Читать книгу Die Nacht bringt dir den Tag zurück - Isabel Schupp - Страница 15
Hoffnung
ОглавлениеVom Hickman bist du frei, klatsch, klatsch,
Die Chemo ist vorbei, klatsch, klatsch,
Du kannst jetzt wieder baden gehn
Und alle deine Freunde sehn…
Wie oft ich dieses Lied in den letzten neun Monaten schon mitgesungen habe. Immer ein bisschen heulend vor lauter Rührung. An diesen besonderen Tagen, an denen die Klinik nicht so schlimm scheint, wie sie schlimm ist. Mit allen Krankenschwestern von der Krebsstation, mit den Eltern, den Kindern, mit den Ärztinnen und den Zivis. Einmal hat sogar der Chefarzt mitgesungen. Alle haben sich im Krankenhausflur um eine kleine Prinzessin oder einen kleinen Prinzen versammelt und alle haben gesungen, geklatscht und gestrahlt, die Kleinen wie die Honigkuchenpferde. Sie verstehen noch nicht, was da gefeiert wird, aber sie wissen, dass es was Tolles sein muss und dass sie gemeint sind. Die Größeren verhalten lächelnd, ein bisschen peinlich berührt ob dieser Kindergartenveranstaltung, aber doch…
Hicki – Ex!
Was für ein Tag. Endlich ist er weg, der zentrale Venenkatheter, der Fremdkörper, der jetzt seit Monaten aus einem Loch im Hals baumelte. Baumelnder, langer, weißer Plastikschlauch, Stigma, Störenfried. Der schlimme Hicki, der schuld daran war, dass man alle drei Tage in die Klinik musste.M u s s t e.Da gab es kein Feilschen, denn er musste alle drei Tage gespült werden, weil er sonst verstopfte. Der blöde Hicki, der ständig Entzündungen verursachte. Der verdammte Hicki, wegen dem man in den Ferien nie länger wegfahren durfte, obwohl gerade Chemo-Pause war und es einem so gut ging. Der Scheißhicki, wegen dem man nicht baden durfte. Die Chemo ist vorbei. Keine Chemo mehr, kein Hicki mehr. Endlich.
Heute steht Pauline im Mittelpunkt. Endlich.
Alle sind gekommen zu deinem großen Tag, Papa, deine Großmutter, Flora, Josef. Ich krächze und schlucke und rolle die Augen, bloß jetzt nicht heulen vor lauter Rührung, an was anderes denken, soll ich den Schwestern zum Abschied lieber Kuchen backen oder doch besser eine thailändische Suppe kochen, ist doch mal was anderes…
Ich klatsche.
Voller Hoffnung.
Voller Angst.
Ein großer Tag.
Von diesem Tag an ist die Hoffnung unsere ständige Begleiterin.
Von diesem Tag an ist die Angst unsere ständige Begleiterin.
Die Hoffnung, dass Pauline jetzt wieder ganz gesund ist und auch gesund bleibt, so wie viele, viele Kinder vor ihr auch schon. Die Hoffnung, dass die Krebszellen von der monatelangen Behandlung komplett vernichtet worden sind. Ihre Prognose ist gut. Sie ist eine Low Risk Patientin. Achtzig Prozent Chance auf ein ereignisfreies Überleben.
Die Angst, dass der Krebs doch wiederkommt, so wie bei vielen Kindern vor ihr auch schon. Die Angst, dass sie möglicherweise zu den zwanzig Prozent Kindern gehören könnte, bei denen das Überleben doch nicht ereignisfrei ist.
Pauline am 12.01.03
Heute bedrückt mich alles und mein Herz ist so schwer. Ich war heute in der Klinik und es ist alles gut. Hoffentlich ist alles gut. Im Krankenhaus leiden so viele, ich war da auch mal, aber ich will da nie wieder hin, nie wieder.
Aber jetzt ist alles gut.
Jetzt ist jetzt.
Present Moment…
Die Hoffnung ist für alle sichtbar. Mal umgibt sie uns mit leisem Glanz, mal schreitet sie mit elastischem Gang, federnd, pfeifend, optimistisch neben uns her, manchmal stürmt sie vorne weg, sprudelnd, schäumend, siegessicher, während ich in ihrem Kielwasser ersaufe.
Die Hoffnung ist bei uns, wie jemand, den man einlädt, weil er ein Garant für gute Stimmung ist. Weil sie sich zu unterhalten versteht, weil sie pfiffig ist, gut gekleidet und nie um eine Antwort verlegen. Weil sie sich hemmungslos in den Vordergrund spielen kann, wenn die Stimmung zu sinken droht. Weil man sich darauf verlassen kann, dass sie kommt, auch wenn alle anderen absagen. Weil sie die Einzige ist, die sich auch mit der Angst unterhält. Manchmal wird die Hoffnung nicht gebraucht und dann ist sie auch nicht da.
