Читать книгу Der Prinz von Azamuth - Iris Fak - Страница 15

Die Jagd beginnt

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Obwohl die Zellengenossen mehrmalige Irrwege eingeschlagen hatten, dauerte die Flucht aus der Festung nicht sehr lange. Nach Saris Befreiung liefen sie den breiten, dunklen Korridor zurück, zur steinernen Wendeltreppe. Doch der Weg nach unten war ihnen versperrt.

Tarrence hatte Alarm geschlagen und sämtliche Dämonen waren auf der Suche nach ihnen. Sie waren bereits die halbe Treppe nach unten gelaufen, da kamen ihnen die ersten drei Wachen entgegen. Umgekehrt eilten inzwischen Dämonen den Korridor entlang, von dem sie eben erst gekommen waren. Als sie keinen anderen Ausweg mehr hatten, rief Lyze den entscheidenden Satz: „Nach oben!“

So flohen der Halbengel, die Animo und die Menschenfrau die ganze Wendeltreppe hinauf. Zwei Stockwerke darüber begann Sari schließlich, leicht außer Atem, zu hinterfragen: „Lyze- Lyze, wohin läufst du!? Oben werden wir gefangen sein-!“

„Ich weiß, was ich tue.“, sprach er, „Vertraue mir.“

„Dir vertrauen!? Lyze, dort oben gibt es keinen Not- iek!“ – Ein großer, breiter Dämon war beim letzten Stockwerk hinzu gekommen. Er folgte den Flüchtenden die Steinstufen hinauf und schwang einen im Verhältnis zu Sari riesigen Morgenstern. Die Frau hatte sich noch geduckt, sodass allein der Luftstoß sie streifte, als die schwere Kugel über ihr hinweg sauste und in der massiven Wand hinter ihr stecken blieb. Dies war auf den schmalen Stufen der Wendeltreppe schon beachtlich.

„Lauf!“, Lyze eilte zurück, an Tracy vorbei und schob ihr Sari nach. Der Dämon war damit beschäftigt, seine übergroße Waffe aus der Mauer mithilfe ihrer Eisenkette zu ziehen, sodass Lyze genug Zeit hatte, eine seiner Windböen zu entfesseln. Sie zerrte den Dämon von seiner Waffe weg, sodass er die Stiegen hinab rollte – und so die ihm nacheilenden Kollegen mitriss.

„Gut gemacht, Lyze!“, Sari klatschte gerade in die Hände, als der Halbengel sie auffordernd weiter drängte: „Sagte ich nicht, du sollst laufen?!“

„Und das hier verpassen?“

Tracy, die ein paar Stufen vorgegangen war, winkte den Nachzüglern: „Hier geht es nicht mehr weiter – da ist nur eine Tür!“

„Gut.“, wieder eilte Lyze voran, öffnete die zum Glück unverschlossene Tür. Sie gab einen kleinen Raum mit nur einem Tisch und Stuhl frei. Der Mond, welcher immer wieder hinter den Regenwolken verschwand, schien durch zwei schmale Fenster herein. Sie waren frei und nicht vergittert, jedoch so eng, dass gerade einmal ein Kopf hindurch passte.

„Oh nein...“, Saris Herz schlug schneller. Sie erkannte, dass sie in eine Sackgasse geraten waren. „Bei Desteral, ich hab' es euch gesagt!“, nun trat die Panik ein, sodass sie Lyze am Hemdkragen packte: „Wir sind verloren! Du Idiot hast uns das eingebrockt!!“

„Sari-“, er versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien und sie gleichzeitig zu beruhigen, „Sari, es ist alles in Ordnung! Das war so geplant.“

„Ach ja, wirklich!? Sich in dem kleinsten Raum der Festung schnappen zu lassen, wirklich ein toller Plan!“ Nun ging sie, schnaufend und mit den Armen rudernd, durch das Zimmer: „Seht mich an, ich bin ein Halbengel! Laufen wir doch so lange die Wendeltreppe eines dämonischen Gefängnisses nach oben, bis wir in einer Sackgasse sitzen!“

Ihre Freunde nahmen sie nur nebenbei wahr. Scheinbar verlor Sari in extremen Situationen leicht die Kontrolle über sich.

