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Neuntes Capitel

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So war die erste Hälfte des Monats Mai vorübergegangen, es kamen die ersten heißen Sommertage – Nachdem Neshdanow seine Geschichtsstunde gegeben, begab er sich in den Garten und ging dann in das Birkenwäldchen hinüber, welches an der einen Seite an den Garten stieß. Einen Theil dieses Wäldchens hatten die Kaufleute vor ungefähr fünfzehn Jahren ausgeholzt; jetzt schossen überall junge Birkenstämme an den lichten Stellen empor. Wie kleine, von mattem Silberglanz zart angehauchte, mit grauen Ringen geschmückte Säulen erhoben sich die dicht aneinandergedrängten Bäumchen; in freudiger Gemeinschaft grünten und glänzten die feinen Blätter, als hätte sie Jemand gewaschen und mit Lack überzogen; durch die gleichförmig dicke Schicht der am Boden liegenden gelbrothen Herbstblätter brachen die Halme der Frühlingsgräser wie spitze Zünglein hindurch. Der ganze Hain war von schmalen Fußwegen durchschnitten. Einen scharfen durchdringenden Ton hervorstoßend, flogen ununterbrochen schwarze Misteldrosseln dicht an der Erde über diese Wege hin, als wenn sie Jemand aufgescheucht hätte, – und stürzten kopfüber in’s Dickicht. Nachdem er vielleicht eine halbe Stunde im Walde sich ergangen, setzte sich Neshdanow auf einen Baumstumpf, um den noch graue Holzspähne herumlagen: wie sie einst unter dem Schlag der Axt gefallen waren, so umgaben sie noch jetzt in Haufen zerstreut den Baumstumpf. Oft war der Winterschnee über sie gefallen – und war im Frühling wieder hinweggeschmolzen, und Niemand hatte an ihnen gerührt. Neshdanow saß im tiefen, aber kurzen Schatten einer Wand von jungen Birken; er dachte an Nichts, gab sich aber voll und ganz jener eigenthümlichen Frühlingsempfindung hin, welche bei Jung und Alt mit einer gewissen Wehmuth verbunden ist mit der Wehmuth gespannter Ermattung – bei der Jugend, mit der stillen Wehmuth der Trauer – beim Alter . . .

Neshdanow vernahm plötzlich ein Geräusch wie von herannahenden Schritten.

Es waren nicht eines Menschen Schritte – es war auch kein Bauer in Bastschuhen oder ein barfüßiges Weib. Es schienen zwei Menschen langsamen, gleichmäßigen Schrittes nebeneinander herzugehen . . . Er glaubte ein Frauenkleid rauschen zu hören. . .

Da drang plötzlich der Ton einer dumpfen Männerstimme an sein Ohr.

– Es ist Ihr letztes Wort? Niemals?

– Niemals! – wiederholte eine Neshdanow bekannt klingende Frauenstimme – und gleich darauf bog um die Ecke des Weges, der hier einen Winkel bildete – Marianne in Begleitung eines Menschen mit schwarzen Augen und brauner Gesichtsfarbe, den er noch nie gesehen hatte.

Wie erstarrt blieben sie stehen, als sie Neshdanow gewahr wurden; – dieser aber war so bestürzt, daß er sich nicht einmal von dem Baumstumpf, auf welchem er saß, zu erheben vermochte . . . Marianne erröthete über das ganze Gesicht – verzog jedoch sogleich die Lippen zu einem verachtungsvollen Lächeln . . . Auf wen bezog sich dieses Lächeln – auf sie selbst, weil sie erröthet – oder auf Neshdanow? . . . Ihr Begleiter aber runzelte die dichten Brauen – und warf Neshdanow aus dem gelblichen Weiß der unstäten Augen einen ergrimmten Blick zu. Dann schaute er zu Marianne auf – worauf sich Beide, Neshdanow den Rücken kehrend, ohne ihre Schritte zu beschleunigen, schweigend entfernten, während ihnen Dieser noch immer mit denselben verwunderten Augen nachblickte.

