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Sechstes Capitel

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– Entschuldigen Sie, Valentine Michailowna, sagte sie näher tretend, – ich war beschäftigt.

– Kallomeyzew begrüßend, setzte sie sich auf einen kleinen Sessel neben dem Papagei, welcher bei ihrem Anblick mit den Flügeln zu schlagen begann und ihr entgegen strebte.

– Warum hast Du Dich denn so weit von uns weggesetzt, Marianne, bemerkte Valentine Michailowna, die ihr mit den Augen gefolgt war. – Du willst wohl in der Nähe Deines kleinen Freundes sein? Stellen Sie sich vor, Ssemen Petrowitsch, – wandte sie sich zu Kallomeyzew, – dieser kleine Papagei ist in unsere Marianne förmlich verliebt. . . .

– Das wundert mich nicht!

– Mich aber kann er nicht leiden.

– Das wundert mich viel mehr!i Sie necken ihn wahrscheinlich.

– Niemals, im Gegentheil, ich füttere ihn mit Zucker. Er nimmt aber nichts aus meiner Hand. Nein . . . das ist Sympathie . . . und Antipathie. . .

Marianne warf einen Blick hinüber auf Valentine Michailowna . . . Diese desgleichen auf Marianne.

Beide Frauen liebten einander nicht.

Im Vergleich zu ihrer Tante erschien Marianne fast häßlich. Ihr Gesicht war rund, die Nase groß und adlerartig gebogen, die grauen Augen waren ebenfalls groß und sehr hell, die Brauen und Lippen fein geschnitten. Sie pflegte sich das braune, dichte Haar scheeren zu lassen, und etwas Scheues lag in ihrem Blick. Aber etwas Starkes und Kühnes, Leidenschaftliches und Ungestümes sprach aus ihrem ganzen Wesen. Ihre Hände und Füße waren überaus klein; der feste und geschmeidige kleine Körper erinnerte an die Florentiner Figuren aus dem XVI. Jahrhundert; ihre Bewegungen waren rasch und anmuthig.

Die Stellung Mariannen’s im Hause Ssipjagins war nicht leicht. Ihr Vater, ein kluger und gewandter Mann halb-polnischer Herkunft, hatte sich bis zum Range eines Generals heraufgedient, stürzte dann aber plötzlich, einer kolossalen Veruntreuung am Eigenthum des Staats überwiesen, von seiner Höhe herab; er kam unter Gericht . . . wurde verurtheilt, seines Ranges, seines Adels entkleidet, und nach Sibirien geschickt. Später wurde er begnadigt . . . er kehrte zurück, konnte aber nicht mehr emporkommen und starb in Armuth und Elend. Seine Frau, eine Schwester Ssipjagin’s, die Mutter Mariannen’s, ihres einzigen Kindes, hatte diesen Schlag, der ihren ganzen Wohlstand zertrümmerte, nicht ertragen können und war ihrem Manne bald nachgefolgt. Onkel Ssipjagin hatte Marianne darauf in sein Haus genommen. – Aber in dieser Abhängigkeit zu leben war ihr schrecklich; mit der ganzen Kraft einer unbeugsamen Seele rang sie nach Freiheit, und es entspann sich zwischen der Tante und ihr, ein nie ruhender, wenn auch verborgener Kampf. In den Augen Valentinen’s war sie eine die Existenz Gottes leugnende Nihilistin; Marianne ihrerseits aber haßte Valentine als ihre unvermeidliche, wenn auch unwillkürliche Feindin. Vor dem Onkel, wie überhaupt vor allen Menschen empfand sie eine gewisse Scheu. – Sie scheute sich eben vor ihnen, aber sie fürchtete sie nicht; eine solche Furcht lag nicht in ihrem Charakter.

– Antipathie!f – wiederholte Kallomeyzew, – ja, das ist ein seltsames Ding. Es ist zum Beispiel Allen bekannt, daß ich ein tief-religiöser Mensch bin, orthodox im wahren Sinne des Worts; aber den Pfaffenzopf – kann ich nie gleichgültig anblicken: da beginnt es in mir zu kochen, so zu kochen!

Die zusammengeballte Hand emporhebend, versuchte Kallomeyzew sogar zu veranschaulichen, wie es in ihm reiche.

