Zum Glück hat Sune überlebt und ist heute ein superstarker Kerl, obwohl er nicht so aussieht, das dürre und verwöhnte Gespenst.« Sie lachte heiser. »Vielleicht hätte ich auch warten sollen, es ist besser, in deinem Alter Kinder zu bekommen. In den Dreißigern ist man reifer als in den Zwanzigern, und ich fühle mich tatsächlich ein bisschen so, als hätte ich dadurch, dass ich so früh Mutter geworden bin, einen Teil meiner Jugend verloren.«
»Ach, du scheinst doch ganz gut zurechtzukommen, Freja. Möchtest du irgendwas haben? Im Kühlschrank ist kalte Limonade.«
Sara wollte aufstehen, aber Freja war schneller und hielt beide Hände mit gespreizten Fingern vor ihr hoch. »Nein, du bleibst jetzt da! Du bist schwanger! Hurra! Hurra! Und ich kann sie selbst holen. Du willst auch eine, oder?«
»Ja. Und danke.« Sie legte sich zurück auf die Liege und spürte eine Welle der Übelkeit und einen Stich im Unterleib wie Menstruationsschmerzen, aber sie wusste, dass das völlig normal war, weil sich ihre Gebärmutter ausdehnte. Das sagte jedenfalls der Arzt. Durch das offene Küchenfenster hörte sie Freja am Kühlschrank und den Küchenschränken hantieren. »Die Gläser sind im Wohnzimmerschrank«, rief Sara.
Freja kam zurück mit einem Tablett, auf dem ein Glas, eine Kanne Limonade und ein Bier standen. »Ich hatte irgendwie mehr Lust auf ein Bier bei der Hitze. Hab gerade gesehen, dass ihr ein paar belgische im Kühlschrank habt.« Sie stellte das Tablett auf den Gartentisch.
»Bist du nicht mit dem Auto da?«
»Nein, ich hab den Bus genommen. Thor hat heute das Auto.«
»Dann habe ich dich deswegen nicht kommen hören. Ja, dann nimm ruhig eins von Kaspers belgischen, das merkt er eh nicht.« Sara nahm ein Glas mit Limonade entgegen, das Freja ihr reichte. Sie selbst nahm einen großen Schluck aus der Flasche mit Leffe. Sara mochte das nicht, selbst in der Zeit vor der Übelkeit nicht. Schon allein der Geruch reichte aus, dass ihr Darm rumorte.
»Ich hab im Regal gesehen, dass du die Maske noch nicht weggeworfen hast. Wieso hebst du die denn auf?«
»Die Maske? Ach, die aus Venedig. Die ist doch ein Andenken. Ich hatte keine Zeit, mir eine eigene zu kaufen, an dem Morgen ist plötzlich so viel passiert.« Sie trank aus dem Glas und schauderte leicht bei der Erinnerung an den dunklen, kühlen Morgen am Kanal und das tote Mädchen. Das, was sie gesehen hatte, bevor der Leichensack zugemacht wurde, hatte sie nicht vergessen und erlebte es oft in ihren Albträumen. Aber sie sprachen nie darüber, was in Venedig passiert war. Kasper sagte, das ginge sie nichts an und sie sollten versuchen, es zu vergessen. An dem Morgen wurden alle, die im Hotel wohnten, zum Verhör versammelt. Niemand durfte Ort und Stelle verlassen, bis es die italienische Polizei erlaubte, sodass sie nur mit Ach und Krach den Bus zum Flughafen erreichten.
»Es ist lange her, dass du darüber auf Facebook geschrieben hast. Hast du nicht gehört, ob die Polizei den Mörder gefunden hat?«
»Nein, ich weiß auch gar nicht, ob es Mord war oder bloß ein tragischer Unfall.«
»Das war sicher Mord, und der Mörder kann ein Tourist von wo auch immer gewesen sein, der bereits über alle Berge war, als sie gefunden wurde.« Freja schauderte trotz der Hitze. Die Sonne brannte auf ihren Rücken. »Stell dir mal vor, dass sie die Leiche im Wasser direkt vor eurem Hotel gefunden haben. Was für ein Pech, dass du die Kamera nicht dabeihattest und es gefilmt hast, dann hätten wir es online stellen können. Aber ich glaube jedenfalls, dass ich diese Maske weggeworfen hätte. Weil es doch ihre war.« Sie fummelte an dem Flaschenetikett herum.
