Читать книгу Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 10

5

Оглавление

Es tat in den Augen weh, als sie versuchte, sie zu öffnen. Als ob ein Daumen tief in jedes Lid und hinter die Augäpfel gedrückt würde, um sie herauszupressen.

Der Schlaf hatte Anne Larsen noch nicht ganz losgelassen. Sie steckte immer noch im Traum fest, der sich zu einem wahren Albtraum entwickelt hatte, wo sie um ihr Leben rannte, barfuß über eine Straße aus schwarzem, rauem Asphalt, voller Scherben von zerbrochenen Flaschen. Langsam gelang es ihr, die Augen zu öffnen, die sofort von der Sonne geblendet wurden, die durch einen Spalt im Vorhang hereinfiel. Ein weiterer Stich jagte durch ihren Kopf und sie schloss die Augen sofort wieder. Sie murmelte und schmatzte ein wenig. Der Mund war so trocken, dass die Zunge am Gaumen festklebte. Der Schweiß lief zwischen den Brüsten zum Bauch hinunter. Sie lag auf einem ihrer Arme, er war ganz gefühllos. Der andere ruhte auf etwas Warmem und Weichem. Der Tag drängte sich auf. Oder eher der Tag danach. Die Hirnzellen begannen zu funktionieren, als ob sie eine nach der anderen angingen. Sie hatten Pfingstsamstag gefeiert und waren sich einig gewesen, dass die Pfingstsonne Cancan tanzen sollte. Waren von Kneipe zu Kneipe und von Bar zu Bar gezogen. Sie erinnerte sich an nicht viel ab dem Zeitpunkt, als sie von irgendwo ein Taxi nach Hause genommen hatten.

Ein Murmeln, das nicht ihr eigenes war, ertönte neben ihr. Sie öffnete die Augen erneut, kam jäh aus der Rekonstruktion der Nacht und hörte ihr eigenes Japsen, als sie ihre Hand von der nackten, runden Brust wegzog. Es wäre nicht so seltsam gewesen, wenn sie einen fremden Mann aus der Stadt mit nach Hause gebracht hätte, aber eine Frau! Die andere im Bett drehte ihr im Schlaf das Gesicht zu und murmelte wieder. Es war Sabina. Aber wieso lag sie hier fast nackt in ihrem Bett? Anne erinnerte sich an eine warme und weiche Zunge, nasse Küsse und Hände unter der Bluse, aber war das nicht irgendein Typ irgendwo auf einer Tanzfläche gewesen? Sie hatte viel ausprobiert, aber das nicht. Nicht mit einer Frau, obwohl Esben es oft vorgeschlagen hatte. Damals, als er ein Teil ihres Sexlebens war.

