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Der Augenblick

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Pauline am 29.03.01

Der Augenblick

Augenblicke…

Sie fliegen vorbei, wir merken es kaum.

Es sind die schönsten Momente, sie füllen den Raum.

Versucht, schon immer beim Nächsten zu sein, verpassen wir den wesentlichen, der eigentlich könnte bei uns sein.

Warum schreibt Pauline so ein Gedicht? Was für eine Bedeutung hat für sie der Augenblick? Mönche und Nonnen in buddhistischen Klöstern, ja, weißhaarige Frauen in flatternden Gewändern, Sinnsuchende jenseits der Lebensmitte, ja. Aber ein Teenager?

Oftmals hat Pauline sich während ihrer Krankheit gewünscht, wieder ein kleines Kind zu sein, wieder einfach nur da zu sein, ganz im Moment, ohne Zeitgefühl, ohne zu denken und ohne sich zu sorgen. Als sie noch klein war, brauchte sie den Augenblick nicht zu suchen, denn sie lebte im Augenblick, wie alle kleinen Kinder. Wenn kleine Kinder essen, danne s s e nsie, sie tauchen ein in ihren Brei, werden eins mit ihm, kosten ihn mit der Zunge, mit dem Gaumen, mit Händen und Füßen. Sie essen mit allen Sinnen, ohne daran zu denken, wie sie nachher aussehen. Und ohne daran zu denken, dass sie ja gleich in die Krabbelgruppe sollen und sich deshalb beeilen müssen. Wenn sie essen, dann essen sie.

Herrlich.

Und wenn sie spielen, dann spielen sie. Sie haben keinen Hunger. Sie spüren keine Kälte. Sie haben keine Sorgen. Sie spielen, als hätte der Tag kein Ende. Dieser Augenblick, wunderbarer Augenblick.

Beneidenswert.

Aber spätestens, wenn sie in den Kindergarten kommen, ist es damit vorbei. Die Uhr tritt in ihr Leben, sie lernen, sich zu beeilen. Nicht dieser Augenblick ist von Bedeutung, sondern der kommende. Hopp, zieh dich an, du musst noch frühstücken, trink deinen Kakao aus, wir müssen los, steig ein, ich muss pünktlich in der Arbeit sein, nein, nein, den Kran können wir nicht anschauen, es ist schon fünf vor acht. Auch in der Schule geht es nicht darum, den Augenblick zu erleben. Die Kinder lernen schnell, dass es um etwas anderes geht.

Darum, dass sie am Ende der Woche eine gute Note schreiben.

Darum, dass sie am Ende des Jahres versetzt werden.

Darum, dass sie nach zwölf Jahren das Abitur schaffen.

Der gegenwärtige Augenblick ist unwichtig, also lernen die Kinder, an den nächsten Augenblick zu denken. An die Pause. An die Ferien. An die Zeit nach dem Abitur nach dem Studium nach dem Geld nach dem Häuschen schnellschnellschnell. Wer sich im Augenblick verliert, der trödelt. Und wenn dann der ersehnte Augenblick endlich gekommen ist, können wir ihn nicht mehr genießen. Wir haben es einfach verlernt. Rastlos wie ein junger Hund, läuft unser Geist in alle Richtungen davon. Ständig sind wir mit Problemen oder Projekten beschäftigt, die in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen, und versäumen es so, den Moment zu erleben. So ist es mir beigebracht worden. So habe ich es meinen Kindern beigebracht, und so lebe ich mein Leben.

Schnell, rastlos, ruhelos.

Während ich morgens unter meiner warmen Dusche stehe, denke ich bereits daran, dass die Winterreifen noch aufgezogen werden müssen und wie anstrengend das Leben ist, weil man immer alles alleine machen muss. Das warme Wasser rinnt an mir herunter. Ich spüre es nicht. Beim Frühstück lese ich die Zeitung. Bei dem Bericht über das Erdbeben in Pakistan bleibt mir der Toast im Hals stecken. Die feine Waldhimbeermarmelade landet unbeachtet in meinem Magen. Ich schmecke sie nicht.

Während ich die Kinder in die Schule fahre, wälze ich im Kopf den Konflikt mit meiner Kollegin hin und her. Dass meine drei gesunden und fröhlichen Kinder, auf die ich so stolz bin, hinten im Auto sitzen, bemerke ich gar nicht. Keine Zeit mit ihnen zu plaudern und mich an ihnen zu erfreuen, obwohl ich sie erst am Abend wiedersehen werde. Im Gegenteil, das fröhliche Geplapper auf der Rückbank nervt mich, weil es mich beim Problemewälzen stört. Dabei dauert die gemeinsame Fahrt zum Kindergarten nur zehn Minuten.

Was sind schon zehn Minuten?