»Ich weiß ja gar nicht, ob sie diejenige war, die sie gefunden haben.«
»Aber hast du nicht geschrieben, dass dir die Wasserstoffblondine die Maske gegeben hat und sie diejenige war, die du in dem Sack gesehen hast?«
»Ja, aber ich habe Zweifel daran bekommen, ob die Haare wirklich blond waren. Sie waren ja nass und dreckig, daher … aber ist ja auch egal. Das ist ein halbes Jahr her und sie haben den Täter noch nicht gefunden, also werden sie es wohl auch nie.«
»Was ist mit dem anderen Mädchen, die mit der Blondine zusammen unterwegs war? Die du auf Facebook gesucht hast. Hat sie sich mal gemeldet?«
Sara schüttelte den Kopf. Sie war enttäuscht, von überhaupt niemandem dort draußen eine Antwort bekommen zu haben. Die, die sonst auf alles eine Antwort hatten. Nur einige wenige hatten geantwortet, dass sie niemanden kannten, der zu der Zeit in Venedig gewesen war und erst recht niemanden, deren Freundin ertrunken war. Wozu konnte sie das gebrauchen? Von der Maske hatte sie auch ein Bild hochgeladen in der Hoffnung, sie könnte die Freundin dazu bringen, sie zu kontaktieren. Aber das hatte nicht geholfen. Sie wusste natürlich nicht, ob sie Freundinnen gewesen waren, so hatte es bloß ausgesehen, als sie in der Bar saßen. Vielleicht war sie nicht bei Facebook, obwohl Sara sich nicht vorstellen könnte, dass es wirklich jemanden gab, der sich aus dem Netzwerk, wo sich alles abspielte, heraushalten konnte. Dem Nabel der Welt. Sie hatte gelesen, dass jeden Tag 250 000 neue Mitglieder dazukamen. Garantiert war die Freundin des toten Mädchens auch da. Irgendwer musste sie kennen.
»Wieso willst du sie eigentlich finden?«, fragte Freja und nahm einen weiteren Schluck aus der Bierflasche.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie nach einer kleinen Denkpause. Sie hatte nicht einmal Kasper erzählt, dass sie es versuchte. »Vielleicht ist ihr auch was passiert. Sie sind jedenfalls in dieser Nacht zusammen vom Hotel weggegangen.«
»Glaubst du nicht, dass die dänische Polizei in den Fall involviert war? Das Mädchen war hier aus Aarhus, oder?«
»Ja, das meinte Kasper. Er hat mit einer der beiden geredet, als er an dem Abend in der Schlange an der Bar stand, mit der …« Sie schwieg.
»Stand in der Zeitung nichts darüber?«
Sara trank aus dem Glas und schüttelte den Kopf.
»Das ist ja unglaublich!«
»Es war wohl ein Unfall. Sie waren beide betrunken, und die eine ist ins Wasser gefallen und hat sich den Kopf angeschlagen.«
»Trotzdem.«
Der Zwischenfall mit der Tasche war Sara plötzlich wieder präsent. Sie hatten niemandem in der Familie oder im Bekanntenkreis erzählt, dass ihre Tasche gestohlen worden war, weil sie sie aufgrund von zu viel Sambuca einfach in der Bar vergessen hatte. Auch die Facebook-Freunde wussten das nicht. Sie fand es peinlich, und nach einer Menge Neckerei und Spott darüber, dass er es allen – besonders ihren Eltern – erzählen würde, hatte Kasper eingewilligt, dass sie es für sich behalten würden. Das ging andere nichts an. Kasper hatte damals nach vielen Telefonaten mit dem Außenministerium die Auskunft bekommen, er solle das dänische Konsulat in Venedig kontaktieren. Sara hatte einen vorläufigen Pass ausgestellt bekommen, der sie beinahe 40 Euro gekostet hatte. Als sie nach Hause gekommen waren, hatte Kasper die dänische Polizei kontaktiert, aber die konnte selbstverständlich nichts bei einer Tasche machen, die im Ausland gestohlen worden war. Insgesamt war dieser schöne Winterurlaub der reinste Albtraum geworden.
Sie blieben den ganzen Nachmittag im Garten. Freja in der Sonne, Sara im Schatten. Kasper kam mit frischen dänischen Erdbeeren und Gemüse aus einer naheliegenden Gärtnerei und bestand darauf, für die Damen Abendessen zu kochen. Freja ließ sich leicht von ihm zum Bleiben überreden. Sara zwang sich selbst zu genießen, ihren gut aufgelegten Liebsten nicht aufmuntern und unterhalten zu müssen. Sie war selbst müde und ausgelaugt, nachdem sie plötzlich gesellig sein musste an einem Tag, den sie eigentlich allein im Garten zu verbringen geplant hatte, um einfach nur zu entspannen.
Freja nahm den letzten Bus. Kasper wollte sie nicht heimfahren, weil er Rotwein getrunken hatte. Sara war auf dem Sofa eingeschlafen, während sie Kaffee tranken, und Kasper ließ sie schlummern, bis Freja gegangen war. Freja hatte darauf bestanden, dass er sie nicht wecken durfte.
