Читать книгу Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 12

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Nicht zum ersten Mal freute Roland sich darauf, nach einem Urlaub wieder zur Arbeit zu gehen. Wenn man den freien Tag an Pfingsten als Urlaub bezeichnen konnte. Eher ein verlängertes Wochenende. Und jetzt war es vorbei. Keine weiteren Feiertage vor Weihnachten. Aber dieses Mal war die Sehnsucht nach dem Arbeitsleben nicht Irenes Krankheit und der anspruchsvollen und erschöpfenden Bedienung im Rollstuhl geschuldet wie zuvor. Das hatte sie hinter sich. Aber die Schwiegereltern hatten sich aus nostalgischen Gründen entschieden, einige Tage zu bleiben, und er hatte es kaum erwarten können, dass der Wecker klingelte und er sich in sein Auto setzen und von dem Gezeter und Husten wegfahren konnte. Arme Irene, dachte er, aber es waren ja verflixt noch mal ihre Eltern.

„Schöne Pfingsten gehabt?“, grüßte Mark Haldbjerg munter und holte Kaffee. „Ja, danke, und selbst?“

„Vorzüglich! Zusammen mit der Familie im Sommerhaus in Skagen verbracht. Das Wetter hätte ja nicht besser sein können.“

Roland lächelte. Nein, über das Wetter hatte es bestimmt nichts zu klagen gegeben. Es hatte immer etwas, dass sie unter freiem Himmel auf der Terrasse hatten sitzen können und dass er sich ab und zu mit ein bisschen Aufräumen oder Wändestreichen entschuldigen konnte. Die Fenster waren bei der Hitze offen gewesen, sodass die Farbe schneller trocknete, doch jetzt waren die Zimmer der Mädchen und der Keller einzugsbereit; wen auch immer sie dann beherbergen mochten. Irene hatte sicher recht damit, dass der Widerwille von Leuten, Flüchtlinge in ihren Alltag aufzunehmen, Unwissenheit und Angst vor dem Unbekannten war. Er wusste selbst nicht, was er fürchtete. Wenn es überhaupt Furcht war, was er fühlte.

„Puh, ist das warm. Ist eine Entscheidung vom Staatsanwalt wegen des Autounfalls gekommen?“, fragte Mark und verwies auf den Fall, den sie vor Pfingsten abgeschlossen hatten. Er setzte sich an seinen Computer mit einem dampfenden Becher Kaffee, knöpfte den obersten Hemdknopf auf und schaute aus einem der Fenster, die Roland als Erstes geöffnet hatte, als er in die stickigen Räume gekommen war, die drei Tage lang nicht besetzt gewesen waren.

„Nein, noch nicht. Ich bin auch gespannt, was bei euren Nachforschungen herauskommt. Es besteht ja kein Zweifel daran, dass das Auto verunglückt ist, weil Beamte es verfolgten, vielleicht auch ein bisschen overkill, wenn es trotz allem ,nur‘ darum ging, dass die vier jungen Menschen über eine rote Ampel fuhren. Keiner war in Gefahr und es ist ja nichts passiert - also, bis der Fahrer aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und über die Leitplanke fuhr.“

„Hmm, sie haben das Gesetz übertreten, Roland. Sind sie aus dem Krankenhaus entlassen?“

Roland nickte, den Mund voller Kaffee, und schluckte diesen herunter. „Der Fahrer und die beiden auf dem Rücksitz ja, aber der Junge auf dem Beifahrersitz ist immer noch im Krankenhaus. Aber er ist außer Lebensgefahr.“

„Das ist immerhin etwas. Gut, dass niemand getötet wurde, das wäre für die Beamten katastrophal gewesen.“

Mark wurde vom Ermittlungschef Viktor Enevoldsen unterbrochen, der zielstrebig auf ihren Tisch zusteuerte. Sein Gesicht wirkte blass unter der sonnengebräunten Haut, und die Augen waren ernst.

„Ich möchte euch beide gerne an einem Fall haben. Wo ist übrigens Karina?“

„Hat sie heute nicht frei? Irgendwas mit ihrem Sohn?“, fragte Mark.

