Читать книгу Der Prinz von Azamuth - Iris Fak - Страница 13

Ausbruch

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Der harte Boden brachte Lyze in die Realität zurück. Er war so erschöpft vom Verhör mit Lydia, dass er nach der Befragung einfach die Augen geschlossen hatte. Seine Brauen zuckten, ehe sich die Lider wieder hoben. Wo war er nun...?

Richtig... in einer Zelle. In einer von insgesamt sechs auf diesem Gang. Der Steinboden kühl, die Wände sowie das Heu in der Ecke feucht.

Lyze wischte sich mit seinem Ärmel über das Gesicht – das weiße Hemd, welches er heute erst angezogen hatte, war völlig verdreckt und an manchen Stellen eingerissen. Wie lange hatte er wohl geschlafen? Und was noch viel wichtiger war: wurde Sari hier auch eingesperrt?

„Geht es dir gut?“ – passend zu seinen Gedanken, konnte er eine Frauenstimme leise durch den Gang schallen hören.

„Sari?“, dass Saris Stimme anders klang, wurde ihm erst nach seiner Frage bewusst.

Das Kichern über die Verwechslung war nun lauter zu hören: „Nein... tut mir leid. Mein Name ist Tracy Lily [Traysie Lili].“

Nun begann Lyze in die umliegende Gefängniszellen zu sehen. Weder in der linken, noch in der rechten war jemand eingesperrt.

„Ich bin hier-“, eine Hand winkte auf der anderen Seite des Ganges, „Gegenüber!“

So rutschte der Halbengel näher zu den Stäben und entdeckte Tracy – eine Katzen-Animo.

Halb Mensch, halb Tier. Gut erkennbar an ihren unübersehbaren, weißen Katzenohren und ihren langen, dünnen Schnurrbarthaaren, die sich etwas unterhalb ihrer schwarzen Nase befanden. Hinter ihr schwang sacht ein weißer Katzenschweif hervor. Abgesehen von ihren tierischen Merkmalen, hatte sie eine helle Haut und schulterlange, gleichmäßig geschnittene schwarze Haare. Auch ihre smaragdgrünen Augen waren menschlicher Natur.

Als Lyze sie ein paar geschlagene Sekunden wortlos musterte, legte Tracy ihren Kopf schief. Ihr Blick verriet, dass sie es als unhöflich empfand, doch sagte sie angesichts der Fremdheit nichts.

Erst, nachdem Lyze die Unangemessenheit seines Verhaltens bemerkte, blinzelte er verlegen hoch: „Oh... ich- bitte entschuldige... ehm-“, er griff sich an den Nacken, sodass sich in Tracys Gesicht ein Schmunzeln ausbreitete. „Ich habe noch nie zuvor eine Animo vor mir gesehen... die Bezeichnung stimmt doch, oder?“

„Ja, tut sie.“, Tracy kicherte erneut, „Mir geht es genauso. Ich habe noch nie einen Engel gesehen!“ Lyzes Augen weiteten sich. Woher wusste sie das? „Hm, nur dachte ich immer, Engel haben Federflügel. Das steht zumindest in den Büchern.“

„Haben sie auch... ich bin ein Halbengel.“

„Oh!“

„Woher wusstest du, dass ich einer bin?“

„Geschwätzige Wachen... sie haben verständlicherweise außer bewachen nicht viel zu tun.“

„Verstehe...“, Lyze begann neugierig zu werden – sollte Tracy auch nur ein wenig länger als er hier eingesperrt sein, so nahmen ihre Katzenohren sicherlich einige Gespräche der Dämonen war. So war es nur allzu verständlich, dass er sich als erstes über bekannte Personen erkundigte: „Du hast nicht zufällig... etwas über ein blondes Mädchen mit blauen Augen gehört? Ein Kind, etwa zehn Jahre alt?“

„Ist das diese Sari?“

„Nein, meine kleine Schwester... Aira. Aber Sari suche ich auch.“

„Es tut mir sehr leid... doch Kinder werden hier nicht gefangen gehalten.“

Der Kopf des Halbengel senkte sich. „...Verstehe.“

Nun hatte er wiederum Tracy neugierig gemacht. Sie legte die Hände auf die Gitterstäbe und sprach, um ihn zeitgleich zu beruhigen und mehr zu erfahren: „Aber ich weiß, dass es hier eine Sari gibt.“

Lyzes Augen blitzten, ehe sein Gesicht Erleichterung zeigte.