Die Angst ist immer da. Sie ist unsere unsichtbare Begleiterin. Tief in uns. Leise und bedrohlich, irgendwo in den unteren Eingeweiden hält sie sich versteckt. Man kann sie von außen nicht sehen, man kann sie allenfalls wie einen kühlen Luftzug spüren. Die Angst ist nicht eingeladen. Sie sitzt einfach da. Manchmal grob, ungeschlacht und düster wie Jabba the Hutt, unterhält sich nicht, schweigt, schaut sich nicht um, rührt sich nicht von der Stelle und gibt keine Antworten. Manchmal ist sie wie der Sensenmann persönlich: hager, fein und kalt. Leise, weiß aber Bescheid. Unscheinbar und bedrohlich sitzt sie da, zuckt, flüstert die Wahrheit und kennt die Zukunft.
Alle vier Wochen steht die Hoffnung pünktlich auf der Matte, nimmt Pauline und mich an die Hand und steuert mit uns zielstrebig in das Labor der Universitätskinderklinik. Sie sitzt zwischen uns draußen vor der Tür des Labors, wo wir gerade Paulines Blutprobe abgegeben haben, auf dem gepflegten, gewischten Krankenhausgang, und betrachtet mit uns die heiteren Aquarelle von Aaron Zeng. Sieht, wie die Angst sich langsam und bedrohlich vom Sonnengeflecht die Brust hinauf Richtung Kehle arbeitet. Hört, wie diese mit ihren kalten, knochigen Fingern einen Trommelwirbel auf unsere Herzen schlägt. Plappert und schnattert und lacht dagegen – die Hoffnung.
Und dann, wenn wir die Blutwerte in der Hand halten, wenn alles in Ordnung ist, dann klopft sie uns gönnerhaft auf die Schultern und behauptet, dass sie das sowieso gewusst habe, gibt der Angst einen gezielten Tritt aus der Hüfte und katapultiert sie zurück in die unteren Eingeweide, wo sie wieder leise in Stellung geht wie eine schwarze Krake. Bereit, jederzeit ihre düstere Behausung zu verlassen und mit ihren Tentakeln nach unserer Kehle zu greifen.
Aber erst mal fahren wir wieder nach Hause, glücklich, erleichtert, mit Zuversicht, voller Tatendrang. Alles ist gut. Die Werte sind gut. Pauline ist gesund.
Die Hoffnung schlägt an solchen Tagen Purzelbäume.
Die Angst lauert auf ihren nächsten Auftritt.
Pauline geht wieder in die Schule. Sie sieht aus wie ein kleiner Junge mit den kurzen Haaren. Sie liebt den Sportunterricht, ist aber nur noch das zweitschnellste Kind der Welt, Flora ist jetzt schneller. Sie weigert sich eine Kinder-Psychotherapie zu machen. Das wäre aber nicht schlecht, flüstert die Angst, bei so viel seelischer Belastung, die das Kind durchgemacht hat.
Pauline besucht das Gymnasium. Die Haare wachsen jetzt in dichten Locken, wie das oft nach einer Chemotherapie der Fall ist. Sie turnt. Lernt einen Flickflack und ist sehr stolz. Sie macht selten Hausaufgaben, ruht sich auf ihrem Leukämiebonus aus, aber wehe, wenn das jemand ausspricht! Pauline hat schnell spitzbekommen, dass mir die Schule eigentlich im tiefsten Herzen piepegal geworden ist. Und dass alle Lehrer doch irgendwie rücksichtsvoll mit ihr sind.
Pauline streitet sich mit Flora und Josef, ihren Geschwistern, die finden, dass ich Pauline vorziehe. Ich finde das nicht, ich finde, dass ich überaus darauf achte, dass ich alle meine drei Kinder gleich behandle, dass ich immer wieder um Ausgleich bemüht bin, immer wieder extra Flora Zeit und extra Josef Zeit anbiete, Zusatzschichten einlege, um für sie da zu sein, damit sie sich gesehen fühlen, ja, dass ist das Wichtigste, dass sie sich gesehen fühlen, aber die beiden haben recht, natürlich haben sie recht, es liegt in der Natur der Sache. Aber das werde ich erst Jahre später begreifen.
Pauline weint oft, wenn ich abends weggehe. Sie hat Angst vor einem Rückfall und weigert sich, frischen, gepressten Weizengrassaft zu trinken.
Das sei aber sehr gut für das Immunsystem, hört man, flüstert die Angst.
Pauline besucht einen Tanzkurs für Standard und Latein. Die Haare sind jetzt schon wieder schulterlang, eine prächtige gelockte Matte, auf die sie sehr stolz ist, kokettiert, verliebt sich, geht mit einem Jungen. Hadert mit dem Leben und mit ihrem Schicksal, hadert damit, dass sie diese Krankheit hatte, hadert damit, dass sie weiß, dass diese Krankheit wiederkommen kann. Weigert sich, auf Süßigkeiten zu verzichten.
Krebs mag Süßes, flüstert die Angst.
Pauline.