– Es scheinen Sie überhaupt die Haare zu beunruhigen, Ssemen Petrowitsch, – bemerkte Marianne: – ich bin überzeugt, daß Sie es auch nicht gleichgültig ansehen können, wenn Jemand das Haar kurz geschoren hat, wie ich.

Valentine Michailowna hob die Brauen langsam empor und neigte den Kopf – voll Staunen gleichsam über die Ungenirtheit, mit welcher sich die modernen jungen Damen am Gespräch betheiligen, – Kallomeyzew aber lächelte nachsichtsvoll.

– Es ist mir natürlich unmöglich, Marianne Wikentjewna, – sagte er, – um die schönen Locken nicht zu sagen, die da gleich den Ihrigen unter der erbamungslosen Scheere fallen; aber ich habe keine Antipathie gegen kurze Haare; und jedenfalls könnte Ihr Beispiel mich . . . mich . . . konvertiren!

Kallomeyzew konnte das russische Wort nicht finden; französisch wollte er jedoch nach der Bemerkung der Hausfrau nicht mehr sprechen.

– Mariane trägt, Gott sei Danks noch keine Brille, – fiel Valentine Michailowna ein, – von Kragen und Manschetten hat sie sich auch noch nicht getrennt: – dafür beschäftigt sie sich freilich zu meinem Bedauern mit naturwissenschaftlichen Studien und interessirt sich auch für die Frauenfrage . . . Nicht wahr, Marianne?

Es war dies Alles in der Absicht gesagt, Marianne verlegen zu machen, aber diese ließ sich nicht einschüchtern.

– Ja, Taute, – antwortete sie, – ich lese Alles, was darüber geschrieben wird; ich gebe mir Mühe, in das Wesen dieser Frage einzudringen.

– Was doch die Jugend ausmacht! – wandte sich Frau Ssipjagin zu Kallomeyzew – wir Beide, wir beschäftigen uns schon nicht mehr damit – wie?

Kallomeyzew lächelte beifällig; man mußte die liebenswürdige Frau in ihrem heiteren Scherzspiel doch unterstützen.

– Marianne Wikentjewna, – begann er, – ist noch von jenem Idealismus erfüllt . . . von jener Romantik der Jugend . . . welche . . . mit der Zeit . . .

– Uebrigens verleumde ich mich selbst, – unterbrach ihn Valentine Michailowna: – diese Fragen interessiren mich auch. Ich bin noch nicht ganz alt geworden!

– Auch ich interessire mich dafür, – rief Kallomeyzew hastig aus; – ich würde nur verbieten, darüber zu sprechen!l

– Sie würden verbieten, darüber zu sprechen? – fragte Marianne.

– Ja! – Ich würde dem Publikum sagen: sich dafür zu interessiren gestatte ich . . . aber sprechen . . . ssst – t! – Er legte den Finger an die Lippen. – Jedenfalls würde ich verbieten – gedruckt darüber zu sprechen? – Unbedingt!

Valentine Michailowna begann zu lachen.

– Ei was? Wenn’s nach Ihnen ginge, müßte man wohl gar, um diese Frage zu lösen, eine Commission beim Ministerium niedersetzen?

– Nun, und selbst eine Commission, was ist denn dabei? – Sie denken, daß wir diese Frage schlechter lösen würden, als jene hungrigen Schnattergänse, die nicht weiter sehen, als die Nase reicht, und sich einbilden, daß sie . . . die genialsten Menschen der Welt sind? Wir würden Boris Andreitsch zum Präsidenten wählen . . .

Valentine Michailowna begann noch lauter zu lachen.

– Nehmen Sie sich in Acht; Boris Andreitsch ist zuweilen ein solcher Jakobiner . . .

– Jaco, Jaca, Jaco – schrie plötzlich der Papagei.

Frau Ssipjagin schwenkte das Taschentuch nach ihm.

– Störe doch nicht die klugen Leute in ihrer Unterhaltung! . . . Marianne, beruhige ihn.

Marianne kehrte sich nach dem Vogel um und begann seinen Hals, den er ihr willig entgegenstreckte, zu streicheln.