„Sie ist heute hineingekommen und scheint ein sehr wichtiger Fall zu sein...“, an dieser Stelle richteten sich Tracys Ohren auf, „So wichtig, dass Ritter Eresol Tarrence sie persönlich verhört.“

„Eresol Tarrence?“

„Ein gemeiner, kaltherziger Mann... groß und unheimlich. Alle hier rufen ihn 'Meister' – wenn er hier nicht das Sagen hat, dann will ich keine Animo sein.“

„Hm, das klingt übel...“, nun wandte Lyze seinen Blick ab – er schien über etwas sehr ernstes nachzudenken.

Da zuckte Tracys Schweif: „Darf ich dich etwas fragen? Du musst es auch nicht beantworten... aber warum seid ihr hier? Du, in der speziellen Zellenabteilung B-Fünfundsechzig, deine Freundin am Verhörstuhl von Tarrence...“

„Uhm... bei mir ist es einfach: die Dämonen glauben, durch mich an Informationen über das Reich der Engel zu kommen.“, er zog erneut nachdenklich die Augenbrauen zusammen, „Und bei Sari... da bin ich mir nicht sicher. Ich kann nur so viel sagen, dass ihre zuerst sinnlos erscheinende Erklärung durch unsere Gefangenschaft an Glaubhaftigkeit gewinnt...“

„Oh... ach so.“

Nun hatte Lyze eine Erkenntnis über die Katzenfrau gewonnen: „Du sagtest 'in der speziellen Zellenabteilung'... bedeutet das, die Dämonen wollen etwas von dir?“

Bei seiner Frage wurde Tracys Blick für einen Moment starr. Als dann ihre Miene all die Trauer, Verzweiflung, aber auch Wut und Verachtung widerspiegelte, wurde Lyze schnell klar, dass er nicht danach hätte fragen sollen. Den Blick abgewandt, schüttelte die Frau ihm gegenüber einfach stumm den Kopf. Ein leichtes Lächeln breitete sich aus, als ihr der sie schützende Satz über die Lippen kam, der sowohl die Wahrheit sagte, doch nicht zu viel verriet: „Es war eine Verwechslung.“

„Eine Verwechslung...“, Lyze verstand gut, wie es war, ein schweres Geheimnis hüten zu müssen. So beschloss er, nicht näher darauf einzugehen und stattdessen das Thema zu wechseln: „Du kommst nicht aus Desteral... habe ich Recht?“

„Nein.“, ihre Stimme war leise, immer noch unruhig von vorhin: „Nein, ich komme aus Palooza [Palusa].“

Palooza... eine Landmasse, oberhalb des Festlandes Desterals. Das nördliche Meer trennt es vom großen Kontinent Airas.

„Dann stimmt es also, was man sagt.“, der Halbengel schien sich über seine neue, seltene Bekanntschaft zu freuen, „Palooza, das neutrale Tiermenschenreich. Nur selten wurde es von Menschen außerhalb gesehen.“, er schmunzelte, „Eure Regierung soll sehr streng sein, was die Einreise betrifft.“

„Oh, so streng nun auch wieder nicht. Man braucht nur eine speziell ausgestellte Genehmigung und darf sich in den meisten Fällen nicht länger als ein paar Wochen aufhalten.“, sie seufzte und zog ihre Knie an: „Und dass wir einen so neutralen Ruf haben, wird wohl bald der Vergangenheit angehören...“

„Wie meinst du das?“

„Na ja... weißt du, dass Palooza in vierzehn Reiche unterteilt ist?“

„Ja... in die verschiedenen Tiermenschen-Völker.“

„Dann solltest du auch wissen, dass sich alle Fürstenhäuser der Reiche einig sein müssen, damit Palooza etwas beschließen kann. Und... na ja, es wird gerade darum gestritten, ob Palooza nun Desteral helfen soll, oder sich dem viel besser koordinierten Azamuth anschließen soll.“

„Das- das wäre Desterals Todesstoß-!“

Sie nickte. „Jetzt verstehst du das Problem. Je länger der Krieg dauert, desto näher rückt der Tag Paloozas einstimmiger Entscheidung.“

Erneut kam dem Halbengel Sari in den Sinn. Was hatte sie gesagt? Prinz Vilior könnte dem Krieg ein Ende setzen. Auch wenn die Chance auf Frieden in Lyzes Augen gering war... so war es besser, ihn zu suchen, als in einer azamuthischen Zelle grau zu werden.

„Tracy-“, Lyze wartete, bis sie zu ihm aufsah, „Wenn wir versuchen würden, zu fliehen... würdest du uns begleiten?“

Die Katzenohren schnellten über das Angebot erfreut in die Höhe: „Soll das ein Scherz sein? Selbstverständlich!“ Deutlich war zu hören, dass Tracy auf einen Moment wie diesen nur gewartet hatte: gemeinsam mit Verbündeten einen geschickten Ausbruch verüben. Alles was jetzt noch fehlte, war ein gut überlegter Plan...