„Tracy – bitte hilf mir, die Tür mit dem Tisch zu blockieren. Das wird uns etwas Zeit verschaffen.“, so Lyze.

„Selbstverständlich.“, gemeinsam schoben sie den aus massivem Holz gebauten Esstisch gegen die Türe. Es brauchte nicht lange und die ersten Dämonen schlugen dagegen.

„Es ist so weit!“, schrie Sari, bereits nervlich am Ende, „Jetzt holen sie uns!“

„Die Blockade können die Dämonen nur mit gemeinsamer Kraft aufbrechen.“, stellte Tracy fest, „Ich gebe gern Bescheid, wenn ich höre, dass sie zusammen arbeiten.“

„In Ordnung, vielen Dank.“ Lyzes Plan steuerte nun seinem Höhepunkt entgegen: Er trat zu den Fenstern und musterte die einzelnen Steine in der Mauer.

„Zählst du jetzt Steine!?“, Sari stand neben ihm, „Bist du nun völlig verrückt!?“

„Nicht so sehr wie du.“

„Heh-!“

„Gut – ich denke, ich weiß, wo sie sind.“, er meinte damit die schwächsten Steine zwischen den Fenstern, „Tretet etwas zurück, das könnte gefährlich werden.“

„U~uh, das könnte gefährlich werden!“, die Menschenfrau wurde von Tracy zurückgezogen.

Sie hielt Sari drohend den Finger vor die Nase: „Reiß dich zusammen! Lyze muss sich konzentrieren und ich will dich nicht festbinden müssen!“

Zu Lyzes Glück hatte er nicht mehr viel zu tun. Er zielte auf die porösen Stellen, sodass die von ihm mit aller Kraft entfesselnden Winde die Steine aus ihren Fassungen rissen: die Fenster brachen auf, sodass nun ein großer Teil der Wand fehlte und ein breites Loch klaffte. Die letzten noch im Weg liegenden Steine stieß er mit dem Fuß aus der Festung. Beim Blick in die Freiheit wurde schnell klar, dass es lange und steil nach unten ging. Die hohen Befestigungsmauern liefen mit dem Wendeltreppenhaus an diesem Punkt zusammen und wirkten dennoch wie Spielzeug. Sah Lyze nach vorne, wurde nicht weit von der Festung entfernt ein Mischwald sichtbar. Als der Wind stärker wurde und ihm Regentropfen in die Augen blies, zog er den Kopf zurück.

„Lyze!“, Tracys Katzenohren zuckten, „Die Schläge an der Tür wirken koordinierter!“

Damit hatten sie nicht mehr viel Zeit zum Flüchten. Sehr wohl wusste der Halbengel, wie der letzte Teil des Plans umzusetzen war, doch gehörte eine enorme Portion Mut dazu, nicht zu zögern.

„Na schön.“, er stellte sich mittig zum großen Loch der Steinmauer: „Kommt zu mir – eine links, die andere rechts. Wir werden fliegen.“

„Fliegen!?“, Sari traute ihren Ohren nicht.

„Oh, dann fliegen wir zu dritt? Sind deine Engelsflügel so stark?“, Tracy stellte sich vorab links neben ihm.

„Ehm... das weiß ich nicht.“

„Wie 'du weißt es nicht'!?“, Sari sah panisch zur Tür, die sich bereits unter den koordinierten Schlägen besorgniserregend nach innen bog, „Also darf ich zwischen freiem Fall aus großer Höhe und Tod durch Dämonen wählen, ja!?“

„Sari, es wird alles gut gehen. Selbst, wenn uns meine Flügel nicht tragen – was ich nicht glaube – werden wir zumindest gleiten.“

„Und bis wohin?“, wollte Tracy wissen.

