Читать книгу Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 6

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Der Staub kitzelte irritierend in seiner Nase. Er nieste. Ein Bild in dem Pappkarton, den er gerade geöffnet hatte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er hob es hoch. Es waren Tante Giovanna und Salvatore, fotografiert mit den blaugrauen Kegeln des Vesuvs vor einem leicht bewölkten Himmel und dem ruhigen, blauen Tyrrhenischen Meer im Hintergrund. Sie saßen auf der Mauer am Meer an der Via Nazario Mauro in Neapel unter einer dieser hübschen, alten, dreiflammigen Straßenlaternen, die er liebte. Rolands Mund wurde trocken. Aber nicht aufgrund der nostalgischen Gefühle wegen der Laternen. Wer hatte seinerzeit dieses Foto gemacht? Salvatore musste darauf dreizehn Jahre alt sein, zwei Jahre, bevor er ermordet wurde. Warum lag es eigentlich hier? Es sollte aufgestellt sein. Oben im Wohnzimmer. Er starrte lange darauf. Spürte den Druck im Brustkorb und wie sein Atem schneller ging. Dann wickelte er es wieder in eine von 2009 datierte Zeitungsseite und legte es vorsichtig zurück in die Kiste, wobei ihm einfiel, warum es nicht aufgestellt war. Damit sie nicht jeden Tag an Salvatores Schicksal erinnert wurden.

„Es ist ja nur für eine Weile“, sagte Rikke hinter ihm wie eine Fortsetzung der gedämpften Unterhaltung, die sie geführt hatten, bevor sie mit einem Stapel gefüllter Pappkartons die Treppe hoch verschwand. Roland, der immer noch in die Erinnerungen an Salvatore vertieft war und nicht gehört hatte, dass sie zurückgekommen war, zuckte zusammen. Rikke nahm einen weiteren Pappkarton, um ihn nach oben auf den Anhänger zu schleppen, der zur Mülldeponie gefahren werden sollte. Irene war oben in der Küche. Sie bereite zusammen mit Marianna das Pfingstessen vor. Ab und zu hörte er seine Enkelin lachen; das Geräusch erhellte ein bisschen die düstere Stimmung, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Sie würden draußen im Garten sitzen. Das Wetter war gut. Viel zu gut, um hier unten in einem dunklen, staubigen Keller zu stehen.

„Den Karton hier darfst du nicht wegschmeißen“, sagte er heiser und schob ihn mit dem Fuß in eine Ecke, weg von den anderen Kisten.

„Mama hat ein riesengroßes Herz, dafür lieben wir sie doch, stimmt’s? Wovor hast du Angst?“, fuhr seine Tochter fort.

„Ich habe keine Angst, Rikke. Aber wir wissen ja nicht, wer die sind.

„Sie sind Menschen in Not, Papa. Und sie haben keinen Platz zum Wohnen!“

Rikke drehte ihm mit einem neuen Stapel Kartons im Arm den Rücken zu und ging damit die Kellertreppe hoch.

Roland antwortete nicht. Wie Irene ihn dazu hatte überreden können, verstand er immer noch nicht, aber ihren Argumenten konnte man selten etwas entgegenhalten. Und sie war aufgeblüht, seit sie als Freiwillige für die Dänische Flüchtlingshilfe arbeitete. Und natürlich hatte sie recht. In nächster Zeit würden viel mehr Flüchtlinge nach Aarhus kommen als angenommen, und die Gemeinde hatte es schwer, Platz zu finden. Es ist unsere Pflicht zu helfen, sagte Irene. Aber ganz Europa hatte Probleme, Platz zu finden. Roland putzte sich die Nase und schaute sich um. Sie wurden des Chaos allmählich Herr. Die Zimmer der Mädchen, die seit ihrem Auszug vor langer Zeit ungenutzt waren, waren instand gesetzt worden und nun, da der Keller aufgeräumt und geputzt war, konnte man hier mehrere Betten aufstellen. Nur übergangsweise. Darauf musste er Irene festnageln. Nur, bis die Gemeinde geeignete Unterkünfte für sie gefunden hatte.

Er hörte das Poltern auf der Treppe und schaute auf.

„Ich habe den Staubsauger dabei. Sind wir dann nicht auch bald fertig?“, meinte Rikke und steckte den Stecker rein. Der Apparat röhrte, sodass man schreien musste, um ihn zu übertönen.