Eine Hand am Speer, die andere auf dem Gürtel. So ging die dämonische Wache die Gänge ab. Aus seinem schmalen Mund standen drei Zähne in verschiedene Richtungen – ein Zahnarzt war in Azamuth selten zu finden. Seine Haut fahl und orange. Ab den Knien bogen sich die Beine leicht nach hinten, endeten mit zwei großen Hufen. Das war wohl ein Grund dafür, wieso diese Wache keine festen Stiefel trug. Bei jedem seiner Schritte klimperte ein Schlüsselbund, mit zwei ganz bestimmten Zellenschlüsseln daran. Als der Wärter Abteilung B-Fünfundsechzig näher kam, sahen die darin befindlichen Gefangenen ihre Möglichkeit zu fliehen. Jetzt musste der IQ des Dämons nur mehr niedrig genug sein, um perfekt in den ausgedachten Plan zu passen.

Ein Ohr der Wache zuckte, als er den Ruf eines Mannes vernahm. Es war kein gewöhnliches Wehklagen, oder Protestruf wie sonst, sondern ein Hilferuf. Nicht nach der Freiheit – sondern, nun klar hörbar: „Hiiiilfee! Waaaachee, hiiilfee!“

So schnaufte der Wärter durch seine Nasenlöcher, ehe er im Schnellschritt in den speziellen Gang einbog. Eine Hand winkte wie verrückt aus der zweiten Zelle von rechts, dabei rief der Halbengel immer noch um Hilfe.

„Jajaja, ist schon gut! Was ist denn!?“

„Sehen Sie nur! Die Katzenfrau....!“, Lyze spielte so gut es ging den hysterischen Gefangenen, „Die Frau! Sie zuckt seltsam und hat Schaum vor dem Mund! Was ist das nur!?“

Ein wenig desinteressiert blickte der Wärter zur am Boden zappelnden Tracy. Was sollte ihn das interessieren?

„Bei Desteral! Ich sah diese Symptome schon einmal!“, Lyze packte sich an den Haaren: „Ein ganzes Dorf wurde von Tollwut ausgelöscht!“

„Tollwut?“, der Wärter warf noch einmal einen Blick auf Tracy, „Hm, ja... ja! Ich habe schon einmal von Tollwut gehört!“

„Oh zum Glück, dann wissen Sie, wie gefährlich das ist!“

Nun musste der Wärter nachdenken. Damit dies nicht zulange dauerte, fuhr Lyze fort: „Tollwut ist sehr, sehr ansteckend! Die Frau könnte die ganze Festung auslöschen!“

„Waaaaas!?“, endlich war der Funke übergesprungen.

„Herr Wache, schnell! Sie müssen die anderen informieren!“

„Nein! Keine voreiligen Schlüsse!“, schnaufend lehnte der Wärter seinen Speer gegen die Wand und begann nach dem richtigen Schlüssel am Bund zu suchen: „Der Meister sagte, noch ein falscher Alarm und er lässt wahllos fünf Mitarbeiter entlassen!“

Und so verlief alles nach Plan: der Dämon sperrte Tracys Zelle auf, um sie anschließend näher zu untersuchen. Er blieb dazu vor ihr stehen und musterte sie, während sie am ganzen Körper zuckte. Dann trat er ein wenig näher an sie heran, um nachzusehen, ob sie tatsächlich Schaum vor den Mund hatte. Und noch näher. „Hm.“, stellte er fest, „Da ist kein Schaum vor dem Mund. Na bitte, falscher Alarm!“

Gerade als sich der Wärter zufrieden aufrichtete, streckte Lyze den Arm aus und entfachte eine enorme Windböe: sie riss den Wärter von den Beinen, sein Plan war damit aufgegangen: „Jetzt, Tracy!“

Die Katzenfrau griff nach einem nahen Brocken aus der Steinmauer, sprang auf ihre Beine auf und schlug einmal fest auf den Kopf des Wärters ein. Mit gespitzten Ohren wartete Tracy anschließend auf eine Reaktion. Als sie sich sicher war, dass der Wärter ohne Bewusstsein liegen bleibt, lief sie schließlich aus der Zelle. Der Schlüssel steckte noch, sodass sie den Wärter nur noch einsperren musste.

„Gut gemacht!“, freute sich Lyze, der langsam aufstand, „Alles lief perfekt! Schnell, sperre meine Zellentüre auf!“

Überglücklich nahm Tracy vorerst einen tiefen Atemzug.