Als Neshdanow eine halbe Stunde darauf nach Hause zurückkehrte, begab er sich auf sein Zimmer, – und als er nun, durch das Gong gerufen, in’s Wohnzimmer trat, erblickte er daselbst den schwarzäugigen Unbekannten, auf den er im Birkenhain gestoßen war. Ssipjagin führte Neshdanow zu ihm und stellte den Fremden – Ssergei Michailowitsch Markelow – als seinen beau-frère, einen Bruder von Valentine Michailowna vor.

– Bitte einander in Freundschaft und Liebe gewogen zu sein, meine Herren! – sagte Ssipjagin mit dem ihm eigenen majestätisch-freundlichen und doch zugleich zerstreuten Lächeln.

Markelow verneigte sich schweigend, Neshdanow gleichfalls . . . Ssipjagin aber trat, den kleinen Kopf zurückwerfend und mit den Schultern zuckend, bei Seite, als wollte er sagen: – »ich habe Euch zusammengebracht, ob Ihr einander aber wirklich in Liebe und Freundschaft zugethan sein werdet, das ist mir ziemlich gleich!«

Darauf näherte sich Valentine Michailowna dem noch immer regunglos dastehenden Paare, stellte sie von Neuem einander vor – und begann nun mit einem besonders freundlichen und hellen Blick in den wunderbaren Augen, die gleichsam auf Befehl zu leuchten verstanden, mit dem Bruder zu sprechen.

– Du scheinst uns ja ganz vergessen zu haben, eher cher Serge! Sogar Kolja’s Namenstag hast Du vorübergehen lassen, ohne zu uns zu kommen. Oder bist Du so beschäftigt? – Er führt da irgend ein neues System ein, – wandte sie sich zu Neshdanow, – ein höchst originelles System: seine Bauern erhalten von Allein drei Viertel, er selbst – nur ein Viertel; er findet aber, daß er auch so noch zu viel bekommt.

– Die Schwester liebt zu scherzen – wandte sich seinerseits Markelow zu Neshdanow: – aber ich könnte ihr beistimmen; es ist in der That viel, wenn ein Mensch ein Viertel von dem erhält, was hundert Menschen angehört.

– Sie aber, Alexei Dmitrijewitsch, haben Sie auch bemerkt, daß ich zu scherzen liebe? – fragte Valentine Michailowna mit derselben freundlichen Milde in Blick und Stimme.

Neshdanow wußte nicht, was er ihr antworten solle – da meldete man die Ankunft Kallomeyzew’s. Frau Ssipjagin ging ihm entgegen; – bald darauf erschien der Kammerdiener und kündigte mit singender Stimme an, daß das Essen bereit sei.

Während desselben mußte Neshdanow unwillkürlich immer wieder Marianne und Markelow anblicken. – Sie saßen nebeneinander, Beide mit zu Boden gesenkten Augen, mit zusammengepreßten Lippen, mit finsterem und ernstem, fast bösem Ausdruck im Antlitz. Neshdanow nahm namentlich das Eine Wunder: wie konnte Markelow der Bruder Frau Ssipjagin’s sein? – so wenig waren sie einander ähnlich. – Beide hatten vielleicht dieselbe dunkle Gesichtsfarbe; aber der zartbräunliche matte Ton der Arme, der Schultern, des Antlitzes von Valentine Michailowna bildete eben das Bezaubernde an ihrer Erscheinung . . . bei dem Bruder hingegen ging Alles in jenes Schwarz über, das höfliche Leute bronzefarben zu nennen lieben, welches aber das russische Auge an – einen Stiefelschaft erinnert. Markelow hatte krauses Haar, eine etwas gebogene Nase, dicke Lippen, eingefallene Wangen, einen eingedrückten Leib und sehnige Hände. Er war überhaupt sehnig und hager – und sprach mit metallischer, scharfer, durchdringender Stimme. Sein Blick war trübe, beinahe schläfrig – sein Aussehen finster, ein echter Griesgram!