„Bis in den Wald, gleich dort. Unsere Verfolger werden Zeit brauchen, um aufzuholen.“, Lyze streckte die Hand nach Sari aus, die nervös zwischen Tür und Fenster stand, „Vertraue mir... wir werden nicht abstürzen.“, und lächelte.

Lange zögernd verharrte sie an ihrer Position. Sie war wie angewurzelt – denn eigentlich hatte sie keinen Grund zum Flüchten. Anscheinend war sie wichtig für Tarrence und damit nur lebend von Bedeutung. Gleichzeitig aber bereitete ihr die dunkle Festung Angst. Allein, dass Lyze zu Beginn im selben Gebäude war, ließ ihre Hoffnung auf Freiheit nicht schwinden.

Schließlich, nach einer Weile des Überlegens plusterte sie ihre Backen auf – und griff nach Lyzes ausgestreckter Hand. Sie stellte sich so eben rechts neben ihn, da legte Tracy besorgt ihre Ohren an: „Beeilt euch, die Tür gibt gleich nach....!“

Lyze umfasste ihre und Saris Hüfte. „Haltet euch gut fest – das Wetter wird nicht auf unserer Seite sein.“

Sofort umklammerten die Frauen jeweils einen Arm von ihm.

„Auf drei?“

„L-Lieber auf Zehn!“, Saris Knie waren beim Blick nach unten weich wie Butter geworden.

„Eins...“

Die Dämonen schlugen gezielt, kräftig gegen die Tür, sodass man Holz barsten hörte und der Tisch ganze zehn Zentimeter weggeschoben wurde.

„Zwei...“

Ein letzter, koordinierter Schlag und das Hindernis gab nach, zerbrach ins Innere des kleinen Raumes. Doch so geschickt die azamuthischen Wachen auch gehandelt hatten, nun gewann ihr Instinkt die Oberhand: alle wollten gleichzeitig hinein preschen, sodass sie im Türrahmen stecken blieben, durcheinander fielen und sich gegenseitig auf die Füße stiegen.

„Drei!“

Lyze schob die Frauen mit einem sachten Schubser voran, ehe er selbst keinen Boden mehr unter den Füßen spürte.

Durch den freien Fall schienen die Regentropfen nicht mehr von oben, sondern von unten zu kommen; und sie fielen so schnell, das Sari anfing zu kreischen.

„Lyze, die Flügel!“, erinnerte Tracy und krallte sich, nun auch mehr in Panik, in seinen Arm. „Schneeell!“

Gerade als er verzweifelt rufen wollte, dass es nicht ging, erstreckten sich hellgelbe Schwingen auf seinem Rücken. Sie erschienen genau im Aufwind, sodass alle drei nach einem Sturzflug wieder nach oben flogen, ehe sie das gemeinsame Gewicht nach einem kurzen Gleitflug nach unten drückte, bis hin zum Wald. Kaum streiften sie im holprigen Flug die ersten niedrigen Baumkronen, verschwanden Lyzes Flügel aus heiterem Himmel. Sie fielen durch die Äste und Zweige, sodass sie reflexartig von einander los ließen.

Tracys Schweif war bis zur Schwanzspitze aufgeplustert, als sie mit den Krallen ihrer Finger die Rinde eines Baumes nach unten rutschte, bis sie zum Stehen kam. Saris Sturz wurde von einem dichten Strauch – zum Glück ohne Dornen – gebremst. Vom Baum, aus dem Lyze stürzte, fielen und drehten sich einzelne Blätter bis auf den Boden.

„Das...“, Sari konnte ihr Herz bis in den Hals schlagen hören, „Das war das Gefährlichste... was ich-“ – da krabbelten große Käfer auf ihrem Kleid – „Bei Desteral, iiieh!“

Trotz der waghalsigen Situation konnte Tracy nicht anders, als über Saris Problem zu kichern. Ihre Ohren stellten sich im nächsten Moment auf, um Lyze zu orten.

Hoffentlich war er nicht verletzt.