„Doch! Ist Tim schon da?“

„Ja, er deckt zusammen mit Marianna den Tisch!“, rief sie und er musste vor der Düse des Staubsaugers flüchten, die vor und zurück um seine Füße herum fuhr.

„Wollte er nicht den Anhänger zur Deponie fahren?“ „Ja, das macht er nach dem Essen!“

Roland verließ den Lärm im Keller und eilte die Treppe hinauf. Angolo stand oben bereit und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte kläglich gewinselt, als Roland morgens die Stufen hinuntergegangen war. Der Schäferhund konnte nach der Schulteroperation vor ein paar Jahren keine Treppen mehr laufen. Der Tierarzt hatte prognostiziert, der Hund würde nie wieder normal gehen können. Er humpelte mit Irene um die Wette. Sie teilten das gleiche Schicksal. Roland griff mit beiden Händen in das dicke Fell um den Hals des Hundes und schüttelte es liebevoll, während er ihn gedämpft zum Spielen aufforderte; dann erstarrte er, als er durch die offene Terrassentür die Stimmen im Garten hörte. Dagnys gurrende Stimme tat ihm in den Ohren weh und Carl Ernsts beständiger Tabakhusten folgte. Der Truthahn und die Krähe, wie Roland seine Schwiegereltern gerne nannte. Natürlich nur, wenn niemand es hörte. Der voluminöse Körper seiner Schwiegermutter mit vorgewölbter Brustpartie und zitterndem, fettem Truthahnhals und die magere, zusammengesunkene, verschreckte Erscheinung seines Schwiegervaters und sein Gesicht mit den schmalen, eingefallenen Wangen samt des schnarrenden Hustens hatten diese Assoziationen hervorgerufen. Wie diese Kombination einen Schwan, wie er Irene bezeichnete, hatte hervorbringen können, darüber hatte er sich oft gewundert. Selbstverständlich hielten sie sich über Pfingsten bei dem schönen Wetter in ihrem Zelt auf dem Blommehaven Campingplatz beim Adlerhorst auf. Angolo legte die Ohren an und zog sich ein wenig von den Geräuschen zurück. Roland nickte verständnisvoll und ließ den Hund los. Es war verblüffend, wie Tiere sich erinnerten. Angolo verduftete in der Regel, sobald er ihr Auto hörte. Wie Roland es am liebsten auch tun würde. Dagny hatte dem Hund mal unter dem Tisch mit einem spitzen Schuh einen Tritt versetzt, als sie dachte, niemand würde es bemerken. Damals war Angolo ein Welpe und hatte noch nicht gelernt, in seinem Körbchen zu bleiben, wenn Gäste zum Essen kamen. Es war spannender, unterm Tisch zu liegen und zu sehen, ob ein Leckerbissen runterfiel, und das tat er in der Regel bei Dagnys Stuhl. Sie machte auch kein Geheimnis daraus, dass sie Hunde nicht ausstehen konnte. Überhaupt hielt sie mit ihrer Meinung selten hinterm Berg. Eine Eigenschaft, die Roland normalerweise für lobenswert hielt, aber nicht bei Dagny. Ihre Ansichten ließen ihn in der Regel die Kontrolle über sein Temperament verlieren. Irene warf ihm vor, er wolle die Äußerungen ihrer Mutter als provokant auffassen, egal, was sie sagte, und dass es deswegen immer so schiefginge. Nur um Irenes willen hatte er daher angefangen die Zähne zusammenzubeißen und zu versuchen, die Wut und die Sticheleien zu ignorieren, die die Schwiegermutter ihm entgegengackerte. Und es war nicht nur, weil er sie falsch verstand.

