Читать книгу Die Nacht bringt dir den Tag zurück - Isabel Schupp - Страница 11

Davor

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Schon einmal gab es so eine besondere Stille, in der die Welt den Atem anzuhalten schien. Weil sie auf deinen Einatem wartete. Und das war bei deiner Geburt.

Paula Larissa Luise wurde am 8. November 1990 geboren. An einem Montag. Um sieben Uhr vierzig. Es war sehr kalt, die Temperaturen lagen bei minus acht Grad und es herrschte Glatteis auf den Straßen. Die Umstände ihrer Geburt waren ungewöhnlich. Bei uns in Deutschland findet eine Geburt ja normalerweise in einem Krankenhaus statt. Auf einem Bett, in Anwesenheit eines Arztes und einer Hebamme. Pauline sollte zu Hause geboren werden, mit einer erfahrenen Hebamme, die auf Hausgeburten spezialisiert war. Auf meine ängstliche Frage, was denn wäre, wenn sich bei der Hausgeburt plötzlich die Nabelschnur um den Hals lege und plötzlich keine Herztöne mehr zu hören wären, antwortete die Hebamme, dass sich eine Nabelschnur nicht plötzlich um einen Hals lege und dass Herztöne auch nicht plötzlich verschwänden. Bei einer Geburt geschähe gar nichts plötzlich, sie begleite seit zwanzig Jahren Hausgeburten, und es sei immer genug Zeit gewesen, eine Geburt abzubrechen und in die Klinik zu fahren. Und im Übrigen sei sie ein Profi und lege keinen Wert darauf, den Rest ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen.

Das überzeugte mich.

Alles war bereit, als am 8. November, kurz nach Mitternacht, die Geburt begann und die Wehen einsetzten. Im Schrank warteten sechs ausgekochte und heiß gebügelte Leinentücher auf ihren Einsatz. Josef war bei seiner Patentante untergebracht. Er war noch zu klein und konnte nicht wissen, dass die Schreie, die seine kleine Schwester in die Welt begleiten würden, ganz normal waren, und dass seine Mutter diese Geburt durchaus überleben würde. Die Hebamme war bereit und wartete auf meinen Anruf. Auch sie wusste einiges noch nicht. Zum Beispiel, dass draußen Glatteis war. Und dass sie während Paulines Geburt im Stau stehen würde.

Alleine sitze ich in meinem Zimmer. Es ist ganz ruhig im Haus, und auch über unserem Dorf liegt nächtliche Stille. Auf einem großen grünen Gymnastikball hüpfe ich auf und nieder und versuche mich zu entspannen, meinen Kiefer und meinen Bauch trotz der Schmerzen locker zu lassen. Die Wehe kommt und geht und mit ihr der Schmerz. Eine Frau im Geburtsvorbereitungskurs hatte mir Singen empfohlen, um den Wehenschmerz zu lindern. Also singe ich. Bill Haley. Das ist das Einzige, was mir in den Sinn kommt.

„One for the money, two for the show, three to get ready for…”

Wehe hat was mit wehtun zu tun. Und mit Welle, Woge, Sturm, Geheul, Gewalt. Während ich singe, rollt die Wehe heran, kommt näher, schwillt an, baut sich auf, türmt sich hoch auf. Bis dahin reite ich noch mit dem Atem auf dem Kamm, aber dann packt mich der Brecher, nimmt mich mit, stürzt sich in meine Eingeweide, schleudert mich herum, presst mich zusammen und begräbt mich und Bill Haleys „Go, cat go“ in einem Strudel aus Schmerz und Geheul.

Pause.

Der Schmerz ist vorbei, wie weggeblasen, als wäre er nie da gewesen. Sehr seltsam. Die Buddhisten und die Physiker behaupten ja, dass Schmerz sowieso nur eine relative Wahrheit sei. Eine Erscheinungsform unserer Wahrnehmung. Unser „Ich“ bestimme, dass das jetzt Schmerz sei. Da aber auch das „Ich“ nur eine relative Wahrheit sei, gäbe es in Wirklichkeit gar keinen Schmerz. Und eben auch kein „Ich“. Ein durchaus tröstlicher Gedanke. Aber relativ hin oder her, als die nächste Wehe kommt, lösen sich diese Gedanken in Schmerz auf. Die Geburt meines Sohnes hatte sich in dieser Art zweiundzwanzig Stunden hingezogen. Die zweite, beruhigte uns unsere Hebamme, geht im Allgemeinen schneller. Also rechne ich damit, dass mein Kind gegen Mittag auf die Welt kommen wird.

Um die Wehentätigkeit weiter anzuregen, beschließe ich gegen sechs Uhr, einen Spaziergang zu machen. Den Zehn-Minuten-Kringel, einmal zum Dorfweiher und zurück. Mein Mann Eckhard ist erschöpft eingeschlafen, und so schleiche ich alleine in die morgendliche Dunkelheit hinaus. Es ist bitterkalt, auf den Straßen liegt gefrorener Schneematsch. Bei unserem Nachbarn im Kuhstall brennt bereits Licht. Er grüßt mich freundlich. Kann er doch in der Dunkelheit nicht erkennen, dass ich mich an seinem Gartenzaun festhalte, weil mich ein Riesenbrecher gerade in den Asphalt bohrt. Konzentriert gehe ich durch unser Dorf, werde immer schneller, als könnte ich dem Schmerz davonlaufen. Alle drei Minuten muss ich stehen bleiben, mich irgendwo festhalten und hecheln wie ein verendender Hund. Wie kann man nur so blöd sein und während einer Geburt alleine durch die Nacht laufen.