Sie hörte nicht weit entfernt die einzelnen Blätter eines Strauches knistern, sodass sie vom Baum sprang und zu diesem lief: „Lyze? Geht es dir gut...?“

Er hing verheddert in den Ästen und konnte sich alleine nur schwer befreien. „J-ja. Ich denke schon...“

„Das war eine unglaubliche Aktion...“, sie zerrte Lyze aus dem Strauch, als gleichzeitig ihre Miene zu einem besorgten Blick wechselte: „Wir hätten uns verletzen oder sogar sterben können. Bitte, mach so etwas nicht mehr.“

„Aber-“

„Wobei es die einzige Lösung war, zu fliehen.“, nun lächelte sie, „Na gut, es sei dir verziehen. Aber mache das nicht noch einmal!“

Mit einem leisen Seufzer kam der Halbengel auf seine Beine zurück, ehe er nickte und sich abklopfte. „Versprochen.“

Oben, an der Wendeltreppe der dunklen Festung, hallte eine Frauenstimme bis in den letzten Raum. Lydia quetschte sich durch die im Weg stehenden Dämonen: „Aus dem Weg! Verzieht euch, ihr fetter Abschaum!“

Endlich war sie im Zimmer angekommen, in dem die drei Flüchtenden zuletzt gesehen waren. Ein paar Dämonen standen ratlos vor dem großen Loch der Steinwand und starrten nach unten. Beim Anblick der etwas kopflosen Kollegen schnellte in ihr die Wut hoch: „Worauf wartet ihr!? Verfolgt sie, ihr Hohlbirnen!“

„Aber-“, warf einer der Wärter ein, die Schultern fest nach oben gezogen: „Wir können nicht fliegen.“

„Na schön – Ihr nicht!“, Lydia stieß im Eifer den doppelt so großen Dämonen zur Seite.

Sie stellte sich an die äußerste Kante des klaffendes Loches und schnaufte zu ihren Kollegen zurück: „Gibt Meister Tarrence Bescheid. Ich, Agentin Lydia, nehme die Verfolgung auf. Sie sind garantiert in den Wald geflohen – ich bringe sie zurück... lebendig oder tot.“, mit diesen Worten ließ sie sich fallen. Schon nach kurzer Distanz erstreckten sich ihre ledrigen Schwingen und sie flog dahin, dem Wald entgegen.

Einer ihrer Kollegen blickte ihr nach. Er begann den Kopf zu schütteln, mit dem Wissen, dass Lydia sich in ihrem Zustand eigentlich ausruhen sollte: „Hoffentlich übernimmt sie sich nicht.“


„Wir sind noch nicht in Sicherheit.“, der Halbengel schien von der anstrengenden Flucht erschöpft, versuchte aber stark zu bleiben. Angesichts der Verfolger hatte er keine andere Wahl. „Lasst uns weitergehen. Der Wald wird uns ein wenig Zeit verschaffen.“

Mit Vertrauen kamen ihm die Frauen nach. Lyze ging im Schnellschritt, weswegen sie gezwungen waren, sich ebenso zu beeilen. Die Arme eng am Körper angelegt, blickte Sari den Weg zurück: „Glaubt ihr, Tarrence wird uns verfolgen?“

„Hm, vielleicht.“, die Animo ließ sich zur verunsicherten Frau zurückfallen und leistete ihr Gesellschaft. „Er könnte uns auch nur seine Schergen nachschicken. So viel Zeit wird er als Befehlshaber nicht haben, dass er persönlich nach uns sucht.“

„Er nicht.“, mit sorgenvollem Blick, gerichtet gen wolkenverhangenen Himmel, war Lyze stehen geblieben. Seine Reisegefährten taten es ihm gleich und sahen ebenso in den Regen: Umrisse einer geflügelten Frau wurden sichtbar – und es handelte sich hierbei keinesfalls um einen Engel. „Aber diese Lydia...“

Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, zog die Dämonin ihre Flügel zu sich und raste im Sturzflug auf die Gesuchten zu. Dass sie in einem Wald standen war ihr in diesem Moment egal. Durch ihre angeborene Fähigkeit, im Dunklen gut sehen können, blitzten ihre Ziele wie Mäuse in einem Kornfeld hervor.

