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Liebe Pauline

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Manchmal möchte ich ein Leierkastenmann sein. Ich möchte mitten auf einem belebten Platz stehen und traurige Lieder singen von meiner geliebten Tochter Pauline. Davon, dass sie so früh sterben musste und dass ich ihren Tod nicht verhindern konnte. Von der jahrelangen Angst möchte ich singen, vom Krankenhaus, von der Chemotherapie und von den Schmerzen, die sie aushalten musste. Von ihrer Hoffnung, ihrer Mutlosigkeit und ihrem Kampf, den sie schließlich verloren hat. Und ich möchte davon singen, wie sehr ich sie vermisse. Ich möchte, dass die Leute sich um mich versammeln, um mir zuzuhören und um mit mir zu weinen.

Manchmal möchte ich ein Bänkelsänger sein. Ich möchte von Haus zu Haus ziehen und von meiner tapferen Tochter Pauline erzählen. Von meiner fröhlichen Tochter Pauline, die trotz ihrer schweren Krankheit so viel Spaß am Leben hatte. Von meiner mutigen Tochter, die es immer wieder gewagt hat, dem Tod ins Auge zu blicken. Von meiner anstrengenden Tochter Pauline, die sechzehn Jahre lang unser aller Leben bereichert hat. Von unserem Schatz, von unserem Reichtum. Ich möchte von dir erzählen, damit ich von dir erzählen kann und damit alle deine Geschichte kennen.

Und manchmal möchte ich auf einen hohen Berg steigen und so laut schreien, dass die Welt erzittert. Damit ich schreien kann und damit alle es hören.

Vor vielen Jahren hast du mich einmal gefragt, warum manche Leute ihre eigene Geschichte aufschreiben und sie dann auch noch veröffentlichen. Das weiß man doch schon alles, was man selbst erlebt hat, hast du dann gesagt, und außerdem interessiert das doch kein Schwein.

Ich habe dir dann erklärt, dass es Menschen gibt, die ein ungewöhnliches Leben oder ein ungewöhnliches Schicksal haben. Und weil sie mit diesem Schicksal nicht alleine sein wollen, möchten sie es anderen erzählen. Während sie schreiben, schauen sie noch einmal ganz tief in ihre Geschichte hinein, durchdringen und durchleben alle ihre Gefühle noch einmal. Und wenn sie das dann in ein Buch schreiben, interessiert das sehr wohl ein Schwein. Du hast das damals nicht so ganz verstanden. Bücher, die aus der Ich-Perspektive geschrieben waren, fandest du blöd.

Jahre später bist du dann selber auf die Idee gekommen, deine Geschichte aufzuschreiben. Die lange Geschichte von deiner Krankheit, von deinem Rückfall, von der Knochenmarktransplantation und von deiner Suche nach einem Weg, um wieder gesund zu werden. Und von deiner Angst. Du hast gesagt, wenn du über sie schreibst, musst du nicht mehr so viel an sie denken, an die Angst, die große Angst, die entsetzliche Angst, die immer wiederkehrende Angst. Also hast du dich hingesetzt und geschrieben. In dein Tagebuch, in dein Gedichtbuch, auf Zettel, in Briefe. Du hast gedacht, vielleicht wird später mal ein Buch daraus, später, wenn alles vorbei ist und du gesund geworden bist. Damit du anderen kranken Kindern Mut machen kannst.

Aber du bist nicht gesund geworden.

Und weil deine Geschichte auch meine Geschichte ist, deine Hoffnung auch meine Hoffnung, deine Angst auch meine Angst, weil meine Trauer so groß und so grenzenlos ist und weil ich kein Leierkastenmann bin und auch kein Bänkelsänger, und weil ich zum Schreien zu wohlerzogen bin, bin ich auf die Idee gekommen, sie aufzuschreiben. Deine Geschichte. Und meine Geschichte.

Jetzt stellt sich nur noch die Frage, ob das ein Schwein interessiert.

Deine Mami

Die Nacht bringt dir den Tag zurück

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