„Ich wusste nicht, dass sie kommen wollten“, flüsterte Irene beinahe entschuldigend, als er sich neben sie stellte und die Hände in der Spüle wusch. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah die Familie im Garten. Marianna war dabei, Gläser auf den Tisch zu stellen, und Tim unterhielt sich mit Carl Ernst, der nicht überraschend Rolands Stammplatz gewählt hatte und völlig desinteressiert an Tims Redeschwall weiter oben etwas betrachtete. Das Dach natürlich. Die Villa war ursprünglich Irenes Elternhaus gewesen, das sie den Schwiegereltern abgekauft hatten, da sie in etwas Kleineres in der Stadt ziehen wollten. Der Schwiegervater hatte Roland immer kritisiert, er vernachlässige das Dach. Sie hatten auch geplant, es instand zu setzen, aber dann war das mit Irene passiert, was den Großteil der Ersparnisse aufgebraucht hatte - oder besser gesagt: alle. Von diesem Teil von Irenes Operation wussten Dagny und Carl Ernst nichts, sie waren sich trotz allem einig gewesen, es zu verschweigen, obwohl Irene ihren Eltern normalerweise alles anvertraute. Seiner Meinung nach viel zu viel. Dagny lief umher und betrachtete die Bepflanzung. Viele der Bäume und Büsche hatte sie selbst ausgewählt und gepflanzt, damals, als die Villa ihnen gehörte, und die Inspektion lief ganz sicher darauf hinaus, sich zu vergewissern, dass sie korrekt gehegt und beschnitten wurden. Zweifelsohne waren weitere Vorwürfe im Anzug.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht - und lass das Brummen“, flüsterte Irene weiter mit einem kleinen, tadelnden Lächeln.

„Was für ein Gesicht?“, fragte er und trocknete, ohne den Blick von den Geschehnissen im Garten abzuwenden, die Hände am Geschirrtuch, das am Griff der obersten Schublade hing.

„Du bist schon bereit, in die Offensive zu gehen, das kann ich dir ansehen, und du knurrst wie ein Löwe, der eine Beute ausgewählt hat.“

„Quatsch!“ Roland lächelte überzeugend und küsste sie auf die Wange. „Soll ich was mit rausnehmen?“

„Den Schnaps. Das wird Papa freuen“, sagte sie und blinzelte ihm neckend zu.

Es zog nur ein bisschen in dem einen Bein, wenn sie ging. Er bemerkte, dass sie sich schmerzlich bemühte, damit nicht zu viele Fragen zu ihrem Gesundheitszustand kamen. Die Krücken waren nicht an ihrem üblichen Platz in der Ecke, sondern sicher im Flurschrank versteckt. Irene hasste es, über ihre Behinderung zu sprechen. Aber er verstand sie gut und der Drang, sich neben Angolo im Korb in der Wohnzimmerecke zusammenzukauern, war beinahe unwiderstehlich. Die Schwiegereltern hatten ihm nie verziehen, dass er Irene an jenem Abend allein gelassen hatte. Sie wussten offensichtlich nicht, dass er selbst es sich auch nicht verziehen hatte.

Die Schnapsflasche war eiskalt, aber es fühlte sich an den Fingern wie eine Verbrennung an, als er sie nach einem tiefen Atemzug raus in den Garten trug, zusammen mit dem Currysalat, den Irene vergessen hatte mitzunehmen. Es gelang ihm, wenige Sekunden bevor er den Tisch erreichte, das Lächeln aufzusetzen.

„Ach, Rolando, bist du auch hier?“, schnatterte Dagny, sobald sie ihn sah. „Ich dachte, du wärst arbeiten, wie immer.“

„Rolando hat doch den Job gewechselt, Mama. Er ist nicht mehr bei der Polizei, deswegen muss er nur, wenn er Dienst hat, vielleicht Überstunden machen, aber das passiert glücklicherweise selten“, antwortete Irene für ihn und streichelte ihm beruhigend den Rücken. „Und dafür bin ich sehr dankbar“, fügte sie hinzu.

„Ach ja, du bist ja jetzt bei der DUP, das hatte ich ganz vergessen. Jetzt stellst du deinen eigenen Leuten nach.“

Wenn er das Lächeln als humorvoll oder freundlich hätte interpretieren sollen und nicht als höhnisch, dann wären seine Fähigkeiten als Menschenkenner völlig auf dem Holzweg gewesen. Er setzte sich und öffnete den Schnaps.

„Ich stelle niemandem nach, Dagny. Auch Polizisten haben ein Recht auf gerechte Ermittlungen, wenn sie einer Gesetzwidrigkeit beschuldigt werden. Genau wie wir anderen. Ich arbeite im Dienste der Wahrheit. Willkommen und schöne Pfingsten!“, sagte er und erhob das Glas, als alle eingeschenkt bekommen hatten.