– Ja, – fuhr Frau Ssipjagin fort, – ich bin zuweilen selbst voll Staunen über Boris Andreitsch. Er hat etwas etwas . . . von einem Volkstribun an sich.

– C’est parce quil est orateur! – fiel Kallomeyzew mit Wärme auf französisch ein. – Ihr Mann besitzt die Gabe der Rede in einem Grade, wie Niemand, und dann ist er auch zu glänzen gewohnt . . . ses propres paroles le grisent . . . dazu kommt noch der Wunsch, populär zu werden . . . Er ist jetzt übrigens ein wenig erbittert, nicht wahr? Il boude? Eh?

Frau Ssipjagin richtete ihre Augen auf Marianne.

– Ich habe nichts bemerkt, – antwortete sie nach einer kleinen Pause.

– Ja, – fuhr Kallomeyzew nachdenklich fort, – er ist zu Ostern übergangen worden . . .

Valentine Michailowna wies mit ihrem Blick wieder auf Marianne.

Lächelnd blinzelte Kallomeyzew mit den Augen: – »ich verstehe.«

– Marianne Wikentjewna! – rief er plötzlich ohne äußere Nothwendigkeit recht laut uns: – werden Sie in diesem Jahre wieder in der Volksschule Unterricht ertheilen?

Marianne wandte sich vom Vogel ab.

– Und auch Dieses interessirt Sie, Ssemen Petrowitsch?

– Natürlich; es interessirt mich sogar sehr.

– Dieses würden Sie wohl nicht verbieten?

– Den Nihilisten würde ich sogar verbieten, an die Schulen zu denken; aber unter Leitung und Beaufsichtigung der Geistlichkeit würde ich selbst Schulen in’s Leben rufen.

– So! Ich weiß noch gar nicht, was ich in diesem Jahr thun werde. – Im vorigen Jahr ging Alles so schlecht. – Und was ist denn das im Sommer auch für ein Unterricht!

Wenn Marianne sprach, pflegte sie allmählich zu erröthen, als falle ihr das Sprechen schwer, und als müsse sie sich zwingen, ihre Rede fortzusetzen. Es steckte noch viel Eigenliebe in ihr.

– Du bist noch ungenügend vorbereitet? – fragte mit ironisch vibrirender Stimme Frau Ssipjagin.

– Vielleicht.

– Wie! – rief Kallomeyzew von Neuem aus. – Was höre ich!! O Götter! Um Bauernmädchen das Abc zu lehren, bedarf es der Vorbereitung!

In diesem Augenblick kam Kolja mit dem Ausruf:– »Mama! Mama! Papa kommt!« gelaufen —, hinter ihm trat, auf ihren kleinen, dicken Füßen schwerfällig einherhumpelnd, eine greise Dame in einer Haube und mit einem gelben Shawl in’s Zimmer – und meldete gleichfalls, daß Borinka ankomme.

Diese Dame war Anna Sacharowna, eine Tante Ssipjagins. – Alle Anwesenden sprangen von ihren Plätzen auf, begaben sich eiligst in’s Vorzimmer und stiegen dann die Treppe auf den Flur vor dem Hause hinab. Eine lange Allee beschnittener Tannenbäume führte vom großen Wege gerade zu diesem Flur; in der Allee rollte die von vier Pferden gezogene Kalesche bereits daher. – Valentine Michailowna schwenkte in erster Reihe stehend ihr Taschentuch, Kolja schrie laut jauchzend auf; mit geschickter Hand brachte der Kutscher die erhitzten Pferde plötzlich zum Stehen, der Diener flog pfeilschnell vom Bock herab und hätte beinahe die Thür der Kalesche sammt Hängen und Verschluß herausgerissen – und nun stieg Boris Andreitsch mit herablassendem Lächeln auf den Lippen, in den Augen, auf dem ganzen Gesicht, mit einer gewandten Bewegung der Schultern den Mantel abwerfend, aus der Kalesche. Rasch und anmuthsvoll umarmte Valentine Michailowna ihren Mann, worauf sich Beide drei Mal küßten. Kolja trampelte mit den Füßen und zupfte den Vater hinten am Rock . . . Dieser küßte jedoch zuerst, nachdem er die höchst unbequeme und formlose schottische Reisemütze vom Kopfe genommen, die Tante Anna Sacharowna, begrüßte darauf Marianne und Kallomeyzew, die gleichfalls auf den Flur hinausgetreten waren – Kallomeyzew in englischer Weise – shakehands – mit einem »Schwung« der Hand, als ob er die Glocke läute – und wandte sich dann erst zu seinem Sohn, den er emporhob und an seine Lippen zog.

