Читать книгу Die Nacht bringt dir den Tag zurück - Isabel Schupp - Страница 13
Zweite Heimat
ОглавлениеIch werde zur Anmeldung ins Erdgeschoss geschickt, ein ganz normaler Vorgang, also gehe ich zur Anmeldung. Ich renne nicht, ich stürze nicht, ich gehe. Treppe runter, Treppe runter, lachende Chirurgen, eine afghanische Putzfrau, die früher eine große Villa mit Garten und Swimmingpool in einem Vorort von Kabul besessen hat, und deren Mann Neurochirurg war und jetzt Stapelfahrer bei der Bahn ist, ein kleines Mädchen, das versucht, das Treppengeländer hinunterzurutschen, ernste Chirurgen, ein Scheich in weißem Gewand mit einem kleinen, bleichen Jungen auf dem Arm, auch in Weiß. Die denken sicher alle, dass ich mir eine Wurstsemmel kaufen gehe. Aber ich kaufe mir keine Wurstsemmel, Leute, ich werde noch sechs Jahre lang diese Treppen runtergehen, um mir Wurstsemmeln zu kaufen, aber heute kaufe ich mir keine Wurstsemmel, heute bin ich auf dem Weg, mein krebskrankes Kind anzumelden.
Mein Kind hat Krebs.
Bei der Anmeldung muss ich eine Nummer ziehen, wie bei der Kfz- Zulassungsstelle. Damals wusste ich noch nicht, dass man VIP-Status hat, wenn das Kind Krebs hat, dass man einfach an allen Wartenden in das Büro gehen darf, ohne auch nur eine Sekunde zu warten. Aber beim ersten Mal warte ich. Wie all die vielen anderen Eltern, Kinder und Scheiche mit ihren Babys. Ich warte ganz normal, bis ich dran bin, obwohl mein Kind seit drei Stunden zwei Stockwerke über uns liegt und Leukämie hat.
Ich sitze auf einer Bank und warte.
Weder raufe ich mir die Haare, noch zerreiße ich mein Hemd vor der Brust, noch zerkratze ich mir mein Gesicht, noch werfe ich mich der wartenden Türkin an den Hals. Weil ich so wohlerzogen bin. Die anderen sind auch wohlerzogen. Sie warten und niemand lässt sich was anmerken. Ob das Baby vom Scheich wohl einen Gehirntumor hat? Oder nur eine Mittelohrentzündung? Als ich an der Reihe bin, gebe ich dem Mann hinter dem Schalter meine Angaben durch. Es ist ein ganz normaler Mann, wie ich, essen, schlafen, spazieren gehen, Berge vielleicht, was weiß ich, jedenfalls schreit er nicht, als ich ihm sage, auf welcher Station mein Kind liegt, ich schrei ja auch nicht, was habe ich denn erwartet, griechische Tragödie oder was?
Ich schreie nicht.
Das Schlimme an einem Krankenhaus ist, dass es nicht so schlimms c h e i n t,wie es schlimmi s t. Dass das Grauen im Verborgenen lauert. Dass alles so seltsamn o r m a list. Das täuscht über das Schlimme hinweg. Mein Kind ist schwer krank, und wenn es nicht behandelt wird, stirbt es in wenigen Wochen. Das ist das Grauen.
Anmeldung, lachende Chirurgen und freundliche afghanische Putzfrauen, das ist das Normale.
Drei Stunden später sitze ich in einem Gang. Dass ich in einem Gang sitze, ist nicht weiter wichtig, aber dass meine Tochter hinter einer Tür ist, die von diesem Gang wegführt, ist wichtig. Und dass sie hinter dieser Tür schreit. Ich sitze in dem Krankenhausgang vor einer Tür, und hinter dieser Tür schreit meine Tochter.
Meine Tochter schreit.