Sie schwang die Beine über die Bettkante, setzte sich auf und griff sich an den Kopf, der noch mehr pochte. Mit der Hand, die nicht erwachend kribbelte, kramte sie die Zigarettenschachtel aus dem Nachttisch, schüttelte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Inhalierte tief ein. Den Rauch ließ sie zusammen mit einem tiefen Seufzer des Wohlbefindens aus dem offenen Mund weichen. Diese Zigarette brauchte sie, sie nahm auch den bitteren Geschmack im Mund in Kauf. Nach einem weiteren Zug betrachtete sie Sabina. Sie schlief immer noch. Das dunkle Goth-Make-up war in ihrem ganzen Gesicht verwischt wie Aquarellfarben auf nassem Papier. Es hatte einen Abdruck auf dem weißen Kopfkissenbezug hinterlassen. Anne lächelte. Sie freute sich für ihre Stiefschwester. Kurz vor Pfingsten hatte sie die Nachricht von der Journalistenhochschule wegen ihrer Aufnahmeprüfung bekommen und war Ende Mai zum Gespräch eingeladen. Es sprach vieles dafür, dass sie das Glück hatte, angenommen zu werden. Sie würde vielleicht die Journalistenausbildung bekommen, die Anne selbst nie erhalten hatte, weil sie einfach nicht still auf einer Schulbank sitzen konnte und Schulen immer gehasst hatte. Normalerweise lebte Sabina auf Nørrebro in Kopenhagen. Wegen des Gesprächs bei der Journalistenhochschule wohnte sie zurzeit bei einem ihrer Green-peace-Facebook-Freunde. Anne hatte gesagt, dass sie in ihrer kleinen Wohnung keinen Platz habe, was stimmte, also warum war Sabina hier? In Wirklichkeit war Anne nicht begeistert über den Besuch gewesen, als Sabina in der Woche vor Pfingsten an ihrer Tür geklingelt hatte. Sie hatte Angst vor dem Gerede ihrer Stiefschwester darüber, ihren Vater zu töten. Hauptsächlich weil sie sich selbst versucht fühlte, es zu tun und drauf und dran gewesen war, bei einem von Sabinas mörderischen Plänen mitzumachen. Ihr Stiefvater war letztes Jahr auf Bewährung entlassen worden, hatte aber trotz allem nicht versucht, sie aufzusuchen. Auch Sabina nicht. Keine von ihnen wusste, wo er sich aufhielt. Sie fürchtete ihn nicht länger. Nicht auf die Art. Sie war erwachsen geworden und hatte mehr Selbstvertrauen bekommen. Er konnte sie nicht länger knechten. Meinte sie. Sabina dagegen fiele es weniger leicht, sich zu wehren. Sie war nur ein großes Kind. Anne hatte Lust, ihr über die Wange zu streichen und sie in dem unruhigen Schlaf zu beruhigen. Sie zuckte und murmelte etwas Unverständliches mit zusammengezogenen Brauen, als wäre sie wütend. Oder verängstigt. Vielleicht träumte sie von ihm. Das ungewohnte Gefühl von Zärtlichkeit für dieses Mädchen erschreckte sie. Sie war trotz allem nicht ihre biologische Schwester, sondern eine Fremde, mit der sie am liebsten nichts zu tun haben wollte. Ein Gespenst aus der Vergangenheit, an der sie arbeitete, sie zu vergessen. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, stand auf und taumelte ins Bad. Die eine Hand stützend am Kopf, die andere am Türrahmen. So stand sie ein bisschen, bis der Arm nicht mehr kribbelte, und plante die nächsten Schritte. Zuerst eine Handvoll Kopfschmerztabletten, dann eine kalte Dusche, dann war sie garantiert wieder klar.

Als sie den Duschhahn zudrehte, hörte sie schwach die Melodie ihres Handys, die versuchte, durch die geschlossene Badezimmertür zu dringen. Hastig riss sie das Handtuch von der Handtuchstange und bedeckte ihren nassen Körper, als die Tür aufsprang und Sabina unbekleidet eintrat und ihr das Handy reichte.

„Das ist eine Fotografin“, sagte sie, wegen der Kippe im Mundwinkel nuschelnd.

„Was zum Teufel bildest du dir ein, einfach so reinzuplatzen?!“

„Ach, man hat wohl Komplexe“, meinte Sabina mit einem kleinen, gekräuselten Lächeln. „Aber ganz ruhig, Ann. Du bist wie alle anderen Mädchen gebaut. Jetzt nimm das Telefon.“

Anne schnappte es ihr grimmig aus der Hand.

„Du sollst auch verdammt noch mal nicht an mein Telefon gehen. Außerdem heiße ich Anne! Mach die Tür zu!“, rief sie ihr nach. Sie hasste es, Ann genannt zu werden.

Es war Ninna, die anrief und kurz mitteilte, dass sie zu einem Auftrag sollten und es eilte.