Während dies Alles vor sich ging, war Neshdanow ganz still, als wäre er sich einer Schuld bewußt, aus der Kalesche herausgekrochen und, ohne die Mütze abzunehmen, neben den Vorderrädern der Kalesche mit halb zu Boden gesenktem finsterem Blick stehen geblieben. . . Während Valentine Michailowna ihren Mann umarmte, hatte sie auf diese neue Gestalt über die Schulter des Mannes hinweg einen scharfen Blick geworfen; – Ssipjagin hatte es angekündigt, daß er einen Lehrer mitbringen werde.

Nach der ersten Begrüßung des neu angekommenen Hausherrn begab sich die ganze Gesellschaft über die Treppe, auf welcher sich die Haupt-Diener und Dienerinnen zu beiden Seiten postirt hatten, nach oben. Diese unterließen es, sich ihrem Herrn zu nähern, um seine Hand zu küssen – diese »asiatische« Sitte war längst abgeschafft – sie verneigten sich blos mit Ehrerbietung; und auch Ssipjagin beantwortete ihren Gruß – mehr durch ein Zucken der Brauen und der Nase, als durch eine Bewegung des Kopfes.

Neshdanow schritt gleichfalls die breite Treppe langsam hinan. Er war kaum in’s Vorzimmer getreten, als ihn Ssipjagin, der sich bereits nach ihm umgesehen hatte, auch sogleich seiner Frau, Anna Sacharowna und Mariannen vorstellte, zu Kolja aber sagte er: »Das ist Dein Lehrer, dem Du gehorchen mußt! Reich ihm die Hand!«

– Kolja reichte Neshdanow schüchtern die Hand und hob dann das Auge zu ihm empor, da er aber, wie es schien, nichts Besonderes oder Anziehendes an ihm entdeckte, klammerte er sich wieder an seinen Vater. – Neshdanow fühlte sich höchst ungemüthlich, ganz so, wie damals im Theater. Er steckte in einem alten, ziemlich unansehnlichen Paletot, Gesicht und Hände waren mit Staub überzogen. – Valentine Michailowna hatte ihm irgend eine Liebenswürdigkeit gesagt; er hatte ihre Worte jedoch nicht recht gehört und hatte ihr auch nicht geantwortet, sondern nur bemerkt, daß sie auf ihren Mann mit besonders klaren und freundlichen Augen sah und sich an ihn schmiegte – Bei Kolja mißfiel ihm das frisirte glänzende Haar, als er Kallomeyzew erblickte, dachte er: »Diese abgeleckte Physiognomie!« – Die andern Personen aber ließ er ganz unbeachtet. Ssipjagin blickte zwei Mal, gleichsam seine Penaten musternd, würdevoll im Zimmer umher, wobei sein lang zugespitzter Backenbart und der kleine, etwas flache Hinterkopf besonders scharf hervortraten. – Darauf rief er einem von den Dienern mit starker, voller, von der Reise durchaus nicht ermüdeter Stimme zu: »Iwan! geleite den Herrn Lehrer in’s grüne Zimmer und trage auch den Koffer des Herrn dahin« – sagte darauf zu Neshdanow, daß er sich jetzt ausruhen, einrichten und des Reisestaubes entledigen könne – gespeist werde in seinem Hause genau um fünf Uhr. Neshdanow verneigte sich und folgte Iwan in das »grüne,« im zweiten Stock befindliche Zimmer.

Die ganze Gesellschaft ging in’s Gastzimmer hinüber. Dort wurde die Begrüßung noch einmal wiederholt; es erschien auch eine greise, halbblinde Kinderwärterin, um ihren Herrn zu begrüßen. Dieser reichte Ssipjagin, aus Achtung vor ihrem Alter, die Hand zum Kusse und ging dann, nachdem er sich bei Kallomeyzew entschuldigt, von seiner Frau begleitet, in’s Schlafzimmer.

Neu-Land

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