Dem Gang merkt man nicht an, was hinter seinen Türen geschieht. Er liegt so gepflegt da, blank gewischt von der afghanischen Putzfrau, an den Wänden hängen große Bilder, durchaus geschmackvoll, bunt, ermunternd, keine nichtssagende Kunst für öffentliche Ämter, nein, nein, Gemälde mit Niveau, von einem gewissen Aaron Zeng. Ob Aaron wohl Kinder hat? Wieso sitze ich eigentlich wie angewachsen in diesem gepflegten Gang auf meinem Stuhl, während mein Kind da drinnen schreit? Weil der Arzt gesagt hat, dass Pauline keine Schmerzen haben wird, wenn er mehrmals mit der langen Nadel in ihre Beckenschaufel sticht, um dort Knochenmarkproben zu entnehmen, um noch genauer herauszufinden, welche Form der Leukämie Pauline hat. Der Arzt hat nichtd i r e k tgesagt, dass es nicht wehtut, aber er hat gesagt, dass Pauline Dolantin bekommen wird und sich nachher an nichts mehr erinnern kann. Das ist auch so ein Grauen hinter einer gepflegten Fassade. Schmerzen, an die man sich nicht erinnern kann.
Aberi c hkann mich erinnern.
Niemals werde ich vergessen, wie meine Tochter hinter dieser Türe geschrien hat. Wie ichz u g e l a s s e nhabe, dass meine Tochter hinter dieser Tür geschrien hat. Wie ich zugelassen habe, dass sie Schmerzen hat, an die sie sich später nicht mehr erinnern kann. Wie konnte ich das zulassen?
Weil ich so wohlerzogen bin.
Pauline bekommt ein Bett auf der Krebsstation. Nach dem Gespräch mit der Oberärztin hatte ich sofort Dr. Geier angerufen und ihm von der Leukämie erzählt. Er knurrte, das habe ich mir schon gedacht und ich fragte ihn, ob Chemotherapie in diesem Fall wirklich die Ultima Ratio sei, denn meine Kinder hatten bis zu diesem Zeitpunkt von ihm nie etwas anderes als Kügelchen bekommen, auch nicht, wenn sie ganz schwer krank waren, und er erwiderte, auf jeden Fall, es gibt nichts anderes. Und es wird sechs Wochen dauern, bis du die Julie wieder daheim besuchen kannst, reiten natürlich nicht, wegen der Keime, und bis ich wieder arbeiten gehen kann.
Hier, auf der schlimmsten Station von allen, auf der Station, die eine Mutter nur aus Albträumen kennen sollte, scheint das Krankenhaus zunächst genauso schlimm, wie esn i c h tschlimm ist, das soll jetzt einer verstehen, es ist eben nicht zu verstehen, ich verstehe es selber nicht. Denn da sitzen sie oder laufen herum, die Kinder ohne Haare, die man höchstens mal in einer Dokumentation auf Arte oder als Aufreißer in der Bildzeitung gesehen hat. Diese kleinen glatzköpfigen Wesen mit den großen, weisen, etwas traurigen Augen. Du bist geschockt. Ich bin geschockt. Deine dicken blondbraunen Haare fließen in glänzenden Wellen bis zu deinem Po. Deine tolle Haarpracht, auf die du immer so unglaublich stolz warst. Deine Haarpracht, die du schon fast wie einen Fetisch verehrt hast. So, dass ich vor drei Wochen streng zu dir gesagt habe, dass Haare nicht das Ein und Alles sind im Leben, und dass man seine Haare auch mal verlieren kann, und dass man dann trotzdem noch ein ganzer Mensch sei.
Was für eine Prophezeiung.
