Читать книгу Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 9

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Äthiopien

Die Räder des roten Samsonite-Trolleys schrammten über den marmorähnlichen Boden, als sie ihn mit einer kalten und schwitzigen Hand hinter sich her zog. Die Schweißproduktion war erhöht worden während des Transports in einem voll besetzten Flughafenbus und ließ die Bluse an der Haut kleben. Sie konnte nicht beurteilen, ob der Boden aus echtem Marmor war, aber es würde sie nicht wundern. Die Eindrücke überraschten erneut. Sie hatte erwartet, in einer Wüste zu landen. Jedenfalls in einer trockenen, flachen Umgebung, stattdessen war es grün mit hohen, üppigen Bergen. Hier hatte sie sich Dreck und Armut vorgestellt und dann war es moderne Architektur, auf die sie in der klimatisierten Ankunftshalle traf. Sie war bis hoch zur Decke mit einer kunstvollen weiß gestrichenen Rohrkonstruktion ausgestaltet. Die Sonne schien zwischen den Rohren durch die Oberlichtfenster und zeichnete abstrakte Sonnenstrahlen auf den blanken Boden. Sicher die Absicht des Architekten mit dem Design. Es gab Unmengen von Duty Free Shops mit einer Auswahl, die sie noch nirgendwo sonst gesehen hatte. Exotische Düfte aus Cafés und Restaurants wogten von allen Seiten. Ein Geschäft hatte mehrere Schaufenster mit afrikanischen Gebrauchsgegenständen: Webteppiche, handgeschnitzte Holzschalen, Figuren, Masken und Trommeln. Es war unmöglich, das Ganze zu sehen, ohne anzuhalten, doch dafür hatte sie leider keine Zeit.

Silje stellte den Trolley ab, wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und nahm sich einen Augenblick, um den Weg zum Gate zu finden. Der Text auf den gelben Schildern an der Decke war auf Englisch und Amharisch. Ein Baby weinte herzzerreißend, laut und kontinuierlich. Das Geräusch hallte in dem großen Gebäude. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es dauerte nicht lange, bis sie das nächste Flugzeug erwischen sollte, und wie ging es dann gleich weiter? Würde sie dort abgeholt werden? Das Ganze war so schnell gegangen. Es hatte so viel zu erledigen gegeben. Informationen, Anlernen, und Papiere, die beschafft werden mussten. Visum. Die Arbeitserlaubnis, die gerade erst bewilligt worden war und die ganze zwölf Bilder von ihr erforderte. Typisch, würde ihre Mutter sagen, du hörst nie ordentlich zu, wenn man dir etwas sagt. Und wie hätte sie das gekonnt mit all dem anderen, das ihr schon vorher im Kopf herumschwirrte? Es war ihre Schuld. Mamas. Sie bereute trotzdem, dass sie abgereist war, ohne sich richtig zu verabschieden, aber sie ertrug einfach keine weiteren Fragen, Vorwürfe und Warnungen. Du kannst da unten gekidnappt und geköpft werden. Was willst du tun, wenn du ihn findest? Er will ja nicht gefunden werden, Schätzchen. Das ist es nicht wert! Du kannst dich mit irgendwas anstecken. Ebola zum Beispiel. Denk dran, Schutzkleidung anzuziehen - und so weiter, und so fort. Es half nicht zu erklären, dass Ebola in Westafrika ausgebrochen war und nicht dort, wo sie sein würde. Im Übrigen war sie gegen die Krankheiten, mit denen sie sich vermeintlich anstecken konnte, geimpft worden. Aber ihre Mutter machte weiter: Was ist mit Tao und Anya? Der hoch geschätzte Schwiegersohn und das Enkelkind. Tao kam schon klar, und jetzt war er dran, sich allein um Anya zu kümmern. Seit sie geheiratet hatten und in die Villa in Skåde Bakker südlich von Aarhus gezogen waren, war er immer wieder für seine Firma auf Geschäftsreise gegangen, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, dass sie mit Anya allein war. Es war notwendig, damit sie den Lebensstandard aufrechterhalten konnten, den sie sich wünschten. Den Tao sich wünschte. Als sie aus ihrem Job in der Personalabteilung des Aarhuser Krankenhauses wegen Kürzungen entlassen wurde, hatten sie darüber gesprochen, ob sie in seiner IT-Firma angestellt werden könnte, aber es würde erst in einem Monat eine freie Stelle geben.