„Ach ja, verdammt. Das hatte ich völlig vergessen.“ Viktor strich sich durch die Haare, die auf eine reizvolle Weise ergrauten, wie Richard Geres damals, als auch er in den Fünfzigern war.

„Na, aber ich möchte euch beide so schnell wie möglich in Odense haben. Ein Beamter und seine Familie wurden gestern überfallen und der Sohn ist verschwunden. Möglicherweise gekidnappt. Darum kümmert sich natürlich die Polizei Fünen, aber der Polizeidirektor hat uns gebeten, die Umstände des Überfalls zu untersuchen. Die Ehefrau des Beamten hat ausgesagt, sie habe das Gefühl gehabt, dass die Täter ihren Mann kannten.“

„In der Regel kennen die Kriminellen die Beamten ja eher als umgekehrt“, gab Mark Haldbjerg zu bedenken.

„Tja, natürlich, aber sie sprachen über einen Tauschhandel für den Sohn.“

„Tausch? Gegen was?“, fragte Roland.

„Das wusste sie nicht. Sie steht natürlich unter Schock und ist nervös, was das Schicksal ihres Sohnes angeht. Die Täter ähnelten welchen aus einer Bande, ihrer Beschreibung nach.“

„Rockerbande oder Einwandererbande, in Odense haben sie ja alles.“

Viktor Enevoldsen setzte sich auf die Schreibtischkante neben Mark. „Die haben auch alles, ja, und der Polizei Fünen zufolge handelt es sich möglicherweise um eine neue Bande, die vor einem Jahr in die Gegend gekommen ist und noch gefährlicher als die anderen sein soll. Es sind Mitglieder sowohl der Einwanderer- als auch der Rockerbanden, die aus ihren Gruppen ausgebrochen sind und eine neue gebildet haben. Wahrscheinlich weil sie das ,schlaffe‘ Verhalten ihrer Anführer leid waren. Der harte Kern. Die Gewalttätigsten, die fanden, sie dürften nicht das tun, was sie gerne wollten.“

„Warum glauben sie, dass es ausgerechnet die sind?“

„Hauptsächlich wegen einer Tätowierung. Sie nennen sich Black Swan, ein Tattoo auf dem rechten Handrücken ist obligatorisch in der Bande wie eine Art Blutband. Sie stellt natürlich einen bösen, schwarzen Schwan da. Ihre Hauptgebiete sind Drogen und Prostitution, und Sander Lindholm, so heißt der Beamte, war vor einem halben Jahr bei der Verhaftung mehrerer Bandenmitglieder dabei, die unter anderem wegen des Verkaufs und Schmuggels von Drogen verurteilt wurden. In Verbindung mit den Verhaftungen wurden Amphetamin, Hasch, Kokain und Ecstasy gefunden samt Automatikwaffen und Pistolen.“

„Wie schlimm ist es mit dem Beamten und seiner Frau?“, wollte Roland wissen.

„Ziemlich schlimm. Besonders mit dem Beamten, der bis zur Unkenntlichkeit verprügelt wurde, aber nicht mit tödlichen Schlägen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Absicht war, dass sie überleben sollten. Der Sohn, der entführt wurde, heißt Janus. Er ist sechs Jahre alt, er hatte Geburtstag an dem Tag, an dem es passierte. Sie hatten ihn im Zoo in Odense gefeiert und waren auf dem Heimweg. Alberte Lindholm war schwanger. Mit Zwillingen. Sie hat sie verloren.“

Es wurde still. Roland nutzte die Gelegenheit, noch einen Schluck Kaffee zu trinken.

„Worauf zielt unsere Ermittlung ganz genau ab?“, fragte Mark.

Viktor räusperte sich. „Nach der Befragung von Alberte Lindholm wurde der Polizeidirektor misstrauisch. Warum den Sohn entführen und wieso war die Rede von einem Tauschhandel? Kidnapping ist nicht gerade die Vorgehensweise von Black Swan. Jedenfalls nicht, soweit die Polizei weiß.“

„Was sagt Sander Lindholm selbst?“, fragte Roland.