Dachte ich damals, als ich meine Familie und mich noch für unsterblich hielt. In der Arbeit denke ich voller Ungeduld ans Joggen. Meine Strecke ist bezaubernd und hält Ungeheuerliches für mich bereit: schweren, warmen Auengeruch, Frauenschuh neben Knabenkraut, blühenden Weißdorn und bizarr ineinander verschlungene Weiden, flaschengrüne Altwassergumpen. Aber wenn ich dann endlich losgelaufen bin, nehme ich nichts davon wahr, denn im Geiste schreibe ich einen Beschwerdebrief an meinen Vermieter. Außerdem bin ich in Gedanken bereits im kühlen See. Im kühlen See denke ich wieder an die Konflikte mit der Kollegin und an die heiße Badewanne. Zu Hause in der heißen Badewanne überlege ich, was es zum Abendessen geben könnte, beim Abendessen denke ich an das herrliche kalte Bier, das ich trinken werde, wenn meine drei gesunden, geliebten Kinder endlich im Bett sind. Das herrliche Bier, das dafür sorgen wird, dass ich wenigstens nachher im Bett den Augenblick genießen kann. Nämlich schlafen. Der schönste Moment ist immer da, wo ich geraden i c h tbin.

Ganz egal woran ich denke. Denke ich an etwas Schönes, ist der zukünftige Moment schöner als der, der gerade ist. Denke ich an etwas Schlimmes, ist der momentane Augenblick versaut, weil ich an das Schlimme denke. So kann man leben. So leben wir alle. Solange Zeit keine Rolle spielt. Solange zehn Minuten, erlebt oder nicht erlebt, nicht von Bedeutung sind. Solange eine Stunde keinen großen Wert hat. Solange ein Tag nur ein Tag ist und keine Kostbarkeit.

An meinem 40. Geburtstag, dem Tag, an dem Paulines Leukämie diagnostiziert wurde, bekam ich ein kleines Buch geschenkt, das mein Leben sehr verändert hat und damit auch das Leben meiner Familie. Es ist von dem vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh und heißt „Das Wunder der Achtsamkeit“. Darin stand etwas geschrieben, was ich sofort auswendig gelernt habe, weil ich es so schön fand: „Du hast eine Verabredung mit dem Leben. Und das Leben findet nicht in der Vergangenheit statt, denn die Vergangenheit ist schon vorbei. Das Leben findet auch nicht in der Zukunft statt, denn die Zukunft ist noch nicht da. Das Leben findet in diesem Augenblick statt, und der ist genau da, wo du jetzt gerade bist. Wenn du also diesen Augenblick versäumst, versäumst du deine Verabredung mit dem Leben.“

Vor Paulines Erkrankung, also in der Zeit „davor“, habe ich solche Worte als Binsenweisheit abgetan. Aber für die Begegnung mit der Leukämie brauche ich diese Binsenweisheit. Um zu überleben. Um zu schlafen.

Um meine Tochter zu retten.

Jeden Montag bekommt Pauline eine Dosis Chemotherapie in ihr Rückenmark gespritzt. Diese sogenannte Lumbalpunktion gehört über zwölf Wochen lang zu ihrem Behandlungsplan. Dazu muss sie im Schneidersitz auf der Behandlungsliege sitzen, den Oberkörper tief nach unten beugen, in den unteren Rücken atmen und sich keinen Millimeter bewegen. Deshalb wird sie von mir und einer Krankenschwester festgehalten. Nun sticht eine Ärztin mit einer fünfzehn Zentimeter langen Nadel zwischen die Rückenwirbel, wartet ab, bis der Liquor herausträufelt, und spritzt dann das Zytostatikum Methrotexat, kurz MTX genannt, in Paulines Rückenmark. Eine grauenhafte Prozedur, zwölf Wochen lang, jeden Montag. Wenn die Ärztin den richtigen Punkt trifft, tut das Ganze nicht weh, es ist nur, wie man so schön sagt, unangenehm.W e n nsie trifft. Das Tragische ist nur, dass beim zweiten Mal eine junge Assistenzärztin ihr Glück versucht hatte und daneben stach. Der Schmerz kam heftig und unerwartet und hat Pauline jegliches Vertrauen in die sichere Hand von Ärzten genommen.

Wie lebt es sich mit einer solchen Bedrohung? Nun, nach der Spritze ist vor der Spritze!

Pauline hat keine Verabredung mit dem Leben, sondern mit der Angst. Ihr Leben, mein Leben, unser gesamtes Familienleben dreht sich um diese Spritze, die sich in sieben, in sechs, in drei, in zwei Tagen wieder über ihren Rücken hermachen wird. Es gibt keine Freude mehr für sie den ganzen Tag und bis sie sich in den Schlaf geweint hat, ist es weit nach Mitternacht. Morgens nach dem Aufwachen geht es weiter. Mami, ich hab solche Angst, Mami, ich halt das nicht mehr aus, Mami, mein Bauch ist von der Angst ganz hart, ich kann nicht essen, bitte geh nicht weg, dann muss ich immer an die Spritze denken. Und dann weint sie, bis unsere beiden Pullover von den Tränen ganz nass sind.