„Jetzt? Was ist mit Jytte? Kann die sich nicht darum kümmern?“

„Du erinnerst dich wohl, dass sie Urlaub in Dubai macht. Wann kann ich dich abholen?“

„Ähm, gib mir eine Viertelstunde, dann stehe ich unten an der Straße.“

„Musst du jetzt zur Arbeit?“, fragte Sabina neugierig, als Anne aus dem Bad kam, das Duschtuch um sich gewickelt. Komplexe? Vielleicht ein bisschen. Sabina, die diese Art Hemmungen offenbar selbst nicht kannte, lag auf dem Bett und rauchte eine neue Zigarette. Immerhin hatte sie inzwischen einen Slip angezogen. Das schwarze T-Shirt mit Spitze auf den Schultern und einem von roten Rosen umgebenen grinsenden grauen Schädel vorne drauf, das sie gestern Abend angehabt hatte, lag neben dem Bett auf dem Boden. Eigentlich war es sehr hübsch. Sabina hatte dazu einen superkurzen, schwarzen Rock mit Unmengen von Nieten und Tüll getragen, der nur spärlich die Oberschenkel in grobmaschigen Netzstrumpfhosen bedeckte, die sicher mit Absicht löchrig und zerrissen waren. Es erinnerte ein wenig an die Kleidung, die Anne selbst getragen hatte, als sie in Sabinas Alter war und bei Demos auf Nørrebro ganz vorne ging, ohne immer genau zu wissen, wogegen demonstriert wurde. Die Klientel entschied, ob sie teilnahm.

Anne nickte und zog einen Pullover über den Kopf. Sie kramte im Schrank nach einer sauberen Jeans. Es war nur noch eine übrig, die sie schnell anzog. Es war sicher an der Zeit, die Waschmaschine mal wieder anzuschmeißen.

„Ja. Solltest du nicht ein bisschen mehr anhaben?“

„Darf ich mitkommen? Ist es ein Mord?“

„Nein, es ist kein Mord“, log sie. „Und nein, du darfst nicht mitkommen.“ Sie stopfte das Handy in den Rucksack.

Sabina setzte sich auf in den Schneidersitz und hielt die Zigarette über den Bettrand; es war besser, die Asche auf die Dielen fallen zu lassen als auf das Laken.

„Ich bin doch selbst bald Journalistin, Ann. Es wäre echt cool, wenn ich sehen würde, wie du arbeitest“, nervte Sabina weiter mit einem kindlich bittenden Gesichtsausdruck.

„Ich arbeite bei einem Fernsehsender und nicht bei einer Zeitung, wo du sicher starten wirst, falls du überhaupt in die Schule kommst.“ Sie nahm den Rucksack an dem einen Riemen über die Schulter. „Jetzt geh erst mal duschen. Du siehst wie nach ’nem Unfall aus!“

„Okay.“ Sabina langte zu dem Aschenbecher auf dem Tisch und drückte die Zigarette mit einem kleinen, schiefen Lächeln aus. Genau so wollte sie ja aussehen.

Sie wartete nicht lange, bis das TV2 Ostjütland-Auto am Bürgersteig hielt. Ninna öffnete die Tür zum Beifahrersitz, damit Anne einfach reinspringen konnte.

„Was weißt du über den Mord?“, fragte sie und spürte das Adrenalin bereits in den Ohren sausen. Das Gefühl, das sie an ihrem Job als Kriminalreporterin liebte. Das Sausen, auf das sie nicht verzichten konnte.

Es war nicht viel Verkehr. Die Leute hatten frei und viele verbrachten ihren Pfingst-Kater drinnen mit zugezogenen Gardinen, obwohl sich der Sommer heute von seiner schönsten Seite zeigte. Anne öffnete das Fenster und genoss den Wind in den Haaren, die noch nicht ganz trocken waren. Die Kopfschmerztabletten hatten angefangen zu wirken.

„Nur, dass es ein Messermord in einer Wohnung in Fjældevænget ist.“

„Mann oder Frau?“

„Mann. Warst du gestern feiern?“

Anne schielte zu Ninna und strich sich linkisch die Haare zurück. War das wirklich so deutlich? Ninna dagegen sah ungewöhnlich frisch aus.