„Bisher gab es nur kurz die Möglichkeit, ihn zu befragen. Aber er bestreitet, die Täter auf irgendeine Art zu kennen und weiß nicht, warum sie seinen Sohn entführt haben.“

„Könnte es etwas mit der Verhaftung der Bandenmitglieder zu tun haben? Rache?“, überlegte Roland.

„Vielleicht, aber was wollen die mit Janus? Was wollen sie dafür von Sander Lindholm haben?“

„Wird er wegen irgendetwas verdächtigt?“

Viktor stand auf. „Das ist das, was ihr herausfinden sollt. Polizeidirektor Harald Andersen hat ein ungutes Gefühl in dieser Sache, deswegen will er sie von uns gründlich untersucht haben. Jetzt ist ein kleiner, unschuldiger Junge involviert.“

Der Autobahnverkehr floss stetig. Roland hatte willig Mark das Steuer überlassen. Er mochte längere Autofahrten nicht besonders. Es war immer noch nur sein Geheimnis, dass der rechte Arm manchmal urplötzlich all seine Kraft verlor. Er müsste zum Arzt gehen. Irene würde ihn zwingen, wenn sie es wüsste, aber er wollte sie nicht beunruhigen. Stattdessen hatte er im Internet gesucht und einen Artikel einer amerikanischen Studie gefunden, die seine Theorie stützte, dass es ein Schaden durch das fatale Erlebnis in Sizilien voriges Jahr war, obwohl die italienischen Ärzte ihm versichert hatten, das würde nicht vorkommen. Aber was wussten die darüber? Was würde der Hausarzt, Dr. Albert, der dasaß und nichts anderes tat, als Rezepte für teure Medikamente zu verschreiben, während er auf seine Rente wartete, darüber wissen?

„Guck mal da!“, knurrte Mark und nickte in Richtung eines schwarzen Peugeot 208. „Was macht der da auf der linken Spur? Hat denn keiner in der Fahrschule gelernt, dass man sich rechts halten soll, damit andere wenigstens eine kleine Chance haben zu überholen? Besonders bei dem Schneckentempo, das hier an den Tag gelegt wird!“

Roland schaute auf. Er hatte in dem Ausdruck des Berichts über den Überfall gelesen. „Viele glauben fälschlicherweise, dass das dänische Autobahnnetz aus zwei Spuren besteht und nicht aus einer plus einer Überholspur.“

Mark hatte auf die linke Spur rübergezogen und drängte den Peugeot nach rechts. Kurz darauf scherte er vor ihm ein. Mit dem Tempomat hatte er die ganze Zeit die gleiche Geschwindigkeit gehalten. Er schaute in den Rückspiegel. „Natürlich eine Tussi. Die können echt nicht Auto fahren!“

Wenn Mark nicht das neckende Lächeln und das Blitzen in den Augen gehabt hätte, hätte Roland die Ausdrucksweise nicht gemocht.

Sobald sie die Lillebæltsbrücke verließen und auf die Autobahn Fünens fuhren, dachte Roland an Tomaten und Äpfel, was seiner romantischen Vorstellung von Fünen gleichkam. Apfelmus und Alfred und Katrines Tomaten, die er immer für seine selbstgemachte Tomatensoße verwendete. Als sie das Ortsschild von Odense passierten, sprangen die Gedanken von Tomaten und Äpfeln zu H.C. Andersen. Fünen war eine richtige Märcheninsel. Aber wie in allen Märchen war nichts die reine Idylle. Es gab auch die dunkle Seite. Hexen und Trolle. Roland hatte mit dem Krankenhaus einen Besuch bei Alberte und Sander Lindholm abgesprochen, dem der Arzt widerwillig zugestimmt hatte, als ihm klar wurde, dass er von der Unabhängigen Polizeibehörde anrief.

Aber zuerst statteten sie Sander Lindholms Chef, Polizeidirektor Harald Andersen, einen Besuch in seinem Büro ab.

„Das ist eine sehr tragische Angelegenheit“, sagte der Polizeidirektor einleitend und schloss die Tür hinter ihnen. Er bot ihnen Platz auf Stühlen vor seinem Schreibtisch an.