Die Blutbuche warf einen angenehmen Schatten auf den Tisch und die Temperatur war perfekt. Der Duft der Juniblumen des Gartens dominierte. Besonders von der Magnolie mit den großen, rosafarbenen, tulpenähnlich geformten Blüten, deren Duft beinahe den Hering übertünchte, mit dem Roland sich gerade eindeckte. Die Unterhaltung bei Tisch war gedämpft und wechselseitig mit dem Sitznachbarn, nur Marianna war zwischendurch ein bisschen laut, bis sie der Blick ihrer Urgroßmutter traf. Dagny hingegen war schweigsam, während sie sich vollstopfte. Hätte Angolo gesehen, was ihm entging, wäre er sicher aus seinem Versteck gekommen. Wenn er sich getraut hätte. Roland fühlte sich allmählich ruhiger und atmete einigermaßen normal. Vielleicht war das eine der seltenen Zusammenkünfte, bei denen es nicht völlig schieflief. Vielleicht weil Rikke, Tim und Marianna auch hier waren. Aber jetzt ging der Schnaps Carl Ernst ins Blut, er hustete und mit roten Wangen nahm er schließlich das Dach in Angriff.

„Es würde es sehr verschönern, dieses Moos und die Algen zu entfernen, Schwiegersohn“, sagte er so laut, dass alle am Tisch aufhörten zu essen und ihn anschauten. Es kam auch nicht oft vor, dass er einfach das Wort ergriff. Normalerweise musste man ihn ansprechen, bevor er etwas sagte.

„Wir haben auch vor, das …“, begann Roland.

„Ja, es wäre besser gewesen, das Geld dafür zu verwenden, statt die alten Zimmer und den Keller zu renovieren. Wozu eigentlich?“, unterbrach Dagny und wandte ihm so schnell das Gesicht zu, dass das Kinnfett schwabbelte.

„Weil da doch jemand wohnen soll, Omi“, erklärte Marianna erwachsen und Roland krümmte sich innerlich. Sein Blick suchte Irene. Er wusste nicht, wie viel sie ihren Eltern erzählt hatte. Ob sie überhaupt von ihrem Job bei der Dänischen Flüchtlingshilfe gehört hatten. Vermutlich nicht.

„Wer soll da wohnen? Irene, du willst doch wohl keine Obdachlosen beherbergen?!“

„Das sind keine Obdachlosen, Mama.“

Irene legte Messer und Gabel auf den Teller und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Rüstete sich zum Kampf, das konnte er sehen. Nun musste sie sich daran erinnern, dass die Äußerungen ihrer Mutter nicht provozierend waren.

„Das sind Afrikaner, Omi“, war Marianna behilflich.

„Afrikaner?!“

Dagnys Ausbruch klang, als wäre ihr etwas im Hals stecken geblieben. Schön wär’s.

„Die Gemeinde kann nicht alle Flüchtlinge unterbringen, die gerade ins Land kommen.“

„Wer kann das, Irene? Ich habe natürlich die Bilder im Fernsehen gesehen, aber wir können doch nicht ganz Afrika hier in Dänemark wohnen lassen, oder!“

„Das ist ja nicht ganz Afrika, Mama. Aber wenn wir mit einer Unterkunft helfen können, bis die Gemeinde eine bessere Lösung findet, dann tun wir das.“

„Ich finde es menschlich und lobenswert, was Mama und Papa machen. Diese armen Menschen haben viel durchgemacht, also müssen wir ihnen helfen“, sagte Rikke ernst.

Tim nickte.

„Ist das wirklich wahr, Irene? Ihr wisst ja nicht, wer die sind!“, unterbrach Dagny. „Vielleicht sind das die, die Leute köpfen und Terroranschläge ausführen!“, unterbrach Dagny.

Mariannas Augen waren groß und kugelrund geworden, während sie mit offenem Mund lauschte. Sie sprang von ihrem Stuhl und lief zu Irene. „Stimmt das, Oma? Können die euch köpfen?“

„Nein, meine Süße. Natürlich können die das nicht. Das sind nicht die, die hierherkommen. Die flüchten nämlich vor denen, die Leute köpfen wollen. Geh mal rein und guck, ob Angolo nicht ein bisschen Gesellschaft braucht. Sein Ball liegt in der Garage.“

Marianna lächelte erleichtert und lief ins Haus. Kurz darauf hörten sie Angolo begeistert bellen und Marianna lachen. Am Tisch war es still geworden. Roland empfand es als seine Pflicht zu übernehmen.