„Und ob. Du nicht?“

Ninna guckte in den Außenspiegel, bevor sie links abbog und über die Ringstraßenbrücke weiterfuhr. Hier herrschte normalerweise ein Gewimmel von Fahrradfahrern und Fußgängern, aber so war es heute nicht, sie hatten fast freie Fahrt. Anne guckte nach unten auf die Züge, die einer Reihe ungeduldig wartender Stahlwürmer ähnelten, die zum Einsatz bereitstanden. Jedes Mal, wenn sie über die Brücke fuhr, dachte sie an damals, als sie angefangen hatte, Risse zu bekommen, und Betonstücke unter der Brücke herunterfielen. Die DSB, deren Team da unten an den Schienen arbeitete, kontaktierte die Gemeinde Aarhus wegen des Problems, aber die Ingenieure meinten, die Brücke sei sicher genug. Als das Problem bestehen blieb, musste die Gemeinde doch in die Tasche greifen und sich den Beton nochmals anschauen. Anne hatte als Neuling bei der nun geschlossenen Lokalzeitung Tageblatt mehrere Artikel über die Sache geschrieben. Heute war die Brücke umgebaut mit extra Linksabbiegerspur in die Værkmestergade.

„Nee, wir betrinken uns nicht.“

„Wir?“

„Ja, in unserer Familie.“

„Okay.“ Anne musste nicht wissen wieso, deshalb nickte sie nur und sah die Eisenbahn unter sich verschwinden.

„Mein Vater ist Moslem“, fuhrt Ninna dennoch fort. „Wir trinken nicht.“

Du bist Muslimin?“, fragte Anne überrascht und schaute Ninna verblüfft an, die nicht nordischer hätte aussehen können.

„Ich nicht. Nicht so. Ich bin auch nicht getauft, wir Kinder durften selbst entscheiden, an welche Religion wir glauben wollten. Natürlich wäre es meinem Vater am liebsten gewesen, dass wir Moslems geworden wären. Ein moslemischer Vater hat die Pflicht, seine Kinder im islamischen Glauben zu erziehen.“ „Was ist denn mit deiner Mutter?“

„Die ist Dänin und Christin, wie es Dänen nun mal sind.“

Darf ein moslemischer Mann wirklich einfach so eine Christin heiraten?“

„Dem Islam zufolge ist es einem moslemischen Mann gestattet, aber eine Muslimin darf keinen Christen heiraten.“

„Und da reden wir von Gleichberechtigung …“

Ninna sah schnell zu ihr. „Ja, das war eine große Herausforderung für meine Mutter, die Familie zum Funktionieren zu bringen, sodass auch Platz für Allah ist, aber es hat geklappt.“ „Du siehst aber gar nicht besonders … fremd aus“, konstatierte Anne und lächelte, damit es nicht missverstanden wurde.

„Mein Vater ist Türke und ist in den 70ern der Arbeit wegen nach Dänemark gekommen - damals gab es einen Mangel an Arbeitskräften. Hier hat er meine Mutter getroffen, der ich ähnlich sehe.“

Ninna schaute wieder in den Außenspiegel, als sie vom Herredsweg abbog. Es war leicht zu sehen, wo der Mord passiert war. Das blaue Auto der Kriminaltechniker parkte neben einem Streifenwagen. Ninna bog ein und parkte hinter dem blauen Lieferwagen vor den gelben Gebäuden. Der Großteil der städtischen Presse war ebenfalls erschienen und drängelte hinter dem Absperrband der Polizei, das die Haustür und ein Stückchen des Gebüschs davor einrahmte.