Er aß nur wenig, und spielte statt dessen mit Brodkügelchen, die er auf dem Tische hin- und herrollte, indem er von Zeit zu Zeit einen flüchtigen Blick auf Kallomeyzew warf. Dieser war eben aus der Stadt gekommen, wo er bei dem Gouverneur gewesen – in einer für ihn, Kallomeyzew, nicht angenehmen Sache, was er jedoch sorgsam verschwieg.

Ssipjagin stieß ihn wie gewöhnlich vor den Kopf, wenn er zu weit ging, lachte jedoch von ganzem Herzen über seine Anekdoten und seine bon-mots, obgleich er fand – »pu’il est un affreux réaetionnairae.« Kallomeyzew behauptete unter Anderem, daß er in Entzücken gerathen sei über den Namen, den die russischen Bauern – oui, oui! les simples mougiks – den Advokaten gegeben. »Kläffer! Kläffer!« – wiederholte er mit Wonne: – ce people russe est délicieux! – Darauf erzählte er, wie er einst den Schülern einer Volksschule die Frage vorgelegt, was ein Struthiocamelus sei. – Und als Niemand diese Frage – zu beantworten verstand, nicht einmal der Lehrer, habe er eine zweite Frage an sie gerichtet: was ist ein Pithocium? – und zugleich auch einen Vers aus Chemnitzer citirt: »Pithecium, schwach an Geist, der Thiere Sein nachahmend!« – Aber auch jetzt vermochte ihm Niemand zu antworten. – Da haben Sie die Volksschule!

– Aber erlauben Sie, – bemerkte Valentine Michailowna, – ich weiß eben so wenig, was das für Thiere sind.

– Gnädige Frau! – rief Kallomeyzew aus, – Sie brauchen es auch nicht zu wissen.

– Weshalb braucht es denn das Volk zu wissen?

– Deshalb, weil es besser ist zu wissen, was ein Struthiocamelus und ein Pithecium ist, als mit irgend einem Proudhon oder gar Adam Smith bekannt zu sein!

Hier mischte sich Ssipjagin ein und bedeutete Kallomeyzew, daß Adam Smith einer von den Bannerträgern des menschlichen Denkens sei und daß es nur nützen könne, wenn man seine Prinzipien . . . – er goß sich Château d’Yquem in’s Glas – . . . mit der Muttermilch . . . – er führte das Glas an die Nase und zog die Blume des Weines ein – . . . einsaugen würde! – Er leerte sein Glas. Kallomeyzew folgte seinem Beispiel und lobte den Wein.

Markelow schien aus die Auslassungen des Petersburger Kammerjunkers nur wenig zu achten, warf jedoch zwei Mal einen fragenden Blick auf Neshdanow, wobei er das Brodkügelchen spielend von sich fortschleuderte, so daß es dem beredten Gaste fast an die Nase geflogen wäre . . .

Ssipjagin ließ seinen Schwager gewähren; Valentine Michailowna unterließ es gleichfalls, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen; – man sah es ihnen an, daß Beide gewohnt waren, Markelow für einen Sonderling zu halten, den man unbehelligt lassen müsse.

Nach dem Mittagessen begab sich Markelow in’s Billardzimmer, um dort seine Pfeife zu rauchen, Neshdanow aber zog sich in sein Zimmer zurück. – Im Korridor stieß er aus Marianne. Er wollte vorüber-gehen . . . durch eine rasche Handbewegung Mariannen’s aufgehalten, blieb er stehen.

– Herr Neshdanow, – begann sie mit nicht ganz fester Stimme. – es müßte mir eigentlich vollkommen gleichgültig sein, wie Sie von mir denken; ich meine jedoch . . . ich meine – sie konnte das Wort nicht finden – ich halte es für nothwendig, Ihnen zu sagen, daß, als Sie mich heute im Birkenhain mit Herrn Markelow erblickten . . . Sagen Sie, – Sie haben gewiß gedacht: weshalb waren sie so verwirrt und warum sind sie hierhergekommen – wie zu einem Stelldichein?