„Wir würden natürlich gerne hören, worin Ihr Verdacht besteht, bevor wir Sander Lindholm besuchen“, sagte Roland.

„Hmm, ja. Ich hoffe, das bleibt vorerst unter uns.

Harald Andersen schwieg und sah sie fragend mit wehmütigen, blassblauen Augen an, die zu der Farbe des Hemds passten. Roland und Mark mussten bestätigen, dass sie selbstverständlich diskret sein würden, bevor er fortfuhr.

„Es ist so, dass während der Verhaftung von vier Bandenmitgliedern von Black Swan ein größerer Bargeldbetrag verschwunden ist. Sander Lindholm und sein Partner waren die Ersten vor Ort. Sander ist reingegangen, ohne auf die Verstärkung zu warten, die sein Partner gerufen hatte. Möchten Sie einen Kaffee?“

Sie schlugen das Angebot aus.

„Sie meinen also, dass Sander Lindholm das Geld gestohlen hat und die Bande das nun im Tausch für den Sohn haben will?“, vergewisserte sich Roland.

„Ich weiß, das ist eine heftige Anklage. Sander ist an sich ein absolut zuverlässiger Beamter und es gab nie Probleme, aber es ist bekannt, dass er immer Geldmangel hat. Die Familie hat angeblich ernste finanzielle Probleme und daher wunderte es natürlich alle, dass er sich plötzlich Urlaub nahm und mit der ganzen Familie in die USA reiste.“

„War das, nachdem das Geld verschwunden ist?“

„Eine Weile danach, ja.“

„Wie erklärt Sander Lindholm das?“

„Er sagt nicht sehr viel über sein Privatleben. Insgesamt hat er ein verschlossenes Wesen. Es geht uns ja auch nichts an, was er in seiner Freizeit macht, aber nun, da sein Sohn …“ Harald Andersen rieb sich das spitze Kinn. „Er ist so ein toller, kleiner Kerl.“

„Was sagt der Partner? Der ist wohl der beste Zeuge“, meinte Roland.

Harald Andersen lehnte sich ihm Stuhl zurück, das Leder ächzte bei der Bewegung. „Sein Partner, Bo Kruse, schied kurz darauf aus. Das sorgte auch bei uns allen für große Verwunderung, da er niemandem gegenüber erwähnt hatte, dass er sich mit diesem Gedanken trug.“

Roland erinnerte sich, wie er selbst schweigend seine Überlegungen mit sich herumgetragen hatte, ob er seine Stellung bei der Ostjütländischen Polizei verlassen und Ermittler bei der DUP werden sollte, daher wusste er, dass das nichts bedeuten musste.

„Was macht er denn mittlerweile?“

„Er ist nach Kopenhagen gezogen, soviel ich weiß, hat seine Frau dort einen Job bekommen. Er hat eine Weile bei der Kopenhagener Polizei gearbeitet, aber nicht besonders lange. Er hat später seine eigene autorisierte Wachfirma eröffnet, Kruses Wach- und Sicherheitsdienst in Silkeborg. Vielleicht hatte er gespart.“ Harald Andersen hob die Augenbrauen.

„Dann steht der Partner also auch unter Verdacht?“, fragte Mark.

Andersen beugte sich wieder vor und stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. „Das sind nur Verdächtigungen. Ich habe nichts Handfestes, und wäre Janus nicht gekidnappt worden, hätte ich es vielleicht einfach auf sich beruhen lassen, aber falls es dazu beiträgt, ihn zu finden, muss dem nachgegangen werden.“

„Wie viel Bargeld ist verschwunden?“, wollte Roland wissen.

„Das ist unsicher, aber wohl genug um dafür zu töten. Nach der Verhaftung der vier Mitglieder gab es Unruhe in der Bande. Ein ranghohes Mitglied der Bande wurde erschossen, weil es verdächtigt wurde, das Geld gestohlen zu haben. Die Vernehmung der vier Inhaftierten hat das ans Licht gebracht. Einer von ihnen bat uns, in den eigenen Reihen zu gucken, und behauptete, er habe an dem Abend irgendetwas gesehen, aber dann knickte er ein. Sicher aufgrund von Drohungen von den anderen Mitgliedern, die nicht wollen, dass wir tiefer in dieser Sache graben. Sie wollen ihre Auseinandersetzungen am liebsten auf ihre eigene Art klären.“

„Wir fahren zum Krankenhaus und reden mit Sander und Alberte Lindholm. Ich hoffe, Sie finden ihren Sohn wohlbehalten.“ Andersen nickte ernst.