Sie setzte sich verloren auf einen Stuhl und betrachtete das Leben im Flughafen. Ein Geschäftsmann in einem satinglänzenden, dunklen Anzug, weißen Hemd und passenden Seidenslippern ging ruhig vorbei, als ob er auf jemanden wartete. Ihm musste warm sein, dachte sie, und zog ihre dünne Bluse aus, um ein bisschen Luft an die Haut zu lassen. Er lächelte ihr zu. Die Zähne leuchteten in dem schwarzen Gesicht auf. Weiße, dachte er sicher. Vertragen die Hitze nicht. Die halten gar nichts aus. Und es gab hier nicht viele von ihnen. Den Weißen. Hier waren sie diejenigen, die auffielen. Trotzdem lächelten all die dunklen Gesichter um sie herum. Eine Frau mit orangefarbenem Kopftuch und bunten Gewändern schenkte ihr auch ein strahlendes Lächeln. Im Schlepptau hatte sie ein kleines Mädchen in einem gelben Prinzessinnenkleid, das die kohlschwarzen Haare in einer Flut aus kleinen Zöpfen um ein süßes mahagonibraunes Gesicht trug. Sofort dachte sie an Anya und spürte das heftige Verlangen, sie zu umarmen, an ihren weichen Haaren zu riechen und ihr immer wieder zu erzählen, dass sie bald wieder zu Hause sein würde. Dass sie nur neun Mal schlafen musste. Das kleine, schwarze Mädchen schaute sie verschlossen und erstaunt an mit großen Rehaugen, umkränzt von dichten, schwarzen Wimpern. Es waren sicher ihre helle Haut und die blonden Haare, die das Mädchen wunderten. Vielleicht ihre markanten blauen Augen. Zuletzt musste das Mädchen den Kopf ganz herumdrehen, um sie zu sehen, als die Mutter sie weiterzog. Falls es ihre Mutter war. Wer wusste das?

Der Druck in der Brust verursachte ihr wieder Atemnot, dieses Mal noch quälender als zuvor. Es war ein Gefühl, das sie nicht erklären konnte. Wut, Trauer, Versagen? Sie wusste es nicht. Ein bisschen von allem und viel mehr. Sie liebte ihren Vater über alles auf der Welt, sie hatten eine Verbindung, die alle im Bekanntenkreis bemerkt hatten. Einige Freundinnen nannten sie sogar zu viel. Neid, hatte sie gemeint, und kümmerte sich nicht darum. Deswegen hatte sie das, was sie verstehen musste, erst nicht geglaubt. Das konnte nicht stimmen. Das konnte einfach nicht stimmen! Aber schließlich begriff sie, dass es wahr war. Eine Wahrheit, die ihr Leben auf den Kopf stellte, ihre Existenzgrundlage und Identität. Ob sie es wohl je erfahren hätte, wenn das Schicksal es nicht entschieden hätte? Die Krankheit und Diagnose ihres Vaters. Huntington. Eine erbliche und tödliche Krankheit, die oft im Alter von 35 bis 45 ausbricht. Und was war mit Anya? Hatte sie die Krankheit auch geerbt? Sie war in Panik geraten. Wollte nicht, dass ihr Vater auf diese Weise sterben sollte und wollte es auch selbst nicht. Dann war ihre Mutter endlich widerwillig mit der Wahrheit herausgerückt. Glaubte, sie könnte sie damit trösten. Sie und Anya waren bezüglich dieser Erbkrankheit außer Gefahr, da der Mann, den sie als ihren Vater liebte, gar nicht ihr Vater war. Nicht ihr richtiger Vater. Stattdessen war es ein unbekannter Mann, ein Samenspender, von dem nicht mal ihre Mutter wusste, wer er war. Sie wünschte, dass alles beim Alten geblieben wäre, dass sie nie dieses sechsunddreißig Jahre lang so wohlgehütete Familiengeheimnis erfahren hätte. Dann würde sie nicht hier sitzen.