„Tracy...?“

„Oh-“, schnell zückte sie den Schlüssel, „Tut mir leid – ich bin so froh, endlich aus dem Käfig zu sein!“, und sperrte die Zelle für ihren neuen Freund auf. Der Halbengel, welcher ihre Reaktion nur allzu gut verstand, trat schmunzelnd hervor: „Ich weiß, was du meinst... wie lange warst du denn eingesperrt?“

„Uhm...“, nun knickte sie ein Ohr. „Viel zu lange...“

„Bitte entschuldige, ich wollte keine schlechten Erinnerungen wecken. Wir sollten unser Gespräch sowieso auf später verschieben – wenn der Wärter aufwacht und seine Kopfschmerzen halbwegs in den Griff bekommen hat, wird er Alarm schlagen...“

Entschlossen und überwältigt von ihren wieder erweckten Gefühlen der Vergangenheit, packte Tracy den jungen Mann am Handgelenk, „Gut, dann lass uns keine Zeit verlieren – ich kenne den Weg hinaus!“, und lief los.

„Warte....!“, Lyze wurde ein paar Schritte mitgezogen, ehe sie zum Stehen kamen; die Animo hatte überraschend viel Kraft. „Nicht ohne Sari.“

Einen geschlagenen Moment blickte Tracy zu ihm zurück, ehe sie sein Handgelenk losließ.

„Es tut mir leid, Tracy. Ich will deine Freiheit nicht gefährden, aber... ich muss sie befreien. Wenn du willst, lauf voraus – verlasse die Festung.“

Sie zögerte. Offensichtlich schien ihr Lyzes Argumentation nahe zu gehen. Und dann: ein Lächeln kam über ihre Lippen. „Deine Freundin scheint dir wirklich sehr wichtig zu sein... in Ordnung, holen wir sie.“

„Sie ist nicht meine Freundin... ich kenne sie erst seit gestern. Aber sie scheint eine entscheidende Sache über den Prinzen von Azamuth zu wissen, weshalb wir sie nicht hier lassen können.“

„Lyze....!“, nun sah die Katzenfrau enttäuscht aus: „Bist du aber gemein zu ihr! Ich dachte, sie sei dir wichtig!“

„Ähm...“, er verstand nicht, worum es Tracy genau ging. „Das ist sie doch auch.“ Nun, für Lyze hatte der Begriff „wichtig“ eine andere Bedeutung als für die junge Katzen-Animo. „Ist jetzt nicht so wichtig.“, meinte er, „Du hast vorhin von einem Verhör mit dem Ritter gesprochen. Konntest du die Dämonen auch sagen hören, wo es stattfindet?“

„Mh... warte.“, Tracy schloss die Augen und versuchte sich mit gesengtem Kopf an die belauschten Gespräche zu erinnern. Vieles kam in ihr hoch, auch das Gesagte über die zwei neuen Gefangenen.

Dann schallte es durch ihren Kopf: Lydias Stimme. „Bringt sie weg. Am Besten in Raum C-Zweiundsechzig, der Meister verhört dort am liebsten.“

„Raum C-Zweiundsechzig.“, sicher mit ihrem Wissen, nickte Tracy ihrem neuen Freund zu. „C steht für den dritten Stock und zweiundsechzig dürfte auf dem Korridor eine der letzten Türen sein.“

„Klingt logisch... denn wir sind hier in B-Fünfundsechzig. Dann sind wir im zweiten Stock?“

„Ganz genau. Wir müssen nur unauffällig die Stufen suchen.“, bevor die Katzen-Animo voran ging, deutete sie an Lyze hinunter. „Kannst du leise sein?“

„Nicht so leise wie ein Animo – aber ja, ich musste es zwangsläufig erlernen.“

„Gut.“, nun nahm Tracy den verwunderten Halbengel bei der Hand. „So können wir uns nicht verlieren – bleib bei mir.“


Inzwischen war der Schattenritualist im Verhörraum bei Sari eingetroffen. Tarrence hatte ihm erklärt, er solle ihr alles aus den Gedanken lesen, was er finden kann. Als die Menschenfrau stumm und gefesselt zu dem Ritter aufsah, legte der Ritualist seine Hände auf ihren brünetten Kopf und murmelte unverständliche Worte – höchstwahrscheinlich in einer alten, dämonischen Sprache. Die Prozedur dauerte nicht lange und verlief völlig schmerzlos. Als der dämonische Geistliche seine Hände wegzog, sah Sari überrascht zwischen ihm und Tarrence hin und her: „Ist es schon vorbei? Das war's?“

„Das war alles.“, bestätigte der Ritter, ehe er zum Schattenritualist sah. Dieser flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf hin Tarrence nickte – anschließend verließ der Ritualist den Raum.