„Die Flüchtlinge wohnen nur übergangsweise hier, und der PET, der Inlandsnachrichten- und Sicherheitsdienst, hat unter Kontrolle, wer ins Land kommt.“

„Ach, glaubst du wirklich, Rolando? Das würde mich sehr erstaunen! Die haben doch überhaupt nichts unter Kontrolle. Diese Menschen pilgern doch nur hierher, um Anteil an unseren Gütern zu bekommen. Wir können es uns nicht einmal leisten, für die unsrigen zu sorgen.

„Zynische Menschenschmuggler sind schuld an dieser gefährlichen Flucht über das Mittelmeer. Die muss man stoppen“, unterbrach Tim und machte ein Bier auf.

„Ja, und die sind richtig geschickt darin, den Fremden zu erzählen, wie sie nach Dänemark kommen und Asyl und eine Familienzusammenführung erreichen. Und dafür benutzen sie doch alle dieselbe Geschichte: sie wurden gefoltert und werden getötet, falls sie zurückkehren.

Dagnys Blick war voller Trotz und Überzeugung. Roland spürte die Ameisen im Nacken. Jetzt bissen sie und er biss die Zähne zusammen.

„Und wir beklagen uns hier in Dänemark. Denk an Lampedusa, Sizilien und Süditalien, ganz zu schweigen von Griechenland und den griechischen Inseln, wo die Bootsflüchtlinge stranden - die, die überleben. Die können sie nicht zurückschicken, die Flüchtlingslager sind überfüllt und wir anderen im übrigen Europa wollen keine aufnehmen, was sollen die dann machen?“, sagte Irene. Sie reichte ihrem Vater, der abwartend mit einem Stück nacktem Roggenbrot dasaß, die Butter.

„Ja, warum haben die das italienische Hilfsprogramm Mare Nostrum eingestellt?“, fragte Rikke und schaute zu Roland, als ob er das wüsste, bloß weil er italienische Gene hatte.

„Das wurde in der EU beschlossen, um Geld zu sparen, als sie von den Italienern um Hilfe gebeten wurde. Das war sicher ein teures Projekt. Jedenfalls hat die EU die Verantwortung durch das Programm Triton übernommen. Aber das ist nicht so effektiv wie Mare Nostrum es war, weil es statt um Rettung um verstärkte Grenzkontrollen geht“, erklärte Irene.

„Tatsächlich ist es unsere eigene Schuld, dass sie flüchten, weil wir uns zusammen mit den USA in ihre Landesregierungen eingemischt und einige ihrer Staatsoberhäupter ausgerottet haben. Wir wissen nie, wem wir eigentlich helfen und welche Folgen es hat. Kollaps und Bürgerkriege sind in der Regel das Resultat. Die Flüchtlinge sind ein heißes Eisen für die EU. In mehreren Mitgliedsländern steht ein Wahlkampf kurz bevor, in dem gerade die Flüchtlingspolitik Hauptthema ist“, kämpfte Tim hartnäckig weiter.

„So ein Unsinn!“ Dagny schnaubte. „Wir sind doch nicht schuld an ihrem Unglück. Was wollen die eigentlich hier? Die mögen unseren Glauben, unser Essen, unsere Kultur und unsere Lebensweise nicht. Warum schicken wir sie nicht einfach weiter nach Grönland, die haben doch Platz da oben? Oder in die osteuropäischen Länder? Aber, oh nein, da wollen die aber nicht wohnen, denn das kann man ja frei wählen, wenn man ein Flüchtling ist.“ Sie machte Anführungszeichen mit den Fingern, sodass das Goldarmband klimperte. „Die wollen nur nach Dänemark, um Sozialhilfe zu kriegen und sich fortzupflanzen, und natürlich sorgen die dafür, ein paar Kinder zu kriegen, während sie sich trotz Ausweisung im Asylzentrum aufhalten - dann sind sie irgendwie davor geschützt, dazu gezwungen zu werden, dahin zurückzukehren, wo sie herkommen. Die benutzen die Kinder!“ Dagny leerte hitzig ihr Schnapsglas. „Währenddessen bekommen dänische Frauen nicht genug Kinder, also wer soll Marianna versorgen, wenn sie alt ist? Warum habt ihr nicht mehr Kinder gekriegt?“ Sie starrte Rikke und Tim vorwurfsvoll an.

Roland hatte wieder einen besorgten Augenkontakt mit Irene. Noch ein empfindliches Thema. Es tat ihm weh zu sehen, dass Rikke Tränen in den Augen hatte.