Sie zupfte am Griff des Trolleys, guckte nach unten auf ihre Sandalen und bemerkte einen braunen Fleck auf der weißen Piratenhose, sicher von dem Kaffee, den sie im Flugzeug verschüttet hatte. Unwichtige Dinge. Dinge, an die sie viel lieber denken wollte. Etwas, mit dem sie leichter umgehen konnte.

Sie schaute schnell auf, als sich eine Frau neben sie setzte. Sie hatte sie auch im Flugzeug von Kopenhagen und beim Umstieg am Frankfurter Flughafen gesehen. Dann war sie doch nicht die Einzige mit heller Haut und blonden Haaren und es fühlte sich irgendwie beruhigend an. Es war auch nicht unnatürlich, dass sich die Frau neben sie setzte. Wenn man auf fremdem Grund war, suchte man seinesgleichen. Deswegen gab es in Dänemark so viele Ghettos. Die Frau war Fotografin, wie sie an der Ausrüstung erkennen konnte, die sie als Handgepäck mitschleppte. Sie holte eine dänische Fotozeitschrift aus der Tasche, lächelte ihr zu und sah hinein.

„Sind Sie Fotografin?“, konnte sie es nicht lassen zu fragen.

„Sie sind Dänin!“, rief die Frau überrascht, dann nickte sie.

„Ja. Ich arbeite als Freelancer.“

„Kommen Sie aus Kopenhagen?“, fragte Silje weiter. Sie musste mit irgendjemandem sprechen und an etwas anderes denken.

„Nein, ich bin aus Jütland. Was ist mit Ihnen?“

„Aarhus. Ja, ich bin gerade erst nach Aarhus gezogen, zusammen mit meinem Mann und unserer Tochter, Anya. Sie ist sieben.“

Die Frau lächelte noch überraschter. „Ich habe mein ganzes Leben in Aarhus gewohnt. Jetzt bin ich nach Djursland gezogen. Mein Vater, ach, das ist eine längere Geschichte.“

„Witzig, dass wir nun zufällig beide an einem Flughafen in Äthiopien sitzen. Wo wollen Sie hin?“

„Ich fliege weiter nach Gambella.“

„Um dort zu fotografieren?“

„Ja, ich habe einen Fotoauftrag angenommen, der wohl etwas außerhalb meines normalen Gebiets liegt, aber es klang sehr spannend und ich musste mal ein bisschen wegkommen.“

Die Frau blätterte zu der vorigen Seite in dem Magazin auf ihrem Schoß zurück und zeigte ihr ein Bild eines zerbombten Hauses, wo ein kleiner, nackter Junge mit tränennassem Gesicht auf einer schmutzigen Treppe saß. Silje spürte sofort den Kloß im Hals. Der Junge sah verletzlich und verlassen aus, als sei er der einzig Verbliebene in einer zerbombten Welt.

„Das wurde in Syrien von einem Kollegen gemacht für ein Magazin, das für das Dänische Rote Kreuz herausgegeben wird, und für das bin ich jetzt auch unterwegs.“

„Um eine Reportage zu machen?“ Sie hatte nie selbst fotografiert. Tao war der, der die Kamera hatte und sich damit auskannte.

„Ja, ich soll für das Magazin ein Foto-Essay über Flüchtlinge machen. Wo wollen Sie hin?“

„Ich fliege nach Asossa und da geht’s dann weiter in ein Flüchtlingslager. Ich arbeite für Ärzte ohne Grenzen.