Tapfer stehst du neben mir und betrachtest das seltsame Treiben auf dieser Station. Über den glatten, weißen Linoleumflur donnert ein kleines, rotes Bobby Car, auf dem ein etwa zweijähriger Junge sitzt. Aus seinem Hals hängt ein langer Schlauch, der wiederum zu einem Beutel mit gelber Flüssigkeit führt, der an einem Ständer auf Rollen hängt. Die gestresste Mutter rennt hinter ihrem kleinen Rennfahrer her und versucht, den Ständer so schnell hinter dem Auto herzuschieben, dass sich das Kabel nicht strafft und hofft, dass der Venenkatheter nicht plötzlich aus dem Hals gezogen wird. Über uns, an der Decke der Station, hängt ein riesengroßer, Feuer speiender Drache aus grünem Pappmaschee, und zum ersten Mal an diesem Tag muss ich lächeln. Was für ein herrlicher Drache. Der macht Mut. Neben dem Drachen ist die Küche. Mein Blick fällt auf ein aufgeschlagenes Buch, welches auf einem der Tische liegt. Vorne drauf steht „Kinder sterben anders“. Auf der Rückseite lese ich ein Gedicht:
Ich bin von euch gegangen,
nur für eine kurze Zeit
und gar nicht weit.
Wenn ihr dahin kommt,
wohin ich gegangen bin,
werdet ihr euch fragen,
warum ihr geweint habt.
Es ist von Lao Tse. Normalerweise habe ich ein schlechtes Gedächtnis, aber dieses Gedicht konnte ich sofort auswendig und habe es nie wieder vergessen.
Ich habe gedacht, vielleicht brauche ich es noch mal.
Ich habe gedacht, hoffentlich werde ich es niemals brauchen.
Neben uns, auf einem großen, schwarzen Ledersofa, sitzen zwei Teenager. Sie sind so blass wie Pauline. Beiden hängt der Schlauch aus dem Hals, der Hickman-Katheter. Der Hicki, der daran schuld ist, dass die jungen Krebspatientinnen nicht ins Wasser dürfen, nicht duschen, nicht baden, nicht schwimmen. Der aber auch dafür sorgt, dass die Kinder nicht andauernd in die Venen gestochen werden müssen. Alle Medikamente, alle Blutkonserven, jede Blutabnahme erfolgt über den verhassten Hicki. An dem Ständer in dem roten Beutel befindet sich Blutplasma, das auch Pauline in regelmäßigen Abständen bekommen wird. Denn die Zytostatika zerstören nicht nur die kranken Zellen, die Blasten, sondern auch die gesunden Zellen, die wir zum Leben brauchen. In dem gelben Beutel befinden sich Thrombozyten, die Thrombos, ein Wort, das wir öfter in den Mund nehmen werden als Pizza oder Sonnenblume.
Das eine Mädchen trägt ein pinkfarbenes Kopftuch, das andere hat eine Glatze mit einem feinen blonden Flaum darauf.
So wirst du auch bald aussehen, meine Kleine, zart und rührend mit deinem haarlosen Köpfchen, wie ein Vogeljunges, das zu früh aus dem Nest gefallen ist. Du wirst dich hassen ohne deine Haarpracht. Und ich werde dich so lieben und dir ganz oft über deinen warmen, haarlosen Kopf streicheln und dich wunderschön finden.
Und bald wird diese schlimme Station unsere zweite Heimat sein. Die kleinen Glatzköpfe werden uns vertraut sein, wir werden mit den Schwestern scherzen, die wir gut kennenlernen werden, denn Krebskinder sind Langzeitpatienten. Wenn wir von zu Hause losfahren, weil die nächste Chemotherapie ansteht, wirst du die Klinik hassen. Weil Klinik das Schlimmste ist, was es gibt. Du wirst schreien, weinen und toben, ich geh nicht mit in die Scheißklinik, ich hasse die da alle, kannst alleine gehen, und dich endlich fügen, so wie du dich in alles fügen wirst, was die Klinik dir verordnet.
So wie alle Kinder sich fügen.
