Читать книгу Die Nacht bringt dir den Tag zurück - Isabel Schupp - Страница 12
Muss ich jetzt sterben?
ОглавлениеBei einem Hämoglobinwert von 4,2 müssen wir leider von einer Leukämie ausgehen.
Zäh und klebrig wie ein trüber, breiter Strom arbeitet sich diese Information durch meine Gehirnwindungen, während ich den kleinen Mann im weißen Mantel vor mir betrachte. Der Mann hat eine Nase wie aus Gummi. Er ist klein, hässlich und unsympathisch. Jemand der so eine entsetzliche Nachricht überbringt,k a n nnur unsympathisch sein. Früher, im alten Griechenland, wurden die Überbringer solch schlechter Nachrichten kurzerhand geköpft. Später würden wir den armen Mann nur noch den Arzt mit der Gumminase nennen, denn Pauline fand auch, dass er eine Gumminase hatte.
Später.
Später, das war, als Pauline schon im Krankenzimmer in ihrem Krankenhausbett lag und eine Blutkonserve in ihre Adern lief und auf ihren bleichen Wangen schon ein rosa Schimmer sichtbar wurde. Später, das war, als ich bereits mit meiner Mutter telefoniert hatte, die mich weinend fragte, warum ich überhaupt auf die Idee gekommen war, ins Krankenhaus zu fahren. Der ich dann erzählte, dass wir ja eigentlich auf dem Weg zum Optiker waren, denn Pauline war eine Brille verschrieben worden wegen der dauernden, nicht sehr schlimmen Kopfschmerzen, die sie seit sechs Wochen hatte. Und als sie an diesem Freitagmorgen so besonders blass, fast schon graugrün aussah, durfte sie ausnahmsweise Schule schwänzen und mit mir zusammen die neue Brille abholen. Aber geheimnisvollerweise fuhr mein Auto zum Kinderarzt. Was wollen wir denn bei dem, Mami? Und ich fragte die Sprechstundenhilfe, ob sie mal auf die Schnelle ein Blutbild machen könnte. Die Sprechstundenhilfe machte also ein Blutbild, und weil Dr. Geier sofort sah, dass damit etwas nicht stimmte, meinte er, wir sollten zur Vorsicht in die Uniklinik fahren, und ich fragte ihn, ob’s denn vor dem Wochenende sein müsse oder ob’s Montag reiche und er wiegte den Kopf und knurrte, meinetwegen, wenn sie sich hinlegen kann, dann reicht es auch am Montag. Er neigt nicht zur Hysterie, unser Doktor Geier. Deshalb mochte Pauline ihn sehr. Und ich erzählte weiter, dass ich dann zu Pauline sagte, komm, bringen wir’s vor dem Wochenende hinter uns, dann sind wir zum Mittagessen wieder daheim und du kannst mit der Julie reiten gehen und ich gehe in die Arbeit.
Später, das war, als Josef sie schon zum Lachen gebracht hatte und mit ihr die Vorzüge des dicken Fernsehers in ihrem Krankenzimmer besprochen hatte. Später, als Flora schon neben ihr unter der weißen Bettdecke lag und die beiden Bärenhöhle spielten, während ich Pizza vom Italiener gegenüber holte. Einen Tag später. An dem Tag vor meinem 40. Geburtstag. Sechzehn Tage vor Paulines zehntem Geburtstag.
Am Tag danach. Also Lichtjahre später.
Bei einem Hämoglobinwert von 4,2 … Was war noch mal Hämoglobin? Hatte das nicht was mit Schwangerschaft zu tun? Stimmt, da gab es doch diesen HB Wert, schwemmte der trübe Fluss gerade in mein Kleinhirn, diesen Wert, den mein Gynäkologe immer bestimmt hatte und der immer zu niedrig gewesen war. 4,2. Ja, das war tatsächlich nicht sehr viel, ich war doch schon bei einem HB von neun immer so schlapp gewesen. … müssen wir leider von einer Leukämie ausgehen. Leukämie.