Die Menschenfrau sprang einen Schritt näher zu Tracy, da Lydia – gleich einer Bombe – vor den Füßen der Gesuchten einschlug. Hochgekommen auf ihre Beine, warf sie Lyze einen tief verhassten Blick zu. War es, weil er ein Engel war, oder sie in ihm immer noch den Schuldigen für den Tod ihrer Kameraden sah: wenn Blicke töten könnten, wäre er längst gefallen.

„L-Lydia-“, lächelnd versuchte Sari auf sie einzugehen. Bei ihrer zweiten Begegnung konnte sie aufgrund ihrer Lähmung nicht mit der Dämonin sprechen: „Schön, dich zu sehen! Oder so... ähm. Wir hatten einen sehr miesen Start. Was ich dir damals wegen Piov und Utah sagen wollte-“

„Sie sind tot. Tot! Dank euch!“

„N-nein, eben nicht! Wir tragen nicht die geringste Schuld an-“

Tracy stieß ihre Freundin unverständlich in die Hüfte. „Sari-“, flüsterte sie, „Was machst du da? Sei still....!“

„Lydia, Lyze kann nichts dafür! Der Kommandeur-“, beide Frauen sprangen erneut einen Schritt zurück, als Lydia ihren Ring in eine Peitsche verwandelte und ihnen drohend entgegenhielt.

„Sari, lass das!“, mischte nun Lyze ein, „Du machst alles nur schlimmer!“

„Nein! Das muss gesagt werden!“, nur so konnte sich Sari besser fühlen.

Ihrer ungerechtfertigten Schuld ein Ende setzen.

„Piov und Utah haben es nicht verdient, zu sterben. Nicht auf diese Art. Ich möchte ihnen zumindest ihre Würde wiedergeben und mich aufrichtig entschuldigen.“, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, verbeugte sich Sari vor der Dämonin. Sie hatte all den Zorn nie gewollt.

In Lydias Augen blitzten Trauer mit fast ein wenig Dankbarkeit hervor.

Allerdings nur fast.

Denn Sari war und blieb eine von Tarrence dringend gesuchte Person – und die Dämonin setzte alles darauf, sie wieder einzufangen.

„Ich weiß, was du jetzt denkst.“, so Sari, „Du musst uns trotzdem zurückbringen. Doch wir gehen nicht zurück – da draußen wartet jemand auf uns.“

Schallendes Lachen erklang durch den dunklen Wald.

Lyze blickte im gleichen Moment wie Lydia unverständlich zur Menschenfrau: Was sollte das eben?

„Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich euch laufen lasse?“, Lydia schwang ihre Waffe, sodass die Spitze ihrer Peitsche die Schallmauer durchbrach und einen Knall erzeugte. „Ich lasse euch nicht einmal mehr die Chance, euch zu ergeben!“

Der letzte Satz war der Auftakt zum Kampf.

Sari und Tracy machten noch drei Schritte zurück, als die zornerfüllte Dämonin auf sie zuging.

Sogleich stellte sich ihr Lyze in den Weg. In seiner Hand die Lichtklinge, in seinen Augen der entschlossene Blick eines Beschützers.

„Du willst den Helden spielen, ja!?“, schwungvoll prallte Lydias Peitsche gegen die Lichtklinge und umschlang diese mit festem Griff. Sie zog an ihr, in der Hoffnung, ihm das Schwert aus den Händen zu reißen.

Als Tracy dies sah, sprang sie reflexartig einen Schritt zu ihm – doch schüttelte er den Kopf, als er sie im Augenwinkel wahrnahm: „Bleibt, wo ihr seid!“, und schaffte es, seine Waffe von Lydias zu trennen. „Oder besser: lauft weg!“

„Und dich alleine lassen!?“, so Sari, „Das hättest du wohl gerne!“

Das Gespräch zwischen ihren Feinden machte die Dämonin noch wütender. Es erinnerte sie an den Zusammenhalt ihrer gefallenen Kameraden, gleichzeitig fühlte sie sich verspottet.