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Niemand konnte so laut schreien und toben wie du. Niemand konnte so abgrundtief verzweifelt sein wie du. Niemand konnte so lange weinen wie du. Mein Gott, warst du anstrengend. Aber auch niemand konnte sich so freuen wie du. Niemand konnte das Leben so genießen wie du. Als wäre es das Beste, was dir je passiert ist.
Und wir haben es krachen lassen, als gäbe es kein Morgen mehr. Geld mit vollen Händen ausgegeben, man weiß schließlich nie, wie lange man noch lebt. Völlig egal, ob man Leukämie hat oder nicht. Schon morgen kann einen der Schlag treffen, also wäre es doch Irrsinn, zu sparen oder den Ball sonst wie flach zu halten. Oder?
Das Beste war gerade gut genug. Wenn wir uns früher einmal im Jahr Ferien am Meer geleistet haben, dann haben wir es uns jetzt drei Mal geleistet. Ostern, Pfingsten und im Sommer auch noch mal. Jawohl. Alles nachholen, was wir versäumt haben. Tausendfaches Vergüten der ausgestandenen Qualen. Nach mir die Sintflut, Leben, was das Zeug hält.
Ganz genau, flüstert die Angst.
Und was haben wir gefuttert. Weißt du noch? Nach der Klinik, nach dem bangen Warten vor der Labortür, wenn dann alles in Ordnung war und die Hoffnung ihre Purzelbäume schlug, mal eben auf der Heimfahrt einen kleinen Abstecher ins Wirtshaus. Einfach so, mittags, an einem Werktag, Ente mit Blaukraut und Knödel. Mit viel Soße. Oder weißt du noch, wenn wir nach einem so richtig verzweifelten Tag, wenn am Ende alle heulten, wir uns vom Thailänder eine Platte mit Sushi haben kommen lassen? Einfach so? Ohne Gäste, ohne Anlass? Mit Nori und Maki und California Rolls und Papa und Josef und Flora? Und wie wir dann weitergeheult haben, weil der Meerrettich so scharf war? War das herrlich. Du hast gestrahlt und wir haben geschlemmt. Genüsslich, sagtest du.
Wie lange und genüsslich konnten wir zusammen am Tisch sitzen und essen. Dein Lieblingsessen waren vietnamesische Frühlingsrollen. Du nanntest sie Löllchen. Ähnlich den in Fett ausgebackenen chinesischen – aber roh. Rohe Gemüse, in schlabbriges, feuchtes Reispapier kunstvoll eingewickelt, dann in ein gewisses dünnes, scharfes Koriandersößchen getaucht und dann abgebissen. Man könnte genauso gut Wasser essen, sagt Josef. Deshalb nannten wir das Ganze auch Weight Watchers Festtagsessen. Dein hungriger Bruder verglich deine Flühlingslöllchen mit des Kaisers neuen Kleidern. Viel Lärm um nichts! Jedenfalls nichts zum Magen anfüllen, nichts für Männer.
Aber dasi s tja gerade das Schöne. Man kann stundenlang füllen und rollen und falten und essen, ohne satt zu werden. Der Weg ist das Ziel. Quasi.
War das schön. Ich vermisse dich, mein Töchterchen. Ich vermisse es, mit dir zu essen. Am allermeisten vermisse ich es, genüsslich mit dir zu essen.
Vier Jahre sind jetzt vergangen, seitdem uns der Arzt mit der Gumminase die Diagnose überbracht hat. Vier Jahre, nachdem ich im Krankenhauspark am Abend des 23. Oktober mit meiner besten Freundin auf einer Parkbank eine Flasche Champagner getrunken habe. Um was zu feiern? Ach ja, meinen 40. Geburtstag. Und dass Pauline die etwas weniger schlimme Leukämie, die mit der guten Prognose, hatte. Die Haare sind jetzt fast länger als vor der Chemotherapie, seidig und glänzend locken sie sich wieder bis zum Po.
Jetzt hat sie’s geschafft, die fünf Jahre sind bald um, brüllt die Hoffnung begeistert.
Schau, wie blass sie ist, flüstert leise die Angst.
Ach komm, wer ist im Herbst nicht blass. Außerdem hat die Schule wieder angefangen, das frühe Aufstehen, klar, dass man da blass ist. Dann schau dir eben diesen blauen Fleck da an.
Na und? Sie hat doch gestern mit dem Josef gerauft.
Und was ist mit den drei kleinen Pünktchen da am Hals, flüstert die Angst.
Scheiße, verzieh dich, du hörst die Flöhe husten, immer, immer.
Sie kann den Flickflack nicht mehr, bellt die Angst mit schneidender Stimme, und gestern musste sie vom Turnen abgeholt werden, weil sie plötzlich so schlapp war.
Aber wir waren doch gerade erst in der Klinik, die Werte waren doch o.k., sagt die Hoffnung kleinlaut.
Na und, schreit die Angst, schau sie dir doch an, alles ist genau wie beim ersten Mal.