Zum Glück war Mark besser darin, sich in riesigen Gebäuden zu orientieren als er, vielleicht, weil Rolands Gehirn bei Krankenhausgeruch fast blockierte. Die Gedanken sprangen erneut zurück zu seinem Klinikaufenthalt in Neapel, das Herz schien zu verkrampfen und ihm trat kalter Schweiß auf die Stirn. Aber er tröstete sich damit, dass, sollte ihm das Herz stehen bleiben, hier wohl der beste Ort dafür wäre. Vielleicht. Er folgte Mark auf die Intensivstation, genannt ITA2, die sich glücklicherweise im ersten Stock befand.

Die dunkle Seite zeigte sich aufs Schlimmste, als eine Krankenschwester sie zu Sander Lindholms Bett führte und das Werk des Gewalttäters auf grauenhafteste Weise visualisiert wurde. Für Roland gab es keinerlei Zeichen dafür, dass jemand den Wunsch gehabt hatte, der Beamte solle überleben, wie Viktor es angedeutet hatte. Die Gesichtsfarbe ging von blauviolett bis schwarzblau, mehrere Stiche in der Stirn und den Augenbrauen würden ganz sicher Narben hinterlassen, die Nase war gebrochen, die Haut unter den Augen quoll auf, das linke Auge war geschlossen. Das ganze Gesicht war geschwollen von der Flüssigkeit, die das Reparatursystem des Menschen automatisch abgibt, wenn verletzte Regionen vor Stößen geschützt werden müssen. Einen Augenblick lang glaubte Roland, der Beamte sei gar nicht bei Bewusstsein, aber dann zog Mark einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Sander öffnete langsam das eine Auge und sah ihn verwundert an, dann kam die Furcht.

„Habt ihr ihn gefunden? Habt ihr ihn gefunden — Janus?“, stammelte er.

„Wir kommen von der DUP und haben nur ein paar Fragen an Sie. Zuallererst möchten wir selbstverständlich unser tiefstes Mitgefühl ausdrücken.“

Roland konnte nicht anders als am Fußende des Bettes zu nicken, obwohl er genau wusste, dass selbst tiefstes Mitgefühl in Sander Lindholms Situation nicht besonders viel half.

Er schloss das Auge wieder, als ob er es nicht schaffte, es offen zu halten. „Was wollt ihr … von mir?! Ich … ich habe nichts Kriminelles gemacht. Ihr solltet lieber meinen … meinen Sohn finden.“

„Darum kümmern sich Ihre Kollegen. Wie Sie wissen, muss die Unabhängige Polizeibehörde immer ermitteln, wenn ein Beamter überfallen wurde. Kannten Sie die Täter?“

„Ob … ob ich sie kannte? Natürlich nicht!“ Sander öffnete das Auge wieder und starrte Mark wütend an.

„Ihre Frau hatte den Eindruck, dass Sie sie kannten?“ „Das tue ich nicht. Warum … warum sollte ich?“

„Kann es Rache sein für die Verhaftung der Mitglieder der Black Swan-Bande?“, fragte Roland und stützte sich mit beiden Händen auf dem Kopfteil ab. Er konnte den Schlauch des Katheters unter der Decke heraushängen und eine helle Flüssigkeit in einen Beutel am Bett laufen sehen und wurde ein weiteres Mal daran erinnert, warum er Krankenhäuser nicht ausstehen konnte.

Sander drehte langsam das Gesicht zur Decke und fixierte ihn mit dem Zyklopenauge. „Die waren nicht von Black Swan“, stellte er fest.

„Sind Sie sich ganz sicher? Ihre Frau hat deren Erkennungszeichen bemerkt. Die Tätowierung eines schwarzen Schwans auf der Hand.“

Sander schwieg lange und Roland überlegte, ob er gründlich nachdachte oder ob er Zeit gewinnen wollte.