Bevor Anne aus dem Auto stieg, hatte sie Vizepolizeidirektor Anker Dahl entdeckt, der aussah, als wolle er den Schauplatz verlassen, aber nun auf dem Parkplatz von Journalisten mit Mikrofonen als verlängerte Arme gestoppt wurde. Sie hatte mit dem neuen Vizepolizeidirektor keinen guten Start gehabt und atmete tief ein. Wäre Jytte nicht im Luxusurlaub in Dubai, hätte sie ganz sicher den Auftrag übernommen. Sie war die Topreporterin und -moderatorin von TV2 Ostjütland und wusste immer, wie sie sich benehmen musste. Das war Annes Strafe dafür, einmal ein Interview mit dem Vizepolizeidirektor falsch angegangen zu haben, dass Jytte sich nun darum kümmerte, wenn es um Interviews mit Polizisten, Politikern und Beamten ging, sodass der kleine Fernsehsender seinen guten Ruf nicht ruinierte. Alle hatten Vertrauen zu Jytte, und der Vizepolizeidirektor hätte ihr ganz bestimmt nicht den Blick zugeworfen, den Anne nun hinnehmen musste, als sie sich den Weg nach vorn gebahnt hatte. Deswegen fragte sie auch nicht sofort etwas, sondern hielt lediglich ihr Diktiergerät hin, um die Antwort auf die Frage eines anderen Journalisten aufzuschnappen.

„Das Einzige, was ich gerade sagen kann ist, dass es sich um einen Messermord handelt“, war die abweisende Antwort. „Sie müssen auf die Pressekonferenz warten.“

Aber das war eine Phrase, mit der sich Journalisten nie abspeisen ließen.

„Ist der Tote polizeibekannt?“, wollte einer von ihnen wissen.

„Dazu kann ich mich nicht äußern.“

„Haben Sie Verdächtige?“, ertönte es von einem anderen.

Anker Dahl öffnete die Tür zu seinem Auto und schüttelte den Kopf als Indikator dafür, dass er die Versammlung für einen Haufen unintelligenter Individuen hielt, die ein Nein nicht als ein Nein verstanden.

„Ist es eine interne Auseinandersetzung? Banden?“, fragte Anne, da sie wusste, dass diese Frage den Vizepolizeidirektor zum Antworten bringen würde. Jedenfalls, wenn das nicht der Fall war.

Anker Dahl drehte sich zu ihr um, die eine Augenbraue schoss anklagend hoch zur Stirn. „Hier ist nicht die Rede von Bandenkonflikten. Das kann ich mit Sicherheit sagen!“

Stillschweigend vorausgesetzt, dass die Polizei von Ostjütland das Bandenmilieu in Aarhus im Griff hatte, dachte Anne und hatte Lust, bei dem Thema viel mehr nachzubohren.

„Sie tappen also völlig im Dunkeln?“ Eine Feststellung, von der sie wusste, dass er ebenfalls darauf reagieren musste, um nicht als inkompetent dazustehen.

„Wir arbeiten vorläufig mit der Theorie eines Mordes im Affekt.“

„Was macht das glaubhaft?“, meldete sich eine bekannte Stimme zu Wort, bevor Anne nachhaken konnte. Sie schaute sich um und versuchte den Mann auszumachen.

„Wie ich gerade sagte, habe ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren Informationen.“

Das war der letzte Kommentar. Anker Dahl setzte sich in sein Auto, knallte die Tür zu und fuhr. Die Journalistenschar löste sich auf; jetzt galt es, schnellstmöglich in die Redaktionen zurückzukehren und die Neuigkeit als Erster zu bringen. Dann entdeckte Anne ihn. Nicolaj. Natürlich war es Nicolaj. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit sie bei Media House Denmark aufgehört hatte, wo er immer noch Reporter war. Dem Anzug und dem Auto nach zu urteilen, zu dem er lief, schien es ihm gut zu gehen. Sie eilte zu Ninna, die das Gebäude filmte, in dem der Mord stattgefunden hatte. Die Kriminaltechniker wühlten in den Büschen davor und ein Beamter bat sie zu verschwinden. Ninna packte die Kamera ein, behielt aber gleichzeitig etwas hinter Annes Rücken im Auge.

„Ein rothaariger Mann ist auf dem Weg hierhin. Er ruft nach dir, Anne“, teilte sie mit.