„Und?“, wollte Sari wissen, „Hat er etwas in Erfahrung bringen können?“

Auf ihre Frage hin schüttelte er den Kopf: „Noch ist es nicht so weit. Er muss die gesammelten Gedanken aus seinem Geist niederschreiben, ehe er eine Antwort geben kann... Nun, durchaus seltsam, Sari...“, er ging leicht auf und ab, „Du wirkst beinahe, als ob dich deine eigenen Gedanken interessieren würden...“

„Das liegt daran, dass ich nichts mehr weiß! Und eventuell ist da irgendetwas tief in meinem Unterbewusstsein, das doch eine Ahnung haben könnte, wer ich bin und was geschehen ist.“, sie sah beleidigt von ihm weg, „...Wenn Sie mir schon nicht sagen, was Sie über mich wissen.“

„Eines kann ich dir gewiss sagen, Sari...“, seine nächsten Worte sprach er mit Nachdruck in der Stimme aus, „Wenn unser Schattenritualist sehr wohl auf all deine Gedanken zugreifen kann und ans Tageslicht kommt, dass du mit mir die ganze Zeit Spielchen getrieben hast, bringe ich dich persönlich nach Azamuth zur Hinrichtung.“

Sari schluckte auf seine schroffe Drohung. Sie hoffte nun doch inständig, der Ritualist konnte nicht einmal ein Fünkchen ihrer Gedanken lesen. „Moment... nach Azamuth? Ist das Ihr Ernst?“, sie verdrehte den Kopf, „Bringt man Gefangene nicht normalerweise gleich um?“

Gerade, als Tarrence den Mund zur Antwort öffnete, klopfte jemand an die Eisentür, bevor sich ein violetter Dämon unterwürfig verbeugte. „Herr, ich komme mit einer dringenden Meldung zu Euch...“

„Dann sprich, schnell.“

„Die Lebensmittel, die wir aus Azamuth haben einfahren lassen, sind wohl schlecht geworden – nach dem Abendessen klagten zwei Wärter über große Schmerzen. Nun sind es bereits sieben, die sich übergeben müssen!“

„Und was bei Ath'ars Wille soll daran dringend sein...?“

„Herr, Sir Grimlad, unser Gruppenanführer, bat Euch in die Küche zu kommen – er hofft auf Euren Rat!“

Tarrence gab ein überaus tiefes Grummeln von sich, woraufhin der Dämon ein paar Schritte aus der Tür trat. Schließlich seufzte der Ritter, ehe er dem Dämon nachging: „Nun gut, führe mich zu ihm. Mit Sicherheit benötigt unser Schattenritualist noch etwas Zeit.“, kurz sah er zu Sari, „Ich lasse dich jetzt wieder alleine. Hoffentlich fürchtest du dich nicht.“, bei seinem letzten Satz schmunzelte er, ehe die Eisentüre ins Schloss fiel.


Geschickt und auf leisen Sohlen schlichen die ausgebrochenen Gefangenen über den großen Hauptkorridor. Er war breiter als die übrigen und verband sämtliche Zellenabteilungen miteinander. Wann immer Tracys Katzenohren fremde Schritte wahrnahmen, zog sie Lyze schnell zur Seite – hinter eine Ecke, ein Fass oder eine der vielen Stützsäulen, jeweils links und rechts nahe der kalten Mauer. Nur einmal glaubte ein Dämon, etwas gehört zu haben. Doch nachdem die Flüchtigen bewegungslos ihren Atem anhielten, ging dieser mit einem Achselzucken weiter.

Am unteren Ende des langen Korridors fanden sie schließlich die massive Steinwendeltreppe. Sie führte sowohl nach unten, als auch in die oberen Stockwerke. Lyze vermutete, dass es auf der anderen Seite des Hauptkorridors eine weitere Wendeltreppe gab; niemals würden sämtliche Dämonen bei einem Alarm hintereinander den selben Weg nehmen. Seiner Meinung nach waren Bewohner Azamuths nicht gerade intelligent, doch so unkoordiniert nun auch wieder nicht.

Noch schnell einen Blick die Treppe hinab geworfen, eilten sie – als niemand zu sehen war – die Steinstufen nach oben.

Kaum den nächsten Stock erreicht, zog die Katzenfrau Lyze am weißen Hemdkragen zurück. So unsanft das auch war, verhinderte sie damit ihre Entdeckung durch einen Wärter, welcher laut grunzend nur eine Nasenlänge entfernt von der Wendeltreppe vorbeiging. Ein Kollege folgte ihm im Anschluss und kratzte sich am von Bartstoppeln übersätem Hals: „Gwaah, bin ich müde.“

„Hast du heute nicht Nachtdienst?“, so der Kollege, mit tiefer, murrender Stimme.