„Das … das habe ich nicht gesehen. Alberte ist verletzt … sie … haben Sie mit ihr gesprochen? Wie geht es ihr? Der Arzt sagte …“ Er hustete heftig und griff nach dem Wasserglas auf einem Tischchen neben dem Bett. Auf dem Tisch waren keine Blumen, aber an mehreren Stellen auf der Intensivstation verboten sie diese aufgrund von Pollen und diversen gefährlichen Aromen. Roland beeilte sich, Sander das Glas zu geben, da es außerhalb seiner Reichweite stand. Mit Mühe führte er das Glas zum Mund, während Roland es von unten stützte.

„Wir haben noch nicht mit Alberte gesprochen, aber der Arzt sagte, dass es ihr den Umständen entsprechend gut geht“, sagte er, während Sander trank. Als er fertig war, stellte Roland das Glas zurück auf den Tisch, so nah an die Kante, dass Sander nächstes Mal allein rankäme. Wasser lief über sein Kinn und seine Brust, aber er schien es nicht zu bemerken.

„Aber nichts Neues von Janus?“, fragte er, die aufgeplatzten Lippen zitterten.

„Es ist eine große Suche im Gang, aber es würde Ihren Kollegen helfen, wenn Sie die Entführer besser beschreiben könnten. Sie haben sie also vorher noch nie getroffen?“

„Nein, ich … ich habe sie noch nie gesehen.“

Sander hatte das Auge wieder geschlossen.

„Wo kommt das Geld für Ihre USA-Reise her?“, fragte Roland und fing sich einen Seitenblick von Mark ein.

„Für die USA? Was meinen Sie? Ich … ich arbeite und bekomme mein Gehalt.“

„Ja, aber das war sicher eine teure Reise. Für die ganze Familie.“

Sander holte mühsam Luft. Er hyperventilierte und plötzlich kam eine Krankenschwester ins Zimmer und schaute auf einen der Bildschirme neben seinem Bett.

„Jetzt ist es genug für heute, der Patient braucht Ruhe“, stellte sie fest, nickte in Richtung der Tür, um ein „verschwindet“ anzudeuten und maß Sanders Puls.

Mark und Roland verließen widerstrebend das Zimmer und fragten nach Station N1, wo Alberte Lindholm lag. Leider war es im Hochhaus im zehnten Stock. Roland hielt den ganzen Weg nach oben im Aufzug die Luft an. Er mochte Aufzüge nicht, die in diese Höhe fuhren, aber die Treppen zu nehmen, wäre noch schlimmer gewesen.

Alberte Lindholm sah auch aus, als ob sie schliefe, öffnete aber sofort die Augen, als sie hineinkamen. „Habt ihr ihn gefunden?“, fragte auch sie sofort und machte Miene, sich im Bett aufrichten zu wollen, aber die Schmerzen hinderten sie daran. Sie war nicht so übel zugerichtet wie ihr Mann, aber die Trauer, die ihr Gesicht verzerrte, war so deutlich, dass es Roland in der Seele wehtat. Besonders, da die Hoffnung, die in ihren Augen entfacht wurde, sofort wieder zerstört wurde.

„Wir kommen nicht von der Polizei. Wir sind Ermittler der Unabhängigen Polizeibehörde“, erklärte Roland und schaute mit tiefem Mitgefühl auf sie hinunter. „Die Chancen stehen gut, dass Ihrem Sohn kein Leid geschieht, wenn er als Geisel in einem Tauschhandel benutzt wird“, versuchte er zu trösten. „Die Entführer wissen genau, dass sie nicht kriegen, was sie verlangen, wenn sie ihm etwas tun.“

„Aber was verlangen sie?“, übernahm Mark und stellte sich neben die andere Seite des Bettes.

Alberte drehte ihm verständnislos den Kopf zu. In der Haut waren Risse, aber sie hatte keine Stiche wie ihr Mann. Stattdessen überall kleine Pflaster zum Zusammenflicken.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“, sagte sie mit gerunzelter Stirn wie unter heftigen Schmerzen.