Sie hatte es gehört. „Tu so, als ob du ihn nicht siehst, ich helfe dir gleich damit, das Auto zu beladen.“

„Aber wer ist das? Ach nee, ist das nicht Nicolaj? Nicolaj Bang?“, flüsterte Ninna aufgeregt.

„Und wenn? Kennst du ihn?“

„Wer nicht?! Er war ja kurz davor, den Cavling-Preis zu gewinnen. Das war irgendwas mit einer großen Sache in Italien.“

„Ja, und willst du wissen, warum er nicht gewonnen hat?“, fauchte Anne ein bisschen gereizt, schwieg aber, als Ninna ihr den Ellbogen fest in die Seite stieß.

„Hi, Anne. Ich dachte mir doch, dass du das bist.“

Anne drehte sich um, den Rücken an der Autotür, die sie gerade zugeworfen hatte. „Hi, Nicolaj!“ Es war immer unmöglich, überrascht zu klingen, wenn man es nicht war.

„Ja, ich hab ja schon gehört, dass du jetzt für TV2 Ostjütland arbeitest“, lächelte er und begrüßte Ninna, die rote Wangen bekam und seine ausgestreckte Hand drückte, als wäre es die Justin Biebers.

„Eine unheimliche Sache“, sagte er und nickte in Richtung Gebäude. „Der Vizepolizeidirektor hat sehr schnell zurückgewiesen, dass es sich um einen Bandenkonflikt handelt. In diesem Milieu kann man schnell auf den Gedanken kommen“, fuhr er fort und schaute zu einer Gruppe Jugendlicher hinüber, die sich auf dem Parkplatz versammelt hatten, die Motoren ihrer Mopeds im Leerlauf. Schwarze Jungs, alle mit markanten Undercut-Frisuren.

„Nur weil man in Aarhus West wohnt, schwarz ist, Hoodies und Lederjacken trägt und Moped fährt, muss man ja nicht gleich Mitglied einer kriminellen Bande sein“, wehrte Anne ab und gab der verwirrten Ninna ein Zeichen, dass sie losmussten.

Sie öffnete die Autotür.

„Warte, Anne! Es ist lange her. Können wir uns nicht treffen? Wir sprechen oft über dich bei Media House Denmark.“

„Sicher nichts Gutes! Wir haben’s eilig, Nicolaj.“

„Warum bist du so abweisend? Wir könnten wieder zusammenarbeiten.“

Anne knallte die Autotür zu und ging zu ihm hinüber, sah ihm direkt in die grünen Augen, die sofort anfingen zu flackern.

„Ja, du hättest gerne eine neue Chance, einen Preis zu gewinnen, stimmt’s? Aber dieses Mal ohne meine Hilfe!“

„Das war ich nicht, Anne. Joakim Boysen … der Chefredakteur hat mich eingestellt und ich …“

„Du warst ganz scharf darauf, den zu bekommen, aber weißt du was, Nicolaj? Ich habe mich gefreut, als er an jemand anderen ging, der ihn mehr verdient hat. Komm, Ninna! Ich fahre!“

Die Fotografin wusste glücklicherweise, wann es sich nicht auszahlte zu diskutieren, und warf ihr den Autoschlüssel zu. Anne fing ihn und schaute zurück. Hier gab es nichts mehr zu holen. Die Leiche war in die Rechtsmedizin transportiert worden und die Kriminaltechniker sagten keinen Ton. Es freute sie zu sehen, dass Nicolaj zu seinem schicken Auto zurückschlich und sich hineinsetzte. Aber er würde ihr immer einen Schritt voraus sein. Er wohnte mit Natalie Davidsen zusammen. Soweit sie gehört hatte, hatten sie letztes Jahr geheiratet. Sie hatten eine kleine Tochter zusammen und sie wusste, dass die Rechtsmedizinerin mit Informationen sehr großzügig war, obwohl ihr Mann für die Presse arbeitete. Sogar für die Sensationspresse. Wenn sich Anne eines Tages wirklich rächen wollte, dann würde sie da ansetzen. Dass sie es nicht bereits getan hatte, war allein der Tatsache geschuldet, dass es am besten war, mit Natalie Davidsen auf gutem Fuß zu stehen, da sie diejenige war, die den größten Ärger bekäme, wenn es jemand erfahren würde.