Wir werden also in unser Auto steigen, denn mit den Öffentlichen dürfen wir nicht, weil du kein Immunsystem hast und nicht unter Menschen darfst, auch nicht ins Kino, aber das machen wir natürlich trotzdem, und wir werden die eine Welt hinter uns lassen und in eine andere, ganz andere Welt eintauchen. Wir werden unser Dorf, unsere Nachbarn, deine Freundinnen hinter uns lassen, all die Menschen und ihre Probleme, zum Beispiel dass die Steuererklärung ansteht oder dass der Skipass so teuer geworden ist oder dass der Sohn eine Lernschwäche hat. Wir werden die Sonne, den blauen Himmel, Flora, Josef, unsere Katze zurücklassen, in die laute Stadt fahren und einen Parkplatz suchen. Und dann werden wir die Kliniktreppe raufgehen, meistens ganz langsam, entweder, weil du keinen Bock hast oder weil du so schwach bist. Und wenn es dir ganz, ganz, ganz schlecht geht, nehmen wir den Aufzug.
Sonst niemals.
Aber wenn wir dann unter dem großen grünen Drachen hindurchgegangen sind und durch die Schwingtüre die Krebsstation betreten haben, ist es nicht mehr so schlimm. Du betrittst deine zweite Heimat. Verhasst, aber vertraut.
Du schaust, mit wem du die nächsten fünf Tage verbringen wirst, beneidest die, die heute nach Hause dürfen, und checkst, welche Schwestern, welche Ärzte Dienst haben. Studierst den Speiseplan, von dem du niemals etwas essen wirst. Freust dich, wenn du ein Fensterbett hast. Wir werden uns daran gewöhnen, tagsüber manchmal mit fast zwölf Personen unser Zimmer zu teilen. Drei Kinder in drei Betten, drei Mütter, drei Väter, meistens noch eine Krankenschwester, die irgendeine Infusion anhängt. Und am Wochenende die Großeltern. Wenn der kleine Mops vom Scheich in deinem Zimmer liegt oder der kleine Achmed, kommen auch noch jede Menge Onkels und Tanten dazu. Fehlen nur noch die Hühner.
Flora wird natürlich auch oft bei dir sein, denn sie ist die Wichtigste von allen. Flora, geliebte kleine Schwester, Vertraute, ruhender Pol. Freundinnen können anstrengend sein, wenn es einem nicht gut geht, wenn einem übel ist von der Chemo und der Mund offen ist vom MTX. Flora ist zwar erst sieben, aber niemand kann so gut trösten wie sie, niemand ist so beruhigend, so aufheiternd, so kuschelig wie sie. Wenn Flora da ist, ist alles gut.
Der Fernseher. Teletubbies rund um die Uhr. Komm Mami, wir hauen hier sofort ab, das ist ja Tierquälerei. Einmal werde ich das Kabel einfach rausziehen und verstecken. Göttliche Ruhe. Bis der Zivi am Abend ein neues besorgt hat.
Der Abend. Der schlimme Abend.
Denn da gehe ich. In die Freiheit. Flora kommt mit. Sie darf bei mir bleiben, sie darf mit mir raus, raus aus dem Krankenhausgeruch, raus an die frische Herbstluft, in die lebendige Großstadt, mit mir ins Kino, Pommes essen, durch die nächtlichen Straßen an meiner Hand in die Elternwohnung hüpfen, die die Krebsstiftung angemietet hat, damit die Eltern von auswärts in der Nähe der Klinik übernachten können, und mit mir im großen Doppelbett schlafen.
Flora darf mit.
Du musst bleiben.
Um einundzwanzig Uhr müssen die Eltern und die Geschwister die Station verlassen. Du wirst aufatmen, wenn die strenge Schwester keinen Nachtdienst hat, die, die immer um Punkt neun mit ihrem langen Fingernagel auf ihre Armbanduhr klopft, was so viel heißt wie: Mutter, jetzt aber raus hier, wir brauchen jetzt unsere Ruhe. Aber auch wenn die lässige Schwester da ist, irgendwann muss ich gehen. Daran wirst du dich nie gewöhnen.
Und was heißt hier Ruhe. Es gibt keine Ruhe. In der Nacht schon gar nicht. Immer piept irgendein Infusomat, ständig kommt eine Schwester rein, dauernd wird Fieber gemessen.