„Das klingt spannend.“

Silje richtete sich auf und lauschte der Stimme im Lautsprecher. Sie hatte ihn bisher nur als gleichgütiges, monotones Hintergrundrauschen wahrgenommen, aber als ihr Name genannt wurde, hörte sie zu. Jetzt wurde es wiederholt: „Silje Vuong! Please go to the gate!

„Sind Sie das?“, fragte die Frau.

Schnell stand sie auf. „Ja, das bin ich. Ich sollte mich lieber beeilen.“

„Schön, Sie getroffen zu haben, Silje.“

Sie umfasste den Trolleygriff. „Gleichfalls. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Ich heiße Kamilla. Kamilla Holm.“

„Ich freue mich auf Ihr Foto-Essay. Gute Reise!“

„Danke, Ihnen ebenfalls.“ Kamilla vertiefte sich wieder in die Zeitschrift.

Silje zog hastig den Trolley hinter sich her. Sie war so in das Gespräch mit der Fotografin vertieft gewesen, dass sie den Aufruf zum Gate nicht gehört hatte. Jetzt warteten sie auf sie. Das letzte Stück rannte sie und schwitzte noch mehr, als sie den Schalter erreichte. Sie wurde zum Terminal gebracht von einer - trotz der Umstände - immer noch lächelnden, dunklen Frau in der dunkelgrünen Stewardess-Uniform der Ethiopian Airlines.

Das Propellerflugzeug mit Platz für fünfzig Passagiere, in dem lange nicht alle Sitze besetzt waren, erreichte Asossa nach einer Stunde und fünfzehn Minuten Flugzeit. Silje döste und versuchte, innerlich Ruhe zu finden, indem sie ihren Atem regulierte, wie sie es beim Yoga gelernt hatte. Aber nun war sie bald an der Endstation und ihr Herz klopfte noch schneller. Auch der Zweifel kam. Hatte ihre Mutter doch recht damit, dass es eine schlechte Idee war?

Sie wachte auf, als eine knisternde Stimme über Funk Bescheid gab, dass der Landeanflug begonnen hatte und die Passagiere ihre Sitze in eine aufrechte Position bringen und sich anschnallen sollten. Sie schaute aus dem Fenster. Das Flugzeug durchbrach die Wolkendecke. In der Landschaft unter ihr wechselten sich hohe, üppige Berge und grüne und goldene Flächen mit roter Erde ab. Es wurde eine harte Landung. Eine von der Sorte, die sie nicht mochte, und als sie endlich das Flugzeug verlassen konnte und ihr die feuchte Wärme auf der Flugzeugtreppe einen Augenblick lang den Atem raubte, begegnete ihr, was sie in Addis Abeba erwartet hatte. Es gab nur eine asphaltierte Landebahn, umgeben von dieser roten Lateriterde. Sie hatte mal irgendjemanden sagen hören, dass diese rote Erde von all dem Blut käme, das die Afrikaner geopfert hätten. Das war bestimmt in einem Film gewesen. War es Blood Diamond? Die Worte hatten sie jedenfalls berührt, als sie sie gehört hatte. Nun taten sie es wieder.

Die Ankunftshalle war bei weitem nicht so ausladend wie die des Bole International Airports in Addis Abeba, und es dauerte nicht lange, den Koffer zu bekommen. Vor dem Gebäude entdeckte sie das Auto. Entschlossen ging sie zu dem Mann hin, der eine weiße MSF-Weste trug, die in der Sonne aufleuchtete. Er wartete auf sie und hielt ein Schild mit ihrem Namen hoch.