„Wir haben gehört, dass Sie nach dem Überfall ausgesagt haben, Sie hätten den Eindruck gehabt, dass Ihr Mann die Täter kannte und über einen Tauschhandel mit Janus sprach.“

„Ich war verwirrt und übel zugerichtet, ich wusste nicht, was ich sagte. Ich kann mich gar nicht erinnern, das gesagt zu haben“, murmelte sie.

„Können Sie sich auch nicht daran erinnern, gesagt zu haben, dass der, der Sie geschlagen und getreten hat, eine Tätowierung eines schwarzen Schwans auf der Hand hatte?“

Alberte nickte. „Doch, hatte er. Jedes Mal, wenn er zugeschlagen hat, habe ich sie gesehen. Hilft das, Janus zu finden?“

„Das macht es der Polizei leichter, aber wir müssen auch wissen, ob Sander sie kannte, Alberte.“

Sie schaute Roland wieder an und ihre Augen wurden schmal. „Wieso? Beschuldigt ihr ihn für irgendwas? Hat er nicht genug gelitten?“

Tränen füllten ihre Augen. Roland spürte ein Ziehen im Magen. Manchmal konnte der Job ungerecht wirken. Aber wenn der Beamte etwas Kriminelles getan hatte, musste er dafür bestraft werden.

„Falls es nun helfen könnte, Ihren Sohn zu finden“, versuchte er es.

Alberte kapitulierte. „Doch, es wirkte, als ob sie Sander kannten. Sie haben etwas davon gesagt, ob er glaubte, er könne einfach so davonkommen und falls nicht bald etwas passierte, dann …“ Sie schloss die Augen fest und biss sich auf die Lippe, um nicht weinen zu müssen.

„Es klang also, als hätten sie ihn schon mal bedroht?“

Sie nickte.

„Wissen Sie etwas über diese Drohungen? Briefe? Anrufe?“

„Nein … nein, da war nichts, soviel ich weiß. Aber ich bin mir sicher dass die, die Sander geschlagen haben, Einwanderer waren. Jedenfalls waren sie keine Dänen.“

Sie sprach immer noch mit geschlossenen Augen, als ob sie das Ganze nochmal vor sich sehen würde, auf der Rückseite ihrer Augenlider, die sich unruhig bewegten wie im Traum.

„Ihre Reise in die USA, Alberte, woher kam das Geld dafür?“

„In die USA?“ Alberte öffnete die Augen und schaute an die Decke, ohne etwas zu sagen.

„Es war gemeinhin bekannt, dass Sie finanzielle Probleme hatten. Woher hatten Sie dann das Geld?“, fragte Mark.

Alberte schüttelte den Kopf und sah ihn direkt an. „Sander kümmert sich um die Finanzen. Wir haben wohl das Geld genommen, das Sander als Bonus und für Überstunden bekommen hat“, sagte sie mit einem müden Lächeln, als hätten sie das Ganze bloß missverstanden.

Wieder wurden sie von einem weißen Kittel in der Tür unterbrochen. „Sie müssen jetzt zur Krankengymnastik, Alberte. Der Physiotherapeut wartet“, teilte der Arzt mit und warf ihnen ein reserviertes Lächeln zu. Sie verabschiedeten sich und verzogen sich in den Flur, während der Arzt der Patientin aus dem Bett half.

„Was denkst du?“, fragte Mark im Aufzug auf dem Weg nach unten. Das fiel Roland leichter, er fuhr in die richtige Richtung.

„Das klingt doch nach Black Swan. Nach Harald Andersens Beschreibung ist das ja eine Bande von Rockern und Immigranten. Aber warum leugnet Sander, dass sie es waren? In welcher Klemme steckt er? Wenn er das Geld genommen hat, steht viel auf dem Spiel, aber wie weit würde er auf Kosten seines Sohnes gehen?“

„Wenn Sander etwas damit zu tun hat, hoffe ich jedenfalls, dass sein Sohn nicht darunter leiden muss. Wir müssen uns seine Finanzen anschauen. Falls es, wie Alberte meint, Bonuszahlungen und die Vergütung von Überstunden sind, wird sein Arbeitgeber das aufklären können.“

Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9

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