Dein Feind: das Fieber. Fieber bedeutet Klinik. Unbedingt. Wer zu Hause ist und Fieber bekommt, musss o f o r tin die Klinik fahren und stationär aufgenommen werden. Denn die vielen verschiedenen Antibiotika müssen intravenös gegeben werden, und zwar mindestens fünf Tage lang. Da verstehen die Ärzte absolut keinen Spaß, man stirbt nicht an Leukämie, Frau Schupp, man stirbt an Infektionen.
Denn unsere weißen Blutkörperchen, die Leukozyten, unsere Gesundheitspolizei, sind krank. Sie haben sich vermehrt und füllen jetzt wie eine schlappe träge Masse dein Knochenmark aus und nehmen allen anderen wichtigen Zellen den Platz weg. Niemand passt auf, wenn ein Virus daherkommt, also müssen die Antibiotika helfen, verstehst du? Aber wir werden Tricks gegen das Fieber entwickeln. Trinken, Trinken, Trinken, das hilft manchmal. Oder Kügelchen von Dr. Geier. Der hat es schon oft geschafft mit irgendeiner Hochpotenz, dass sich das Fieber wieder verzogen hat. Und dann kann man ja immer noch in der Backe statt unter der Zunge messen, da ist es etwas kühler.
Wir werden unser Lieblingsplätzchen in der großen Patientenküche haben. Zum Frühstück wird es immer sehr gemütlich sein, mit einer Kerze an unserem Tisch, was natürlich streng verboten ist, aber wir machen es trotzdem und essen Weißmehltoast, den es bei uns zu Hause nicht gibt, weil wir uns ja immer vollwertig ernähren. Also ich versteh das nicht, sagen meine Freundinnen, wieso ist Pauline nur krank geworden, ihr habt euch doch immer so gesund ernährt. Ja… ja… Mehrmals am Tage werde ich dir kleine Häppchen zubereiten, denn du wirst viel Chemotherapie bekommen, wovon einem so schlecht wird, dass man einfach keinen Appetit hat. Das Klinikessen schmeckt dir nicht, Fleischbatzen in dicker Pampe und ölige Nudeln. Warum sind diese Nudeln eigentlich immer so ölig, Mami? Und zerkochter Broccoli, der ja schon unzerkocht bei uns zu Hause voll eklig schmeckt, und Suppen, die man mit dem Messer schneiden kann. Einmal werde ich dem Klinikkoch unten im Keller einen Besuch abstatten und ihn fragen, warum die Suppen für die kleinen mageren Krebskinder eigentlich immer so pampig sein müssen. Er wird sagen, dass er pro Portion Suppe nur zwei Cent zur Verfügung habe und dass die Suppen deshalb so pampig sein müssen, und ich werde ihm ein Rezept für dünne indische Suppe mit roten Linsen und Kokosmilch vorschlagen, die auch nur zwei Cent kostet und er wird sagen, dass er Küchenchef sei und ich ihm nicht zu sagen bräuchte, wie er zu kochen habe. Na ja, wo er recht hat… Nur dein Bruder Josef wird jedes Mal, wenn er dich besuchen kommt, als Erstes in die Küche gehen und begeistert deine Portion Schweinegoulasch mit Soße aufessen.
Manchmal wirst du so viel Kortison bekommen, dass dein Gesicht ganz rund wird und du dich aufgedunsen und hässlich finden wirst. Von Kortison bekommt man Hunger wie ein Wolf, auch in der Nacht. Und dann werde ich dir nachts Spaghetti kochen. Mit Sößchen aus gehackten schwarzen Oliven und klein geschnittenen, frischen, rohen Cocktailtomaten, die auch verboten sind, weil Krebskinder während der Chemotherapie kein Immunsystem mehr haben und weil ja auf so einer ungekochten Tomate ein Pilz oder ein Keim oder ein Virus sitzen könnte. Aber da pfeifen wir drauf, weil du immer vor Freude strahlst, wenn es was Feines gibt, und nur einmal werden wir von der doofen Assistenzärztin erwischt und angemeckert.