Silje Vuong, I presume?“, erkundigte er sich, was sie zum Lächeln brachte, da sie sofort an Stanleys bekannte Worte an Dr. Livingstone auf afrikanischem Boden dachte. Sie nickte und ließ ihn den Koffer aus ihrer Hand nehmen. Er nahm auch den Trolley und warf ihn zusammen mit dem Koffer in den Kofferraum des staubigen, weißen Toyota Land Cruiser mit dem roten Médecins Sans Frontières-Logo auf der Seite, bevor er ihr die Hand gab.

„Welcome. I’m Alem, and I will drive you to the camp. Was it a nice trip?“

Sein Händedruck war fest. Die Hand war sehnig und trocken in ihrer feuchten. Es war also nicht er, der sie abholte. Es war schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen, aber die Ärzte hatten sicher viel zu tun. Sie setzte die Sonnenbrille auf, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und sah ein, dass der braune Kaffeefleck auf der weißen Hose nicht der einzige Fleck sein würde, wenn sie ankam.

Yes, it was okay. How long does it take?, fragte sie.

Alem teilte mit, dass sie circa eine Dreiviertelstunde nach Norden fahren würden und wenn es unterwegs keine Hindernisse gäbe, am Spätnachmittag im Lager sein würden.

Are you a doctor – or nurse?“, erkundigte er sich, und als sie lächelnd den Kopf schüttelte, wollte er wissen, was sie dann im Lager machen würde. Den eigentlichen Grund konnte sie ihm nicht erzählen. Sie hielt sich an die offizielle und teils wahre Version, dass ihr ein Job als Administratorin im Flüchtlingslager angeboten worden sei, sie aber noch nicht genau wusste, was sie machen sollte, abgesehen davon, dass es etwas mit Buchhaltung und Personal zu tun hatte, wofür sie ausgebildet war.

But the camp will shut down soon, you know?“, sagte Alem und schaute schnell zu ihr mit gelblichen Augen. Die Sonne hatte im Laufe der Zeit seinem Gesicht zugesetzt. Und das Leben sicher auch.

Sie nickte. Wusste, dass das Lager bald schließen würde und informierte ihn darüber, dass sie genau dabei mithelfen sollte. Es gab keinen Bedarf mehr für die Anwesenheit von Ärzte ohne Grenzen. Die Situation in der Gegend war unter Kontrolle und andere Gebiete brauchten die Hilfe dringender. Das passte ihr sehr gut. Tatsächlich hatte sie genau diese Tatsache als ein Zeichen gesehen. Ein Zeichen dafür, dass sie das tun musste, wofür sie schon lange Pläne gehegt hatte. Man könnte es auch Schicksal nennen. Irgendwie tat es auch gut, seiner Mutter und ihren Warnungen zu trotzen. Eine Strafe. Für die lebenslange Lüge, mit der sie aufgewachsen war. Er will dich ja nicht kennen, hatte ihre Mutter gesagt. Aber Silje meinte, wenn sie vor ihrem Vater stünde, würde er es nicht ablehnen können, seine Tochter zu empfangen. Das war ihre Überzeugung. Sie betrachtete die Landschaft und die Sonne, die in roten und orangefarbenen Nuancen durch die Wolkendecke schien. Sie war hier, um ihn zu finden. Dann musste die Zeit zeigen, was daraus wurde.