„Wir haben alles probiert, Oma.“ Sie sah ratlos zu Tim, der beschlossen hatte sich darauf zu konzentrieren, dem Hering ein Ende zu bereiten. „Wir konnten einfach keine weiteren Kinder bekommen. Okay!“ Ihre Stimme zitterte. „Der einzige Ausweg wäre, einen Samenspender zu nutzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du das begrüßen würdest!“

„Wenn es ein dänischer Mann wäre, könnte ja wohl nichts dabei passieren,“ murmelte Dagny, schielte auf Rolands südländische Haut, die in der Sommersonne noch dunkler geworden war, und merkte nun immerhin, dass sie sich in die Nesseln gesetzt hatte.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein! Nimm nur mal meine alte Schulfreundin, die gerade herausgefunden hat, dass ihr Vater nicht ihr richtiger Vater ist. Die Eltern haben einen Spender benutzt und es ihr nicht erzählt. Jetzt will sie ihn finden und das ist nicht leicht, weil er anonym ist.“

„Wer denn?“, fragte Irene und sah verständlicherweise eine Möglichkeit, von dem anderen Thema wegzukommen.

„Silje.“

„Silje? Ich dachte, du hättest keinen Kontakt mehr zu ihr.“

„Ich habe sie auf Facebook gefunden. Sie hat dort nach ihrem Vater gesucht. Sie und ihr Mann sind gerade nach Skäde Bakker gezogen, sie wohnen nicht weit weg von uns. Ihr Mann ist übrigens Sohn vietnamesischer Bootsflüchtlinge und hat seine eigene, gut laufende IT-Firma mit mehreren Angestellten. Was sagst du dazu, Oma?!“

Dagny lächelte nachsichtig. „Das war eine ganz andere Art Bootsflüchtlinge, die damals in den 70er und 8oer-Jahren kamen. Arbeitsam und ehrlich. Diese Art Menschen ist hier willkommen. Die haben nicht unser Leben bedroht und wollten nicht unser Land übernehmen und die Scharia einführen.“

Carl Ernst war immer noch damit beschäftigt, das Dach zu betrachten, während er mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen pulte und aussah, als warte er immer noch auf Antwort über den Zustand des Daches.

„Also du darfst nicht alle über einen Kamm scheren, Mama! Die Medien haben ein verkehrtes Bild von Leuten aus bestimmten Gegenden und mit einer anderen Kultur und einem anderen Glauben gezeichnet.“

„Die Medien“, lachte Dagny leise. „Gibst du jetzt denen die Schuld?“

„Ja, wem sonst? Woher hast du denn dein Wissen? Kennst du vielleicht einen einzigen Afrikaner oder Moslem?“

„Natürlich nicht, meine Liebe. Von so etwas halte ich mich fern und das solltest du auch tun! Wir kommen jedenfalls nicht mehr zu Besuch, wenn die hier einziehen. Mit diesen Menschen kommt nur Unglück ins Land. Glaub mir!“

Roland tat der Kiefer weh vom Zähnezusammenbeißen und es war unmöglich weiterzumachen. „Irene arbeitet ehrenamtlich für die Dänische Flüchtlingshilfe, Dagny. Die wissen es doch wohl am besten!“ Seine Stimme klang knurrend und Irene schaute ihn besorgt an, sagte aber nichts.

„Wie naiv du doch bist, Rolando. Die leben von den Flüchtlingen. Wenn die nicht wären, hätten sie keinen Job und könnten sich ihre Luxusautos nicht leisten.“

„Nein, jetzt hörst du aber auf, Mutti!“

Irene stand schnell auf, stützte sich einen Augenblick auf dem Tisch ab und sammelte danach die fast leeren Teller in einem zügigeren Tempo zusammen, als es für sie normal war.

„Ja, Oma, du bist gerade echt ein bisschen auf Krawall gebürstet!“, fand Rikke wütend und half ihrer Mutter mit den leeren Tellern.

Das war’s dann also mit der Pfingstidylle. Roland stand ebenfalls auf und nahm ein paar der Schüsseln, an denen die Fliegen allmählich Interesse zeigten. Vielleicht war die Idee mit diesen Flüchtlingen gar nicht so schlecht. Wenn sie Dagny fernhalten konnten, taten sie auch ihm einen Gefallen.

„Wer will noch ein kaltes Bier?“, fragte er, bevor er Irene und Rikke nach drinnen folgte.

Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9

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