Der Scheich und seine Familie sind auch auf der Krebsstation. Leider hat sein kleiner Junge, auf den er so stolz ist, doch keine Mittelohrentzündung, auch keinen Gehirntumor, sondern Knochenkrebs. Im Oman ist die Krebsbehandlung noch nicht so weit entwickelt, und da der Scheich genug Geld hat, kann er die Therapie in unserem Krankenhaus bezahlen. Wenn ich den kleinen arabischen Jungen, der alle so süß anstrahlt, in seinem Kinderwagen sehe, denke ich immer, Gott sei Dank, dass Paulinen u rLeukämie und keinen Knochenkrebs hat. Wahnsinn.
Der Scheich und seine verschleierte Frau kochen auch immer selbst. Stundenlang. Köstliche arabische Speisen, die ganze Station riecht nach Kardamom und Knoblauch, und die Oberschwester schimpft, dass die Patientenküche kein Restaurantbetrieb sei. Pauline und ich dürfen alles probieren und haben viel Spaß mit der Familie aus dem Oman. In unserer Stationsküche, die so groß und so schön ist, weil die Gesellschaft für krebskranke Kinder zu Weihnachten viele Spendengelder eingesammelt hat, befinden sich auch all die Heiltees und Wundersäfte, die im Kampf gegen den Krebs helfen sollen. Die ausgewählten Öle und Gemüse, die die freien Radikale fangen sollen. Teure Pülverchen und Kapseln, denen ein heilkräftiger Ruf vorauseilt. Der große Kühlschrank ist voller geheimnisvoller Hoffnungsträger.
Lennis Mutter Natalie kocht in dieser Küche aus einem ganzen riesigen Karpfen mit Kopf und Gräten und allem eine makrobiotische Heilsuppe für ihren Sohn, mit vielerlei exotischen Gewürzen und Wurzeln. Die Suppe sieht grau und scheußlich aus, aber sie schmeckt so gut, dass sogar du ein Schüsselchen probieren wirst. Kaum zu glauben, Madame Feinschmecker, die sich weigert, etwas zu sich zu nehmen, was ihr nicht schmecken könnte. Die Rote Bete und Sellerie und Karotten für Schweinefutter hält, egal wie gesund so ein Saft ist, Krebs hin oder her. Wie gerne würde ich es sehen, wenn Pauline jeden Tag ein Glas frischen Gemüsesaft zu sich nehmen würde. Wegen der freien Radikale eben und damit sie keinen Infekt bekommt.
WEIL WIR DOCH WAS TUN MÜSSEN.
Während Lennis Mutter in der Klinikküche Suppe kocht, holt ihr Mann Lennis Schwester Anna vom Kindergarten ab, macht daheim den Haushalt, übt Geige für das nächste Konzert, denn er ist Berufsmusiker, sagt den Nachbarn Bescheid, saust im Auto in die Klinik, kurze Lagebesprechung, dann nimmt Lennis Mutter den Autoschlüssel, saust nach Hause, um den Babysitter in Empfang zu nehmen, Anna eine kurze Gutenachtgeschichte vorzulesen, ihre Flöte einzupacken und ins Konzert zu fahren. Irgendwann muss Geld verdient werden, Leukämie hin oder her. Währenddessen hat Lennis Vater in der Klinik seine Geige ausgepackt und spielt erst den Kindern in Lennis Krankenzimmer die Pippi-Langstrumpf-Musik vor und gibt dann noch für mich und die Nachtschwestern ein kleines Nachtkonzert.
Dann klingelt sein Handy, Natalies Konzert ist aus, kurzer Terminabgleich für den nächsten Tag. Familien von Krebskindern haben wenig gemeinsames Familienleben, entwickeln sich dafür aber zu Organisationstalenten.