Die Nachricht hat jetzt mein Sprachzentrum erreicht. In meinen Ohren rauscht es so eigenartig, und mein Mund fühlt sich taub an. Eigentlich müsste ich jetzt laut schreien oder zu weinen anfangen. Und was heißt das jetzt, höre ich mich durch das Rauschen hinweg sagen. Ruhig, etwas heiser, angespannt, so wie ich vielleicht auf den Hinweis meines Automechanikers geantwortet hätte, dass meine Lichtmaschine kaputt sei. Später würde es heißen, ich habe sehr gefasst reagiert, gefasst, das war das Wort. Der Mund unter der Gumminase bewegt sich jetzt unablässig, aber das Gesagte, und das ist eine Menge, rauscht ungehört an meinen Ohren vorbei. Als er endlich fertig ist, verlassen meine Tochter und ich das Krankenhaus. Vorher müssen wir ein Dokument unterzeichnen, worin steht, dass wir die Klinik auf eigene Verantwortung verlassen und dass meine Tochter mit diesen Blutwerten nicht in der Lage sein wird, auf eigenen Beinen zu gehen, und dass ich mich verpflichte, in spätestens einer Stunde wieder in die Ambulanz zurückzukehren, nein danke, einen Rollstuhl brauchen wir nicht, schnell raus hier frische Luft schöpfen, wohin nur komm wir gehen zu McDonalds oh Gott ausgerechnet…
… McDonalds.
Wenn ich heute, sieben Jahre später, an diesem Krankenhaus vorbeifahre, fahre ich auch immer an diesem Tag vorbei. Und an diesem McDonalds. Ungerührt steht er da. Nichts zeugt von dem Drama, das sich dort einmal abgespielt hat, an einem Freitagvormittag. Die Ärzte sprechen von Freitagsleukämie, denn viele Kinder mit Leukämie werden von ihren Eltern am Freitag in die Ambulanz gebracht. Weil die Kinder schon so lange so blass sind oder ungewöhnlich viel schlafen. Oder, weil sie morgens früh mit einem gebrochenen Fuß im Bett liegen, kein Mensch weiß woher, oder weil sie viele blaue Flecken haben oder sonderbare kleine blaue Pünktchen auf der Haut. Weil sie wochenlang Kopfschmerzen haben oder geschwollene Lymphknoten oder Fieber. Ja, ja, die Leukämie kommt sehr unterschiedlich und ungewöhnlich daher, deshalb wird sie so oft nicht erkannt. Und dann plötzlich, am Freitag, schnell noch vor dem Wochenende, wollen die Eltern sich Klarheit verschaffen. Wollen die ständige unterschwellige Sorge loswerden und unbeschwert das Wochenende antreten. Sie gehen zu ihrem Kinderarzt, und wenn sie Glück haben, macht dieser sofort ein Blutbild. Wie bei uns.
Da sitze ich also bei McDonalds im ersten Stock an einem trostlosen Resopaltisch meiner Tochter gegenüber. Meiner kleinen, blassen Tochter, mit der ich gestern noch um die Wette gerannt bin und die jetzt zu krank sein soll, um die Straße zu überqueren. Sicher, wenn ich dieses Rennen nicht gewonnen hätte, säße ich jetzt nicht hier. Denn Pauline ist das schnellste Mädchen der Welt, und die Tatsache, dass ich sie gestern beim Wettrennen geschlagen habe, hat meiner wochenlangen Sorge um sie, wegen dieser unheimlichen Blässe, den Rest gegeben. Schnell noch vor dem Wochenende zum Arzt. Um sicherzugehen, dass ihr nichts fehlt. Was soll denn da sein, sagen die Freundinnen, deine Kinder sind doch alle etwas blass, du bist doch auch so ein heller Hauttyp, na ja, und die Müdigkeit, wer ist im Herbst nicht müde.