Als sie mit lautem Schrei und aller Kraft auf Lyze losging, hielten es die beiden Frauen doch für besser, ein wenig Abstand zum Kampfgeschehen zu nehmen.

Die Dämonin gab alles, was sie hatte, und schlug ohne Pause auf Lyze ein. Dies geschah so schnell, dass er nicht dazu kam, sie zu attackieren. Er bemühte sich, ihren Schlägen auszuweichen, oder sie mit der Waffe zu blockieren. Trotz allem wurde er zunehmend zurückgedrängt und der eine oder andere Schlag traf ihn am Körper. Von der anstrengenden Flucht geschwächt, laugte ihm dieser Kampf zusätzlich aus.

Tracy war kurz davor trotz Lyzes Verbots einzugreifen; sie sah es nicht gerne, wenn Freunde verletzt wurden. Erst recht nicht, wenn sie nichts dagegen unternehmen konnte.

Ein Peitschenhieb traf mit voller Wucht auf Lyzes rechtes Bein und umschlang es im engen Griff. Als sei dies noch nicht schmerzhaft genug, spürte er regelrecht, wie die aus dem Funkenring manifestierte Peitsche von starker Energie durchflossen wurde und schließlich einen Stromschlag an ihn abgab. Er schrie auf, als Lydia ihm zeitgleich das Bein wegzog.

Der Schmerz war so groß, dass sich seine Lichtklinge augenblicklich in Nichts auflöste, als er unsanft zu Boden geworfen wurde und das Bewusstsein verlor.

In sicherer Entfernung stehend, rissen die Frauen vor Entsetzen die Augen auf: Lydias Blick verengte sich und ihre von Lyzes Bein gelöste Peitsche schien sich zu verändern. Feine, dolchartige Klingen drangen aus der Waffe und stellten sie auf eine neue Stufe ihres Zorns.

Sari schlug die Hände vors Gesicht: Lydia wollte den Halbengel tot sehen, eindeutig um jeden Preis.

Nun reichte es Tracy – sie trotzte jeder Vernunft und folgte ihrem Instinkt: Sie kletterte den Baum vor ihr hoch und lief auf den Ästen entlang, bis über das Kampfgeschehen.

Lydia hob, erfüllt von purer Wut, ihre Peitsche – weiter kam sie nicht. Tracy sprang mit allen Vieren vom Baum herab und stürzte sich auf die dämonische Frau. Sie biss in ihren Hals und versuchte ihr den Ring vom Finger zu reißen.

Sari stand ungläubig hinter dem sicheren Baum und war nahe dran, auf ihre weichen Knie zu sinken: sie hatte ein schlechtes Gefühl, als einzige nicht mitzukämpfen. Zeitgleich wusste sie aber, dass sie absolut nichts zum Kampf beitragen konnte.

Lydia schlug mit ihren ledrigen Flügeln, bis Tracy den Halt verlor. Einmal mit Kraft über ihre Schulter geworfen, landete die Animo hustend vor ihr im Waldboden. Sie starrte hoch, zur dämonischen Frau, die sichtlich, schwer atmend, endgültig genug hatte.

Trotz ihrer aussichtslosen Situation, kroch Tracy rückwärts über den Boden und drängte sich zwischen Lydia und Lyze. Sie fauchte die Agentin an und wollte sie um nichts auf der Welt an ihr vorbei lassen.

„Tracy!“, schrie nun auch Sari, „Lyze! Tracy!“, und warf tatsächlich mit kleinen Steinen nach der Dämonin: „Geh weg von ihnen! Lass uns endlich in Ruhe!!“

Das brachte schlussendlich Lydias Fass zum Überlaufen.

Selbst schon erschöpft und emotional schwer angeschlagen, hob sie laut mit den Zähnen knirschend ihre mi1t Dornen übersäte Peitsche an: sie wollte die Gefangenen nicht mehr sehen.