Alem war ein Mann weniger Worte. Nachdem er ihr erzählt hatte, dass er Fahrer, eine Art Mädchen für alles im Lager und in einem kleinen Dorf in Äthiopien aufgewachsen war, sagte er nicht mehr besonders viel. Er konzentrierte sich auf die Fahrt, was auch notwendig war. Sie klammerte sich an den Sicherheitsgurt, wenn das Auto in hohem Tempo heftige Kurven fuhr, um den größten Schlaglöchern im Weg auszuweichen. Die Sonne brannte unbarmherzig. Hier hatte es lange nicht geregnet. Die große Regenzeit sollte bald kommen, aber der Himmel zeigte noch keinerlei Anzeichen dafür. Das Einzige, was sie zu allen Seiten sehen konnte, waren rote Erde und vereinzelte Bäume, verkrüppelt in dem eisenhaltigen, trockenen Untergrund. Bläuliche Berge unterbrachen das flache Terrain am Horizont. Am Straßenrand liefen Afrikaner in staubigen Gewändern und trieben Ziegen, magere Kühe und Esel vor sich her. Es waren auch ein paar Kinder dabei, die nackten Beine voller Dreck. Die Babys waren mit einem Tuch bei ihren Müttern auf den Rücken gebunden und sahen ziemlich eingezwängt aus. Die meisten Frauen trugen lange, farbenfrohe Kleider. Einige winkten Alem zu, der lächelnd zurückwinkte. Eine Kinderschar lief hinter dem Auto her. Sie kannten sicher alle das rote Logo von Ärzte ohne Grenzen. Silje drehte sich um und sah durch die Heckscheibe die Kinder, die riefen und lachten und rannten, so schnell sie konnten, selbst die Kleinsten.

Great kids“, sagte Alem und lächelte ein bisschen wehmütig.

Sie bogen plötzlich ein, vor ein gelbverputztes Gebäude mit blau bemalten Sparren und schwedenroten Balken, die ein Halbdach trugen, unter das vor einer langen Reihe Gitterfenster eine Wäscheleine gezogen war. Einige Jacken und Handtücher hingen zum Trocknen in der Sonne. Sie riss die Augen auf, als Alem neben einer Karre mit einem Esel davor parkte. Ein älterer, sehniger Einheimischer mit weißen, krausen Haaren half einer Frau, einige blaue Behälter von dem Karren herunterzuheben. Die Arbeit wurde genau verfolgt von einem kleinen, mageren Jungen, der sich dicht an den Alten hielt. Die Frau sah auf und schirmte die Augen vor der Sonne ab, dann lächelte sie, stellte einen Behälter auf die rote Erde und kam ihr entgegen.

„Du musst die neue Mitarbeiterin sein“, sagte sie.

Silje schob die Sonnenbrille in die Haare. „Ja, ich heiße Silje. Silje Vuong“, antwortete sie, erleichtert darüber, dass es noch andere Dänen im Lager gab. Außer ihm, natürlich. Es war lange her, dass sie Englisch gesprochen hatte.

„Ich habe erwartet, eine Asiatin zu sehen … bei dem Namen“, lächelte die Frau. „Samanta Lund. Ich bin Krankenschwester. Ich will dir gerade lieber nicht die Hand geben …“ Sie zeigte beide Hände vor, die von der staubigen Erde rot waren.

Sie wirkte gar nicht wie eine Dänin mit den dunklen Haaren und den lächelnden, braunen Augen, aber Silje meinte, einen seeländischen Akzent zu hören.

„Mein Mann ist Vietnamese“, erklärte sie. „Was macht ihr da?“, fragte sie und lächelte dem Jungen zu, der sie mit großen, dunklen Augen anstarrte.

„In den Behältern ist Wasser. Wir haben leider kein fließend Wasser und bekommen es mehrmals am Tag geliefert“, erläuterte Samanta. „Ja, es gibt vieles, an das du dich hier gewöhnen musst“, fügte sie mit einem Ton hinzu, der nach bitterer Erfahrung klang.

Der Junge folgte dem alten Mann, der einen Behälter in ein Gebäude dem Haus gegenüber schleppte.

„Das ist Faheem“, sagte Samanta, die ihrem Blick gefolgt war. „Sie kommen beide aus einem der Dörfer in der Nähe.“

„Wie alt ist er?“

Samanta zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Sie nahm einen Lappen von der Wäscheleine und trocknete die Hände ab.