Mir steckt ein Kloß im Hals. Vor mir liegt ein angebissener Burger trostlos auf seinem Tablett. Vor Pauline, angebissen und trostlos, eine Apfeltasche. Noch nie zuvor und auch nie mehr danach habe ich mich so trostlos gefühlt wie an diesem Tag, in dieser Stunde, in diesem trostlosen McDonalds. Nie zuvor habe ich mich so sprachlos gefühlt, so schwer, so traurig. Wie gerne möchte ich etwas Warmes, Fröhliches, Hoffnungsvolles in diese graugrünen Augen sagen, die mich so bodenlos verstört anschauen. Aber ich kann nicht. Der kleine Batzen Burger in meinem Hals und der Kloß dahinter versperren allen tröstenden Worten den Weg.
Wir schweigen.
Ein hoffnungsloses elendes Schweigen, wie es sich niemals zwischen Mutter und Tochter ausbreiten dürfte. Als wir vor lauter Schweigen und Trostlosigkeit fast keine Luft mehr zum Atmen bekommen, stehen wir auf. Pauline klettert auf meinen Arm und ich trage sie vor die Tür. Wir stehen auf einem großen Platz vor einer riesigen, rechteckigen Mülltonne, im Rücken McDonalds, links Krankenhaus, rechts Kino, vorne Straßenbahn, um uns Autos, viele, schnell, laut, Menschen, viele, schnell, laut, Kinder, Jugendliche, lebendig, gesund. Wir beide – fallen gelassen und vergessen mitten auf diesem Platz.
Wir gehören nicht dazu.
Die lärmende Großstadt, sie wirbelt wie im Zeitraffer um uns herum, brausend, rauschend, gleichgültig, wir beide mittendrin wie Treibholz, mutlos, ratlos. Als ich nicht mehr kann, setze ich mein Kind auf die große Mülltonne und lege meine Arme um seinen zitternden Körper. Und jetzt fängst du an zu weinen. Nicht wie sonst, wenn du dich mit deinem Bruder streitest oder wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, laut und hysterisch, sondern ganz leise und verzweifelt. Ich weine nicht. Ich darf nicht weinen. Sonst geht die Welt unter.
Ich bin die Mutter.
Sie sind zu zweit. Die Oberärztin der Onkologie und die Psychologin. Wenn Ärzte mit einer Psychologin auftauchen, ist das ein schlechtes Zeichen. Pauline hat aufgehört zu weinen und liest draußen auf dem Gang ein Bilderbuch. Währenddessen teilt mir die Ärztin mit, dass die Laboruntersuchung von Paulines Blut eine akute lymphatische Leukämie, kurz ALL ergeben habe, dass diese Krankheit bei Kindern mit Chemotherapie gut zu behandeln sei, dass die Behandlung ein Jahr dauere und dass die Wahrscheinlichkeit, dass Pauline gesund würde, bei achtzig Prozent läge. Sie spricht von Knochenmarkpunktionen und von zentralen Venenkathetern, die Hickman-Katheter nach einem gewissen Dr. Hickman heißen. Sie spricht von sofortiger stationärer Aufnahme und von Studien, an denen man teilnähme, natürlich nur, wenn man wolle, und vom Randomisieren, was ich später im Lexikon nachschlage. Ich weine nicht und stelle Fragen nach der Lichtmaschine, während die hübsche Psychologin mir aufmunternd zulächelt.
Ich gehe zu meiner Tochter. Ich krächze ihr zu, alles wird gut. Hand in Hand betreten wir das Behandlungszimmer. Jeder sitzt auf einem eigenen Stuhl. Aufmerksam hört Pauline der Ärztin zu, die in einfachen Worten ihre vorherige Ansprache wiederholt. Die Ärztin fragt Pauline, ob sie noch Fragen habe, und schaut sie erwartungsvoll an. Pauline fragt wie aus der Pistole geschossen:
Muss ich jetzt sterben?
Die Ärztin schnappt nach Luft, zögert einen kleinen Augenblick und sagt dann sehr bestimmt: Das glaube ich nicht.