Jeden Tag.

Auch an diesem sonnigen Samstag, als wir alle die Wanderung an die Flussmündung machen wollten. Weißt du noch, als das Hochwasser war, mit Picknick und allem, was du doch so sehr liebst. Und alle haben sich drauf gefreut. Aber du liegst tränenüberströmt auf dem Sofa und hast Angst vor Montag. Wie soll ich mich denn auf das Picknick freuen, wenn ich am Montag wieder in die Klinik muss, schreist du und steigerst dich so in deine Panik, dass ich dich am liebsten schütteln und ohrfeigen möchte. Stattdessen packe ich dich an deinen mageren Schultern, schaue dir fest in die Augen und sage:

Wovor hast du jetzt Angst?

Vor der Spritze.

Nein, jetzt.

Das tut so weh…

Was tut weh? Was tutj e t z tweh?

Jetzt nicht, aber am Montag.

Nein, nur was jetzt ist, zählt.

Stille…

Scheint jetzt die Sonne?

Ja.

Wer schnurrt jetzt auf deinem Schoß?

Die Mimi.

Wo bist du jetzt?

In meinem Zimmer.

Wer sitzt draußen im Garten und wartet auf dich?

Josef und Flo und Papa.

Was fühlst du jetzt?

Angst.

Vor unserem Picknick???

Nein… vor Montag…

Nur was jetzt ist, zählt!

Stille…

Also?

Plötzlich springt sie auf, klettert auf meinen Arm, klammert sich wie ein kleiner Affe an mich und flüstert in mein Ohr: Jetzt. Dann springt sie durch die Wohnung, rennt in den Garten, tanzt mit ihrer Schwester, singt jetzt, jetzt, jetzt vor sich hin und ist zum ersten Mal seit dem Tag ihrer Erkrankung wieder richtig glücklich. Am Abend, nach unserer herrlichen Wanderung und dem leckeren Picknick, nach ganz viel Spaß und Sonne und Gelächter, kommt sie leise auf meinen Schoß gekrochen.

Mami, jetzt kommt es wieder, und ich weiß nicht mehr was „jetzt“ ist. Woran soll ich denken, damit ich nicht an die Angst denken muss?

Und wieder kommt mir das zu Hilfe, was in dem Buch über den Augenblick geschrieben steht.

Woran merkst du jetzt gerade, dass du am Leben bist?

Dass mein Herz klopft.

Gut. Woran noch?

An meinem Atem.

Gut. Und wenn jetzt was kommt, woran du nicht denken willst, dann denkst du einfach an deinen Atem.

Wie denn?

Du denkst, wenn ich einatme, spüre ich, dass ich jetzt am Leben bin, wenn ich ausatme, freue ich mich, dass ich jetzt am Leben bin. Das ist das, wasj e t z tist, das ist dieser Augenblick und das ist das Einzige, was zählt, nichts anderes. Schau, das Leben ist so kostbar. Eigentlich musst du ja nur montags von zehn bis elf Angst haben, aber du versaust dir den Dienstag und den Mittwoch und den Rest der Woche und sogar das schöne Wochenende, wenn du mit deinen Gedanken immer bei der Spritze am Montag bist. Leider habe ich es dir nicht beigebracht, dass der einzig wichtige Moment in deinem Leben immer der Augenblick ist, aber jetzt fang ich damit an. Setz dich neben mich und mach deine Augen zu, wir üben das jetzt.

Beide.

Das war sechs Jahre vor Paulines Tod. Wir ahnten beide, dass diese Übung wichtig für uns war. Aber wie oft sie uns helfen sollte, wenn wir uns in Angst und Hoffnungslosigkeit und Schlaflosigkeit verloren, wussten wir damals noch nicht. Wir wussten auch nicht, dass das Leben für uns noch viel Schlimmeres bereithalten würde, als eine Spritze ins Rückenmark.

Aber erst einmal war die Chemotherapie nach neun Monaten beendet. Der zentrale Venenkatheter, der Hicki, konnte endlich entfernt werden. Die Chemotherapie hatte ganze Arbeit geleistet. In Paulines Knochenmark war keine einzige Krebszelle mehr zu sehen. Sie war in Vollremission. Sie konnte entlassen werden.

Pauline ist jetzt gesund, sagte die Hoffnung.

Erst in fünf Jahren, sagte die Angst.

Die Nacht bringt dir den Tag zurück

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