„Unfassbar, dass du Nicolaj Bang gegenüber so abweisend sein kannst“, murmelte Ninna, während sie sich anschnallte.

„Ich verstehe nicht, was du in ihm siehst. So ein Grünschnabel. Er war mal mein kleiner, rotziger Praktikant.“

„Aber er ist total kompetent. Ich habe gehört, was du zu ihm gesagt hast über den Cavling-Preis. Also, ich bin da anderer Meinung. Das war viel Arbeit, die er reingesteckt hat, um diesen Artikel zu schreiben.“

„Der eine Menge wichtiger Dinge verschwiegen hat, Ninna. Ich habe damals selbst für Media House Denmark gearbeitet und in diesem Fall ist nicht die ganze Wahrheit ans Licht gekommen. Deswegen hat er wohl auch nicht gewonnen.

Sie bremste scharf, als ein Fahrradfahrer plötzlich der Meinung war, die Straße überqueren zu wollen, ohne ein Zeichen zu geben. Das war knapp. Anne zeigte ihm den Mittelfinger und kriegte ihn auch gezeigt.

Sie fuhren lange schweigend. Die Ereignisse in Italien vergangenen Herbst flammten wieder auf mit gemischten Gefühlen. So viele, dass sie sie nicht sortieren konnte und sich an das Gute hielt: Die Freundschaft mit Giacomo Pasquale, dem italienischen Kollegen von Il Manifesto, den sie in Milano getroffen hatte. Es war lange her, seit sie miteinander gesprochen hatten. Vielleicht sollte sie dieses Mal anrufen. Bisher hatte immer er den Kontakt gesucht und es war nicht, weil sie keine Lust hatte.

„Haben wir genug für die Sendung heute Abend?“, unterbrach Ninna ihre Erinnerungen.

„Wir haben ja nichts anderes.“

Beinahe bereute sie, Nicolajs Angebot einer Zusammenarbeit nicht angenommen zu haben. Natalie kannte alle Details und die würde Nicolaj bald auch kennen. Ihr kam eine Idee.

„Hast du dein Smartphone dabei, Ninna?“

Ninna nickte. „Klar.“

„Dann versuch mal gerade, auf www.mediahousedenmark.dk zu gehen und klick auf den Link, auf dem Lokales und Breaking News steht.“

Ninna holte ihr Telefon aus der Tasche, entsperrte es mit zwei schnellen Fingerbewegungen über den Bildschirm und tippte. Während sie las, achteten Annes Augen besonders aufmerksam auf die Straße. Auch wenn wenig Autos unterwegs waren, war es nötig, sich zu konzentrieren. Vielleicht noch mehr aus dem Grund, da alle dachten: Wir machen einfach, was uns passt, weil ja eh kein Verkehr ist.

„Nee, oder?!“, rief Ninna und brachte sie doch dazu, den Blick von der Straße zu nehmen.

„Die schreiben, dass heute noch ein Mord passiert ist. Offenbar in der Lundbyesgade.“

Anne wusste es. Diese Informationen konnten sie eigentlich nur von der Rechtsmedizinerin haben, da es nirgendwo sonst veröffentlicht worden war.

„Warum haben wir nichts davon gehört?“

„Vielleicht, weil es zuerst für einen Herzstillstand gehalten wurde. Eine junge Frau. Aber jetzt behandelt die Polizei es als Mord.“

„Wieso?“

„Darüber steht hier nichts.“

„Okay, dann müssen wir herausfinden, was in der Lundbyesgade passiert ist.“

Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9

Подняться наверх