Das Schlafzimmer war unerträglich heiß. Die Abendsonne fiel durch das Dachfenster. Im Winter war es schön, aber in einer heißen Sommernacht wie dieser war es fast unmöglich zu schlafen. Zum Glück würde es Winter sein, wenn sie hochschwanger wäre. Kasper legte eine warme Hand auf die kleine Beule auf ihrem Bauch, als sie sich neben ihn gelegt hatte.
»Ich kann’s echt kaum erwarten, bis er rauskommt.«
»Sie.«
»Er.«
»Sie … willst du gerne wissen, was es wird?«
»Nein, das ist mir egal. Hauptsache es wird ein Kind.«
Sara lachte. »Das kann ich dir nicht mal versprechen. Ich finde, mein Bauch wächst ziemlich schnell im Vergleich zu denen der anderen.«
»Der anderen? Du hast doch wohl nicht die Fotos, die ich von deinem Bauch gemacht habe, hochgeladen?«
»Doch, natürlich. Alle sollen doch wissen, wie es läuft. Wie glücklich wir sind, nicht?« Sie küsste ihn überredend.
»Hmmm.«
Kasper hielt nicht viel von ihrer Begeisterung für Facebook, aber der Tag wäre nicht der gleiche, wenn sie ihre Erlebnisse nicht mit den anderen teilte. Mit ihren Freunden. Kasper war nicht der Meinung, dass man sie als Freunde bezeichnen könnte. Das war wohl das Einzige, worüber sie uneins waren. Er wurde schweigsam.
»Ist irgendwas? Du bist doch wohl nicht sauer, dass ich das mache?«
»Dass du unser Privatleben vor dem Pöbel ausbreitest? Natürlich nicht, Schatz. Mama ist sicher begeistert davon, es mitverfolgen zu können«, sagte er sarkastisch.
Sie schnitt ihm eine Grimasse. Kaspers Mutter war ein richtiges Klatschweib, das falsche Gerüchte über alles verbreitete, von dem sie glaubte, sie hätte es richtig verstanden. Sie war der Typ, der nur Überschriften las und den Rest riet.
»Hey, hast du übrigens daran gedacht, mein Paket bei der Post abzuholen?«
»Jep. Die Postdame hat deine Vollmacht bekommen und ich dein Paket. Es liegt unten in der Waschküche. Warte doch bis morgen, Sara«, sagte er ärgerlich, als sie aus dem Bett sprang und seine Hand daran hinderte, in ihren Slip zu wandern.
»Ich bin doch gespannt, was es ist. Ich erwarte kein Paket von irgendwem.«
Kasper schüttelte den Kopf, drehte sich um und knipste die Lampe auf dem Nachttisch aus.
»Lass das, Kasper. Warte auf mich, ja?« Sie lächelte seinem Rücken versöhnlich zu und huschte schnell die Treppe hinunter in die Waschküche und nahm das Paket mit auf den Wohnzimmertisch. Es war nicht besonders schwer, in gewöhnlichem braunen Packpapier, das sie immer Schlachterpapier nannte, und mit braunem Paketband zusammengeklebt. Kein schönes Päckchen. Es gab keinen Absender. Ihr Name und ihre Adresse waren auf einen Aufkleber gedruckt und sorgfältig auf der linken Seite platziert. Sie riss das Papier in Stücke und starrte verblüfft auf den Inhalt. Es war fast ein halbes Jahr her, dass die Tasche gestohlen worden war, nun lag sie hier auf ihrem Tisch, direkt an ihre Adresse geschickt. Die braune Friis & Company-Tasche aus Kunstleder mit zwei Außentaschen. Sie öffnete die Tasche, aber sie war leer. Die Seitentasche, in der der Pass gelegen hatte, war ebenfalls leer. Es sah aus, als ob die Tasche nass gewesen wäre. Es waren Flecken darauf und als sie die Finger hineinsteckte und suchend darin umherfuhr, spürte sie die Feuchtigkeit. Die Finger stießen auf etwas Kaltes und Rundes. Sie nahm es heraus. Es war ein kleines Schmuckstück, das wie die Miniaturausgabe einer alten Taschenuhr aussah. Die Uhr hing nicht an einer Kette, sondern an einer rot-weißen Wollschnur, die an einem Ende in einer weißen und am anderen in einer roten Quaste endete. Sie öffnete sie und schaute auf die Uhr mit römischen Zahlen. Die Zeiger waren um vier Uhr stehen geblieben. Sie sah antik aus und war auf jeden Fall weder ihre noch Kaspers. Sie fror, obwohl eine Tropennacht angekündigt worden war. »Was ist das für ein kranker Scherz?«, rief sie die Treppe zum Schlafzimmer hoch.
Kasper antwortete nicht, und sie rechnete damit, dass er eingeschlafen war. Sie setzte sich auf einen Stuhl und starrte auf die Tasche und die silberne Uhr.
***