„Jaaah. Wäre ich nur nicht auf die Geburtstagsfeier gegangen.“

„Selbst Schuld, Idiot.“

Bevor sie hinter einer Holztür verschwanden, konnte man sehen, wie der folgende Wärter seinen Kameraden mit einem unfreundlichen „Halt's Maul.“ stieß.

Lyze blickte mit gehobener Augenbraue zu Tracy. Sie nickte und deutete damit an, dass die Suche nach Sari weitergehen konnte. Wieder liefen sie, Hand in Hand, über den breiten Korridor. Er glich dem unteren Gang, bis auf ein paar Gefängnis-Utensilien. Beim Anblick des Schildes „Zu den Räumen C-Fünfzig bis C-Zweiundsechzig“ wurden Lyzes Augen größer. Gleich waren sie da.

Ihrem Ziel so nahe, bogen sie ein, in den letzten Gang – und liefen einem Dämon direkt in die Arme. Einem um zwei Köpfe größeren Dämon. Mit Oberkörper so breit wie ein Schrank und Atem, der einem die Nasenhaare wegätzen hätte können.

„Heh.“, grummelte er. Er hatte eine enorm lange Reaktionszeit. „Heh – seid ihr nicht Gefangene?“

Was hätte man darauf nicht alles antworten könnten. Doch die Zeit hatten die zwei nicht.

„Oh, nein, wir sind Formwandler auf geheimer Mission.“, Tracy hatte sich vor Lyze für einen Satz entschieden. Auch sie wollte wissen, wie weit man einem azamuthischen Soldaten gegenüber gehen konnte.

„Heh? Geheimer Mission? Und was macht ihr dann hier?“

Lyze kam Tracy zuvor: „Na, den Chef suchen.“

Nun schienen sich die Zahnräder im Kopf des Soldaten in Bewegung zu setzen. Man sah seinem Gesicht an, wie die Gedanken aufkamen. „Ach so... mh ja, der ist hier irgendwo.“

Der Halbengel klopfte ihm freundschaftlich auf den Oberarm: „Super, danke. Man sieht sich.“, ehe die zwei „Doppelagenten“ ihren Weg fortsetzten. Ganze zehn Schritte.

Dann schien es dem Dämonen doch zu dämmern. „Heeeh, Moment mal!“, mit großen Schritten kam ihnen der Schrank von einem Soldaten nachgelaufen.

„Tracy, lauf!“, Lyze stellte sich dem Bulldozer mutig entgegen. In seiner Hand manifestierte sich eine Lichtklinge, bereit, die Katzen-Animo zu beschützen.

Doch ehe er zuschlagen konnte, sprang Tracy in hohem Bogen auf den Dämon zu, mitten in sein Gesicht. Ihre Katzenähnlichen Klauen waren dabei ausgefahren und ihr Schweif schwang aufgeplustert hinter ihr her.

Der Soldat versuchte, mit aller Tollpatschigkeit, Tracy abzuschütteln und torkelte dabei rückwärts. Er berührte mit dem Rücken eine Säule, die ihm auf eine grandiose Idee brachte: er rotierte und wandte sich mit Tracy der Säule zu.

„Tracy-!“, ehe Lyze sie warnen konnte, sprang die Animo schnell vom Dämon ab. Dieser aber hatte dabei bereits mit dem Kopf ausgeholt – und knallte mit dem Schädel gegen die Säule. So massiv dieser Koloss auch war, hatte er aus dem harten Gestein der Stützsäule nichts als ein kleines Stück herausgebrochen. Er selbst war bei dem Versuch, die Katzenfrau zu zerschmettern, mit kreisenden Sternchen vor seinem Blickfeld zu Boden gegangen.

„Das-“, Lyze stupste den bewusstlosen Dämon mit dem Fuß, „Das war seltsam.“, anschließend lächelte er zu Tracy. „Und gut.“

Sie putzte ihre Kleidung ab und sah zufrieden aus: „Niemand bedroht meine Ausbruchs-Kumpanen.“

„Sieh nur...“, erleichtert, die letzte, schwere Eisentür am Ende des Ganges sehen zu können, ging Lyze langsam den nun freien Korridor entlang. „Wir sind endlich da – C-Zweiundsechzig.“ Er drehte sich Tracy zu und wartete, bis diese zu ihm aufgeschlossen hatte: „Hoffen wir, dass du recht hast.“

Etwas beleidigt knickte sie eines ihrer weißen Katzenohren: „Ich bin mir sicher! Aber... sie könnte verschlossen sein. Oder noch schlimmer...“, erst jetzt wurde es ihr bewusst, „Ritter Tarrence könnte bei ihr sein!“

Vor der Tür angekommen nickte Lyze und schob die Animo sanft zur Seite. „Bleib hier-“, flüsterte er, „Wenn es so ist, werden wir ihn überraschen.“ Erneut erschien die Lichtklinge in seinen Händen. Gleichzeitig legte Lyze eine Hand, bereit zum Aufstoßen, auf die Türklinke.