„So, jetzt kann ich dich anständig begrüßen“, meinte sie, und gab ihr die Hand. Sie sah wieder zu dem Jungen. „Ich schätze, er ist ungefähr sieben, vielleicht acht. Aber das weiß er nicht mal selbst. Beide Eltern sind tot, er hat nur seinen Opa.“

Der Junge schaute die ganze Zeit zu Silje. Er war so mager, dass die Kniescheiben viel zu groß für die kleinen, dünnen Beine aussahen. Plötzlich lief er zu Samanta hin und flüsterte ihr etwas zu. Sie beugte sich vor, um es zu hören, lächelte und sagte etwas zu ihm in einer fremden Sprache, von der Silje dachte, es müsste Amharisch sein. Die Worte ließen den Jungen verlegen lächeln, dann lief er zu dem Esel und dem Karren, wo der alte Mann zahnlos grinste.

„Was hat er gesagt?“, fragte Silje neugierig.

Samanta steckte die Hände in die Taschen ihrer Shorts.

„Nichts Wichtiges. Komm, ich zeig’ dir das Lager.“

„Wo sind die ganzen Flüchtlinge?“

„Das Flüchtlingslager ist ein Stückchen weg von hier, aber das wird jetzt sukzessive geräumt.“

Silje folgte Samanta und sammelte die Eindrücke, Gerüche und Geräusche. Wie wohl die Nachtgeräusche klangen? Das hier würde eine Weile ihr neues Zuhause sein, es war alles so unwirklich und so weit von der von einem Architekten entworfenen Villa in Skåde und dem schönen, grünen Garten weg. Sie vermisste das. Und Anya. Und Tao. Er hatte sie widerwillig bei diesem Projekt unterstützt. Er wusste nicht, dass sie hier war, um nach ihrem Spendervater zu suchen. Er glaubte, sie sei ihrer Arbeit wegen gereist. Sie hasste es, ihn zu belügen, aber sonst hätte er es ihr nie erlaubt.

Samanta blieb bei einem Schuppen stehen, dessen Tür offen stand. Drinnen surrten die Fliegen.

„Das hier sind die Toiletten. Kein Luxus, wie du siehst. Du hockst dich über das Erdloch da; immerhin gibt es Klopapier.“

Silje schluckte schwer und versuchte einen Gesichtsausdruck von Ekel zu bekämpfen, den sie kommen spürte. Wenn Tao das hier sähe! Samanta ging zu einem anderen Schuppen direkt nebenan und gestikulierte elegant, als ob sie eine Suite im Hotel Hilton präsentierte.

„Und hier hast du das Badezimmer. Es gibt, wie gesagt, kein fließendes Wasser, daher benutzt du einfach die Kanne.“ Sie deutete auf eine Zinkkanne neben einem der blauen Plastikbehälter, die sauberes Wasser enthielten. „Wenn du warmes Wasser haben willst, musst du es in der Küche auf dem Herd kochen. Aber jetzt sollst du dein Büro sehen.“

Silje riss wieder die Augen auf, als sie einen Raum betraten, den Samanta Büro genannt hatte. Dort stand nur ein kleiner Klapptisch mit einem Laptop und einem altmodischen Tintenstrahldrucker. Der Stuhl war von der Sorte, wie man sie in alten Schulen sieht. Hier war es sicher gut, dass die Gewerbeaufsicht nicht mal vorbeischaute.

„In den Ordnern unterm Tisch findest du diverse Papiere mit Gehaltsabrechnungen und eine Angestelltenkartei. Es gibt WLAN, aber es ist sehr langsam. Die Elektrizität, die Internetverbindung und das Telefonnetz sind leider nicht besonders stabil. Wir waren gerade erst ganze vierundzwanzig Stunden ohne Verbindung. Der Stromgenerator wird für das lebenswichtige Medikamentenlager verwendet. Da darf es nie mehr als 25 Grad warm sein. Wenn wir mehr Strom brauchen, muss er in der Hauptstadt gekauft werden, die Stromgesellschaft muss anfangen zu arbeiten. Es ist fast hoffnungslos.“ Samanta schüttelte resigniert den Kopf.