Diesen Halbengel, der für seine Freunde – und sie für ihn – bis in den Tod gehen würde... obwohl sie sich erst seit kurzer Zeit kannten. Sie versuchten ihren Zusammenhalt mit allen mitteln zu bewahren, denn dies war das einzige, was die Gruppe bis hierher gebracht hatte.

Und genau für diese starken Emotionen, die Lydia schmerzlich an Piov und Utah denken ließ, bestrafte sie der Funkenring.

Die Dämonin knickte ein, als ein heftiger Schmerz durch ihren ganzen Körper fuhr. Er wurde so stark, dass die Peitsche gänzlich verschwand – und ihr Leid ließ nicht nach. Lydia schrie auf und erhielt selbst noch auf dem Boden liegend Stromschläge.

Ungläubig das Schauspiel beobachtend, wussten Sari und Tracy im ersten Moment nicht, was zu tun war. Lyze erwachte durch die Schreie der Dämonin aus seiner kurzen Ohnmacht und starrte halb aufgesetzt zum Geschehen. Er würde die Dämonin am liebsten so lange unter Schmerzen sehen, bis sie sich nicht mehr rührte – doch wusste er mittlerweile, dass Sari etwas an ihr lag.

Irgendetwas Unerklärliches.

„Der Ring!“, rief Lyze mit erschöpfter Stimme, „Der Ring greift sie an – er muss von ihrem Finger!“

Sofort lief Sari auf die am Boden zuckende Dämonin zu, doch war Tracy schneller: Sie fasste nach dem Ring und wurde durch ihr entschlossenes Handeln ebenfalls von ihm geschockt. Ihre Mühen lohnten sich und der Ring rutschte stetig um ein paar Millimeter von ihrem Finger. Schließlich schaffte es die Katzenfrau, Lydia den Ring abzunehmen – und dann war es still.

Sehr still.

Nur die schnelle Atmung der Flüchtlinge und das Prasseln der einzelnen Regentropfen war zu hören.

„Geschafft...“, Saris starrer Blick zu Lydia verriet Unglaubwürdigkeit, gepaart mit Erleichterung. Blinzelnd löste sie sich aus der Starre und sah schließlich, die Brauen zusammengezogen, zum Halbengel: „Woher wusstest du das...?“

„Als ich gefoltert wurde... sprach ein Wächter vom 'Funkenring'. Dass er seinem Träger schaden kann, wenn dieser emotional instabil ist.“ er sah zu Lydia, „Das hat ihr wohl den Rest gegeben.“

„Komische Waffe. Wer erfindet so 'was?“

Im selben Augenblick musterte Tracy den unscheinbaren Ring in ihrer Hand.

„Wohl Dämonen, die komplette Kontrolle haben wollen.“

„Meinst du, Lyze?“

„Ich wüsste nicht, wozu er sonst gut sein sollte.“

„Oh-“, Sari deutete zu Tracy, „Du... hast nicht wirklich vor, den zu nutzen, oder?“

Aus den Gedanken gerissen, sah die Animo zu ihren Freunden auf: „Ähm, nein ich-“, sie schien verlegen und versuchte sich zu rechtfertigen, „Ich würde den Ring niemals einfach so benutzen! ...Nur, wenn ihr in Gefahr wärt. Oder meine Geschwister....“, letzteres hatte sie murmelnd angefügt.

„Na schön. Lasst uns- eh-!“, eigentlich wollte Lyze vom nassen Boden aufstehen – doch fuhr ein tiefer Schmerz durch sein verletztes Bein, sodass er ins Gras zurückfiel.

„Warte....!“, als seine Freundinnen sahen, wie sehr er sich bemühte, aufzustehen, liefen beide zu ihm. Sie halfen ihren Beschützer hoch und stützten ihn. „Ist es sehr schlimm?“

„Es- es wird schon wieder. Ich muss mich nur ausruhen.“

Gerade, als sich die Gruppe zum Gehen umdrehte, sah Sari zum Stichwort 'ausruhen' zu Lydia. „Moment...“, sie ließ Lyze los, sodass er fast zur Seite gestürzt wäre.