„Das ist Lichtmagie, oder?“

Er sah zu Tracy.

„Das Schwert – Engel können Lichtmagie, habe ich recht? Das steht so in unseren Büchern.“

Auf ihre Feststellung musste Lyze schmunzeln: „Eure Bücher haben recht. Lichtmagie ist weit unter den Engeln verbreitet.“

„Und der starke Windstoß?“ Nun verdrehte sie neugierig den Kopf.

„Nein, das-“, darüber hatte der Halbengel noch nie wirklich nachgedacht. Er zog die Augenbrauen zusammen und versuchte zu überlegen, unter welche Kategorie die Windstöße fielen. Oder wo und wann er diese überhaupt gelernt hatte... er wusste es nicht mehr.

„Lyze...?“

„Uhm...“, er sah, zurück von seinen Gedanken, zu Tracy auf. „Darüber reden wir später. Auf „jetzt“ stoßen wir die Tür auf... sei bereit.“

In die Ecke neben der Eisentür gedrängt, nickte die Katzenfrau. Auch Lyze ging in Position und begann zu zählen: „Drei, zwei... eins... jetzt!“

Mit Hilfe des rechten Beins stieß Lyze die Tür mit festem Druck auf und preschte nach vorne. Doch statt einem dämonischen Anführer gegenüber zu stehen, erblickte er Sari, die völlig entsetzt von seiner Handlung die Beine näher zu sich gezogen hatte. Sie saß immer noch gefesselt auf ihrem Stuhl und hätte sich bei einem Angriff nicht wehren können. So war ihre Reaktion eine leicht gespaltene Mischung: „Lyze....! Du bist gekommen! Wie-? S-sag hast du sie noch alle!? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!“

„Bist du allein?“, um sicher zu gehen, sah sich der Halbengel eilig im kleinen Raum um.

Es ärgerte Sari, dass er nicht auf ihre Begrüßung, geschweige denn ihre Ängste einging. So plusterte sie ihre Backen auf und drehte ihm den Kopf nach. „Natürlich bin ich allein! Wieso – sollte ein unsichtbarer Dämon in einer Ecke stehen!?“

„Gut.“, nun lief er zum Stuhl und versuchte, den Knoten an ihrem Rücken zu lockern.

„Was war denn nun, Lyze? Wie erging es dir? Wurdest du verprügelt?“, sie legte den Kopf nach hinten, um ihn mit ihrem neugierigen Blick anzusehen: „Der 'Meister' sagte, sie versuchten dich auszuquetschen. Hast du geredet?“

Während er sich an das Verhör erinnerte, unterbrach er das Hantieren an dem Knoten: „Nicht ein Wort.“

„Wow... und trotzdem kannst du stehen?“, sie zog die Augenbrauen zusammen, „Also entweder sind die Dämonen Weicheier, oder du bist aus Stahl.“

„Lyze...? Ist die Luft rein?“, Tracy lugte vorsichtig durch die offene Tür in den Raum hinein. Als Sari ihre weißen Katzenohren erblickte, blieb ihr vorerst der Mund offen.

„Alles in Ordnung, Tracy. Komm herein.“

„Ja was-?!“, Sari zappelte am Stuhl, als sich die Animo näherte, „Spinn' ich denn?! Was hat der Ritualist mit mir gemacht?!“

Diese freche erste Reaktion gefiel Tracy gar nicht. Sie baute sich breitbeinig vor Sari auf, stemmte ihre Hände in die Hüfte und sah belehrend zu ihr hinab: „Was ist das für ein Benehmen? Mit solch einem ersten Eindruck gewinnt man keine Freunde und obendrein beleidigst du dein Gegenüber!“

„Was...?“, Sari sah zum Halbengel, „Ist das ihr Ernst?“

„Und ob das mein Ernst ist!“, Tracy schüttelte den Kopf, „Daran müssen wir noch arbeiten. Mein Name ist Tracy. Ich bin eine Katzen-Animo.“

„Sie kommt aus Palooza, im weiten Norden.“, so Lyze, immer noch mit dem Knoten beschäftigt.