– Es kam mir in der That etwas wunderbar vor. . . wollte Neshdanow erwidern.

– Herr Markelow, – unterbrach ihn Marianne – hat mir einen Antrag gemacht; – und ich habe ihn ausgeschlagen. Das ist Alles, was ich Ihnen zu sagen hatte, und nun – leben Sie wohl und denken Sie von mir, wie Sie wollen.

Sie wandte ihm schroff den Rücken und eilte hastigen Schrittes von dannen.

Als er sein Zimmer betreten, setzte sich Neshdanow nachdenklich an das Fenster.

– Ein wunderliches Mädchen! – Und was soll dieser bizarre Einfall, diese unerbetene Aufrichtigkeit bedeuten? Was ist das? – Originalitätssucht – oder einfach Schönthuerei – oder Stolz? . . . Stolz – das wird wohl am richtigsten sein. Sie kann nicht die Spur eines Verdachts ertragen. . . Der Gedanke, daß man sie falsch beurtheilen könnte, läßt ihr keine Ruhe.

– Wunderliches Mädchen!

Während ihn diese Gedanken beschäftigten, hörte er, wie unten auf der Terrasse von ihm gesprochen wurde.

– Es spürt meine Nase – suchte Kallomeyzew Frau Ssipjagin zu überzeugen, – es spürt meine Nase, daß er zu – zu den Rothen gehört. In der Zeit, da ich noch – avec Ladislas – Beamter für besondere Aufträge beim General-Gouverneur von Moskau war, habe ich diese Herren – die Rothen – und auch die Raskolniks aufzuspüren gelernt. Es leitete mich mein Instinkt! – Und nun erzählte Kallomeyzew, wie er einst in der Umgegend von Moskau einen greisen Raskolnik, in dessen Hütte er mit der Polizei eingedrungen war, am Stiefelabsatz gepackt und festgehalten habe: »er wäre mir fast durch’s Fenster entsprungen . . . Und so ruhig hatte er, der Taugenichts, bis zu jenem Moment auf der Bank gesessen!«

Kallomeyzew vergaß aber hinzuzufügen, daß derselbe greise Raskolnik im Gefängniß jede Nahrung von sich gewiesen hatte – und Hungers gestorben war.

– Ihr neuer Lehrer, – fuhr der eifrige Kammerjunker fort – ist unbedingt ein Rother! Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß er niemals zuerst grüßt?

– Weshalb soll er denn auch zuerst grüßen? – bemerkte Frau Ssipjagin, – das gefällt mir gerade an ihm.

– Ich bin der Gast des Hauses, in welchem er dient – rief Kallomeyzew aus, – ja, ja, in welchem er dient, für Geld, comme un salarié . . . Ich stehe folglich über ihm. – Und daher muß er mich zuerst begrüßen.

– Sie fordern zu viel, mein liebenswürdiger Freund, – fiel Ssipjagin ein; – das riecht, – entschuldigen Sie – nach dem vorigen Jahrhundert. Ich habe nur seine Arbeit gekauft, er selbst ist ein freier Mensch geblieben.

– Die Zügel fühlt er nicht, – fuhr Kallomeyzew fort – die Zügel: le frein! So sind sie Alle – diese Rothen. Ich sage Ihnen – ich habe eine feine Nase! – Es könnte sich nur Ladislas in dieser Beziehung mit mir messen! – Wenn er nur mir in die Hände gerathen wäre, dieser Lehrer – ich würde ihn schon zappeln lassen! So würde ich ihn zappeln lassen! Einen anderen Ton würde er bei mir anschlagen; – und den Hut abnehmen würde er vor mir . . . eine wahre Pracht!

– Du Lump, Prahlhans! – wäre es Neshdanow beinahe entfahren . . . da that sich aber die Thür seines Zimmers auf und es trat – zu seiner nicht geringen Verwunderung – Markelow herein.

Neu-Land

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