„Sari- was tust du!?“

Sie zog an den Armen der bewusstlosen Dämonin: „Wir können sie nicht im Regen liegen lassen! Sie wird sich erkälten und sterben – oder ertrinken...“

Seufzend sah ihr der Halbengel zu, wie sie sich abmühte. Doch als er den Weg zurück blickte, wurde ihm etwas klar: Lydia konnte hier wirklich nicht bleiben. Suchtrupps würden direkt über sie stolpern und somit wieder auf die Fährte der Gejagten kommen.

An einen Baum gelehnt, sprach er: „Tracy... bitte hilf ihr.“

„Sie liegt zu auffällig, nicht wahr?“, sogleich trat die Animo zur Dämonin. Sie packte sie an den Schenkeln und hob sie mit Sari hoch. Gemeinsam platzierten sie Lydia hinter Sträuchern, unterhalb eines Baumes. „Hier gut?“

Sari sah sich um, „Ja, denke schon.“, und wurde sarkastisch: „Hier kann nur ein Blitz einschlagen und sie in Brand stecken.“

„Hahah- da muss sie schon sehr viel Pech haben.“, die Animo schmunzelte. Ihr Blick richtete sich zu ihrem Freund, der allmählich ungeduldig am Baum lehnte. „Komm, Lyze wartet auf uns.“


In luftiger Höhe lief ein aufgebrachter Engel über das weiße Gras seiner Heimat. Feiner Dunst wurde dabei aufgewirbelt, doch schenkte er diesem keine Beachtung.

Völlig außer Atem erreichte er die höchste Stufe des Palastes und trat ein, in das links daneben gelegene Gebäude der Kommandozentrale. Er stieß die goldverzierte Tür auf und rief gleich im ersten Raum nach seinem Vorgesetzten.

„Kommandeur Viturin! Kommandeur, er ist wieder erfassbar!“

Aus einem Hinterzimmer trat der erst kürzlich zum zweiten Rang erhobene Engel hervor. Arme hinter dem Rücken verschränkt, schien er fast auf seinen Untergebenen herab zu blicken: „Wie war das?“

„Sir, Lichtsoldat Nosheiru ist wieder zu sehen. Der Sender ist etwa drei Kilometer vom Dorf Sincila entfernt aktiv geworden. Das Signal ist ab und an schwach, sodass wir davon ausgehen, dass er sich in einem Wald aufhält.“

„Hervorragend.“, der Kommandeur nickte, mit einem nur schwachem Lächeln.

„Kommandeur, sollen wir nun Truppen aussenden?“

„Nicht nötig. Noch nicht...“, er trat zu einem Pult und machte eine Notiz. „Verfolgt das Signal. Ich will eine tägliche Aktualisierung, wo er sich aufhält.“

„Ja, Sir!“, nun salutierte der Untergebene. Er trat aus dem Raum, immer noch von seinem weiten Weg in die Kommandozentrale außer Atem.

Der gesuchte Lichtsoldat war mit dem nur grob geklärten Fall der Menschenfrau spurlos auf dem Boden Desterals verschwunden. Das letzte Signal des Senders, welcher in der geliebten Puppe seiner kleinen Schwester versteckt war, erlosch nur kurz nach dem Verlassen des ihm vorgegeben Pfades. Der Verdacht war groß, dass er von Dämonen gefasst wurde. Nun, wo das Signal wieder aktiv war, konnte Viturin annehmen, dass ihm die Flucht gelang – und das hoffentlich nicht alleine.

Denn durch den Lichtsoldaten, so hoffte er, konnte er das große Rätsel der Menschenfrau lösen, die im eindeutigen Zusammenhang mit den Dämonen stand.

...Und schließlich durch seine Taten einen weiteren Schritt näher an die Seite seiner Majestät Alaphantasa rücken.

Der Prinz von Azamuth

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