Nachts, wenn Pauline schon schläft, werde ich mit Lennis Vater Winni in dieser Küche sitzen und das Weißbier trinken, das er in dem großen Kühlschrank zwischen den Wundermitteln versteckt hat. Er darf über Nacht in der Klinik bleiben, denn Lenni ist zwar schon sechs, hat aber ein Down-Syndrom. Und Eltern von behinderten Kindern dürfen bleiben. Wir werden über Lenni reden, der auch Leukämie hat und dem das MTX gar nicht bekommt. Wir werden darüber fachsimpeln, ob nun die Nebenwirkungen von Daunorubicin oder von Asparaginase schlimmer sind, und darüber witzeln, dass Vincristin, das so scheußliche Knochenschmerzen macht, eigentlich aus Immergrün besteht und somit ein Naturheilmittel ist.
Wir werden über die kleine Lisa reden, die heute nach Hause entlassen wurde. Zum Sterben. Weil sie den zweiten Rückfall hatte und die Ärzte ihr nicht mehr helfen konnten. Und über Achmed, der gestern, ganz hinten im letzten Zimmer gestorben ist.
Wenn auf unserer Station ein Kind stirbt, erfährt man das niemals vom Klinikpersonal. Wenn man die Schwestern fragt, wo denn der kleine Achmed geblieben ist, senken sie den Blick und sagen, das sei Arztgeheimnis, aber irgendwie erfahren es trotzdem alle. Spätestens zwei Stunden später weiß es die ganze Station.
Die vielen Verwandten von Achmed ziehen an unserem Zimmer vorbei, düstere, schwermütige Männer im Anzug, mit dichten Schnauzern und schwarzen Haaren, Teppiche auf ihren Schultern tragend. Dahinter gehen ihre Frauen mit schwarzen Kopftüchern, ernst und verheult, mit großen Körben und Kerzenleuchtern aus altem Silber in der Hand, und verschwinden im hintersten Zimmer. Gerne wäre ich einmal Mäuschen in diesem Zimmer am Ende des Gangs gewesen, wo die Kinder zum Sterben hingelegt werden. Gerne hätte ich gesehen, wie die türkische Familie Abschied nimmt von ihrem Achmed. Ich hätte mich auch gerne von Achmed verabschiedet.
Die Kinder, die sterben, das sind immer die anderen, nicht unsere. Lenni und Pauline haben ja die etwas weniger gefährliche Leukämie, gell Winni? Achmed hatte ja dieg a n zgefährliche, die mit dem Philadelphia-Chromosom, oder? Unsere Kinder haben ja achtzig Prozent. Gott sei Dank!
Achtzig Prozent Chance, ereignisfrei zu überleben. Ereignisfrei. Das soll heißen, ohne dass sich ein Rückfall ereignet. Nach Paulines Tod, Jahre später, habe ich oft gedacht, wenn achtzig Prozent überleben, dann heißt das, jedes fünfte Kind muss sterben. Aber damals in der Klinikküche mit Lennis Vater habe ich das noch nicht gedacht. Da habe ich gedacht, achtzig Prozent!W i rhatten die Kinder mit der ganz guten Prognose. Alle haben das gedacht. Die Ärzte auch.
Nach dem zweiten Weißbier wird uns ein bisschen leichter ums Herz. Und nachts um zwei lachen wir uns schließlich kaputt bei dem Gedanken, dass die verstorbenen Kinder immer heimlich aus dem Krankenhaus getragen werden. Mitten in der Nacht. Über den Hintereingang kommt der Leichenbestatter und trägt den kleinen Achmed im Kindersarg aus der Krebsstation.
Husch, husch, im Krankenhaus wird nicht gestorben.
Wir werden es sehr gemütlich haben in dieser Küche und uns so zu Hause dort fühlen, dass die schlimme Station doch nicht so schlimm zu sein scheint.
Aber das ist genau das Schlimme, hast du oft gesagt.