Das Zimmer, in dem sie wohnen sollte, war auch sehr spärlich möbliert mit einem Tisch, einem Stuhl und einem Bambusbett, mit Netzen umwickelt, um die Insekten abzuhalten. An der Decke hing eine einzelne Glühbirne in ihrer verstaubten Fassung. Die gelb getünchten Wände waren ohne jegliche Dekoration und der Boden ähnelte gestampftem, rotem Lehm. Silje tröstete sich damit, dass sie hier sicher nur zu schlafen brauchte.

Sie umrundeten das gelbe Gebäude und kamen auf einen Hof dahinter. Hier standen Holzstühle und -bänke auf einer Terrasse mit Halbdach, primitiv gebaut aus Dachplatten auf Holzpfählen. Mitten im Hof wuchs ein riesiger Mangobaum mit Zweigen, die sich unter der Last der Früchte bogen. Auf einer Holzbank im Schatten saß eine Frau und stillte ein Kind, ganz in Tücher eingehüllt, sodass Silje es nicht sehen konnte.

„Hier essen wir“, sagte Samanta.

„Wer ist das da im Schatten, die stillt?“

Samanta schaute zu der Frau und bekam einen bekümmerten Gesichtsausdruck.

„Das ist eine Frau, die hier im Lager entbunden hat. Sie ist hochschwanger vor den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und lokalen Milizen im Südsudan geflohen. Wir mussten sie herüberbringen, damit sie in Sicherheit ist. Sie hat einen Albino zur Welt gebracht.

„Kriegen Afrikaner auch Albinokinder?“, rief Silje naiv aus.

„Hier werden mehr Albinos geboren als in Dänemark, wo es eins von 60.000 Kindern ist. Hier in Afrika ist es eins von 5.000 Kindern und das ist eine Katastrophe für das Kind und seine Familie, ja, für das ganze Dorf. Viele Albinos leben im Verborgenen, sonst werden sie verfolgt oder schlicht getötet. Das Fürchterliche ist, dass es hier immer noch Menschen gibt, die glauben, dass eine Mixtur, bestehend aus Kräutern und dem Blut oder den Körperteilen eines Albinos, heilen kann oder den, der diese Mixtur einnimmt, reich macht, deshalb jagen und töten Medizinmänner die Albinos.“

Silje schwitzte noch mehr und wünschte, sie könnte irgendwohin gehen und frische Luft schnappen. „Was passiert dann mit der Frau und dem Kind?“

„Vorläufig bleiben sie hier, wo wir sie im Auge behalten können. Woanders ist es nicht sicher für sie.“

Sie hatten ein anderes Haus erreicht, das in Verlängerung des gelben Gebäudes lag.

„Dahinter ist die Küche“, fuhr Samanta fort, und lächelte einer Frau zu, deren schwarzes, glänzendes Gesicht sich im Fenster zeigte. Sie winkte.

„Das ist Farsiris, unsere Köchin. Sie sagt, der Name bedeute in ihrer Muttersprache Prinzessin. Wir Dänen ziehen sie damit auf, dass fars bei uns auf Dänisch Hackfleisch heißt und fars i ris mehr wie ein dänisches Reisgericht klingt - was besser passt, weil sie ja Köchin und keine Prinzessin ist.“ Samanta lachte und winkte der Frau zurück.

„Du sagst wir? Gibt es hier noch andere Dänen?“, stellte sich Silje unwissend und winkte der Köchin im Fenster ebenfalls.

„Ja, einer der Ärzte ist Däne. Er hat übrigens die gleiche ungewöhnlich blaue Augenfarbe wie du. Das war das, was mir Faheem zugeflüstert hat. Sie nennen ihn Sämay, weil seine Augen die gleiche klare, blaue Farbe haben wir der Himmel. Das bedeutet Himmel auf Amharisch.“

Siljes Herz pochte bis zum Hals. Das war ganz sicher ihr Vater, den sie Sämay nannten. Sie hatte ihn gefunden.

Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9

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