„Eh... ja. Ich bin Sari. Wie du wahrscheinlich von dem da hinten bereits gehört hast.“ Insgeheim fragte sich Sari, ob diese Katzenfrau die ganze Zeit bei ihnen sein würde.

„Können wir das auf später verschieben?“, der Halbengel hatte sichtlich Mühe mit dem Knoten. Er wollte keine Lichtmagie anwenden, da er Sari nicht verletzen wollte. Und so murmelte er, ein wenig verärgert, zu sich selbst: „Wer bei Desteral hat diesen Knoten gebunden...?!“

„Ach, richtig!“, Sari legte wieder den Kopf nach hinten, „Lyze, rate mal, was ich dank den Dämonen erfahren habe: gar nichts! Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin!“

„Welch eine Überraschung.“

„Aber dieser Tarrence, er kennt mich! Da bin ich mir sicher, er weiß genau, wer ich bin!“

„Du meinst diesen dämonischen Ritter, der Befehle erteilt?“

„Ja! Wenn du das sagst, klingt das irgendwie abwertend...“

„So war es auch gemeint, Sari.“

„Aber Tarrence ist gar nicht so übel! Wir haben gemeinsam nach einer Lösung gesucht-!“

„Sari...“, Lyze seufzte, „Wenn der Ritter nicht so übel ist... wieso bist du dann an diesen Holzstuhl gefesselt?“

„Na, weil... äh, ich bin mir ziemlich sicher, dass das so Vorschrift ist.“

„Dieser Dämon kann dich auch kennen und trotzdem ein Feind sein. Was ist, wenn du ihm in der Vergangenheit einfach schon mehrmals über den Weg gelaufen bist?“

„Hm, gut möglich...“, sie senkte nachdenklich den Kopf: „Tarrence behauptet fest, er wüsste nicht, wo sich der Prinz aufhält – und dass ich an seinem Verschwinden beteiligt wäre... Aber wie kann ich das denn sein, wenn ich selbst nach ihm suche?“, sie sah zu Lyze auf, „Ich habe den Verdacht, dass sich Prinz Vilior absichtlich vor den Dämonen versteckt hält... vielleicht hat sein Vater, König Halwadar, befohlen, ihn zu finden und zu töten... damit er ungestört Desteral einnehmen kann.“

Die Katzenohren der neuen Begleiterin zuckten. Hörte sie richtig? Vermutete Morde und Intrigen innerhalb der königlichen Familie von Azamuth? Diese Menschenfrau schien für Tarrence wirklich einiges Wert zu sein. Tracy war in eine heikle Angelegenheit hinein geraten, die ihrer Situation gar nicht so unähnlich war.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“, der Knoten, an dem Lyze arbeitete, war endlich offen, „Da kannst du wohl nur Vermutungen anstellen – egal, ob es wahr ist oder nicht... wir sollten den Prinzen unbedingt vor diesem Ritter finden... aber dazu-“, er und Tracy banden Sari los, „Sollten wir schnell von hier verschwinden!“

Einige Minuten später kehrte Tarrence zurück. Sein erster Blick, als er den Gang nach hinten betrat, fiel auf die Eisentür, die einen Spalt weit offen stand. Sogleich schritt er schneller voran, ehe er die Tür aufriss und in den leeren Raum hinein starrte.

„Mein Herr-“, der Ritualist kam endlich nachgelaufen, „Ich habe die Ergebnisse bei mir.“

Tarrence, ihm den Rücken zugekehrt, nickte und deutete damit an, dass er sprechen sollte.

Der weise Dämon räusperte sich: „Herr, sie lügt nicht. Sie hat keinerlei Erinnerungen an ihre Vergangenheit... ich konnte nur vage Fetzen und Bruchstücke erkennen; und diese sind so weit in ihrem Unterbewusstsein vergraben, dass sie selbst nichts davon erahnt. Ich habe die Vermutung, sie ist einem Fluch zum Opfer gefallen, der ihre Erinnerungen auslöschte – denn wenn sie sich den Kopf gestoßen hätte und 'nur' an Gedächtnisverlust leiden würde, könnte ich zumindest ihre Vergangenheit erkennen.“, der Ritualist stoppte an dieser Stelle, „Aber...“, und starrte an seinem Meister vorbei, in den leeren Raum: „Wo ist sie denn...?“

„Wie du gesagt hast.“, so Ritter Tarrence, der mit entschlossenen Blick am Schattenritualisten vorbei ging, den Gang zurück. „Sie kann sich nicht erinnern.“

Der Prinz von Azamuth

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