Mit meinem ungeheuren Bauch komme ich mir vor wie eine kleine Waldameise, die eine Samenkapsel von der Größe eines Heißluftballons vor sich herträgt. Ein Traktor blendet mich, rumpelt an mir vorüber. Die Menschen schlafen oder frühstücken oder melken. Niemand weiß, was da draußen vor sich geht. Von dem kleinen Samen in der Kapsel wissen sie nichts, und von den Turbulenzen in dem Heißluftballon wissen sie auch nichts. Nichts von dem Beben, dem Toben, den großen Schmerzen. Ich fühle mich einsam.

Genau achtzehn Jahre später, am 8. November 2008, wird die Ameise wieder durch dieses Dorf spazieren, ohne Heißluftballon, scheinbar leicht und unbeschwert. Ohne Samenkorn. Die Menschen werden schlafen und frühstücken und Traktor fahren und nicht wissen, dass die Ameise trotzdem schwer zu tragen hat, dass es in ihr tobt und bebt und heult. Das Samenkorn war herangewachsen, und als es zu blühen begann, musste es sterben und wurde begraben.

Aber das wusste ich damals noch nicht, meine liebe Tochter, und du schon gar nicht. An diesem Morgen des 8. November 1990 wusste ich, dass du ganz bald auf die Welt kommen würdest. Es ist kurz nach sieben, als ich mit letzter Kraft die Türe zu unserer Wohnung aufsperre. Ich rufe sofort unsere Hebamme an und sage ihr, dass die Wehen sehr stark sind und dass das Baby doch früher als mittags zur Welt kommt. Dass es gut ist, wenn sie sich langsam auf den Weg macht. Ja, sicher, duschen und frühstücken ist schon noch drin, zwei Stunden wird es sicherlich noch dauern.

Es dauerte noch zwanzig Minuten.

Zwanzig Minuten nachdem ich den Telefonhörer auf die Gabel gelegt hatte, lagst du auf unserem Wohnzimmerteppich. Fünfzehn Minuten nachdem ich gerufen hatte, das Baby kommt, und dein Vater gestammelt hatte, das geht nicht, die Hebamme ist noch nicht da. Dreizehn Minuten, nachdem dein Vater durch die Wohnung gespurtet war und die sauberen Leinentücher gesucht und nicht gefunden hatte. Neun Minuten, nachdem er die gebrauchten Handtücher aus dem Badezimmer vom Haken gerissen und sie zu mir ins Wohnzimmer gebracht hatte, wo ich auf dem großen weißen Wollteppich lag, weil du beschlossen hattest, nicht auf die Hebamme zu warten. Sechs Minuten, nachdem dein Vater das Fenster aufgerissen und in unser Dorf gebrüllt hatte, wo bleibt denn die Hebamme? Zwei Minuten, nachdem ich dachte, dass ich jetzt sterben muss. Eine Minute, nachdem dein Kopf zwischen meinen Beinen festzustecken schien.

Während dein Vater versucht, den Teppich zu retten, indem er mich ins Schlafzimmer auf das vorbereitete Bett hieven will, flutschst du wie eine Rakete in die Freiheit. Auf den weißen Teppich.

Dann ist es still.

Ganz still

Niemand bewegt sich.

Niemand scheint zu atmen.

Du atmest nicht. Vor allemd unicht. Atmest du? Warum atmest du nicht? Wo bleibt dein Einatem? Fragen, die träge durch meinen Kopf fließen, ohne mich aufzuregen. Als wäre endlos Zeit, warte ich ab. Gelassen. Warum bin ich so gelassen? Warum rege ich mich nicht auf?

Und da ist er.

Dein erster Atemzug.

DeinE i n - Atem.

Dein erster, kostbarer Atemzug.

Und dann dein Ausatem.

Ein kleiner Schrei, ein ganz kleiner zarter Schrei.

Als dein Bruder Josef geboren wurde, war meine Liebe zu ihm so groß, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass noch Liebe für dich übrig sein würde. Aber meine Großmutter, deine Urgroßmutter, die fünf Kinder auf die Welt gebracht hatte, hat mir einmal gesagt: Das ist ganz einfach, mein Schatz, da baust du eben an! Und das tat ich in diesem Moment, an diesem 8. November 1990, deinem Geburtstag, als ich deinen ersten Schrei hörte. Ich baute an. Zärtlich nimmt dich dein Vater in seine großen Hände, legt dich behutsam auf meinen Bauch und deckt uns mit den gebrauchten Handtüchern aus dem Badezimmer zu.

Und so sind wir beisammen.

Die Nacht bringt dir den Tag zurück

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