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Viertes Capitel

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Kaum hatte Ssipjagin die Schwelle der Thür überschritten, so sprang Paklin vom Stuhl, auf dem er gesessen, auf und stürzte auf Neshdanow zu, um ihm zu gratuliren.

– Hast Du aber einen guten Fang gethan! – rief er kichernd und mit den Füßen trampelnd. – Weißt Du denn, wer das ist? – Der bekannte Ssipjagin, Kammerherr, gewissermaßen eine Stütze des Staats, ein zukünftiger Minister!

– Er ist mir gänzlich unbekannt, – entgegnete finster Neshdanow.

– Das ist eben unser Unglück, Alexei Dmitritsch, daß wir Niemand kennen! Wir wollen handeln, wollen eine ganze Welt von oberst zu unterst kehren – leben aber selbst abgeschlossen von dieser Welt, sehen Niemand, als nur die zwei oder drei Freunde, drehen uns auf einem Platze, im engen Kreise herum . . .

– Entschuldige, – unterbrach ihn Neshdanow: – das ist nicht wahr. Es sind nur unsere Feinde, mit denen wir nichts zu thun haben wollen; mit Leuten unseres Schlages aber, mit dem Volke, stehen wir in ununterbrochener Verbindung.

– Halt, halt, halt, halt! – unterbrach ihn seinerseits Paklin wieder. – Erstens: was die Freunde betrifft, – so erlaube, daß ich Dir ein Goethe’sches Wort in Erinnerung bringe:

Wer den Dichter will verstehen,

Muß in Dichters Lande gehen.


– ich aber sage:

Wer die Feinde will verstehen,

Muß in Feindes Lande gehen.


Seine Feinde meiden, ihre Sitten und Gebräuche nicht kennen zu lernen trachten – das ist unsinnig! – Un . . . sin. . . nig!. . . Ja! Ja! Wenn ich im Walde den Wolf schießen will, so muß ich alle seine Schlupflöcher kennen . . . Zweitens-: Du hast eben gesagt: man muß sich dem Volke nähern. . . Liebes Herz! Im Jahre 1862 gingen die Polen in die Wälder-; auch wir gehen setzt in einen Wald, d. h. unter das Volk, welches für uns nicht weniger dunkel und undurchdringlich ist, als jeder beliebige Wald!

– Was sollen wir also, wenns nach Dir ginge, thun?

– Die Indier weisen sich unter Dschagannath’s Wagen, – fuhr Paklin mit düsterer Miene fort: – der Wagen zerdrückt sie, und sie sterben – voll Glückseligkeit. Auch wir besitzen unseren Dschagannath. Uns zerdrücken – das thut er wohl auch! aber glückselig macht er uns doch nicht.

– Was sollen wir also thun? – wiederholte fast schreiend Neshdanow. Tendenziöse Romane schreiben, oder was?

Paklin breitete die Arme aus und neigte das Köpfchen auf die linke Schulter.

– — Romane – könntest Du jedenfalls schreiben, da eine dichterische Ader wohl in Dir zu spüren ist. . . Nun, ärgere Dich nicht, ich rede nicht mehr! Ich weiß, Du liebst es nicht, daß man darauf anspielt; aber ich bin ganz Deiner Meinung: dergleichen Stückchen mit »Füllniß« zu fabriziren – und noch mit neumodischen Wendungen dazu: – »Ach! ich liebe Sie! sprang sie herzu« . . . »Mir ist es gleich! kratzte er sich« – da ist wahrhaftig nichts Angenehmes dabei! – Daher wiederhole ich auch: sucht allen Ständen, vom höchsten Stand angefangen, näher zu kommen! Es geht doch nicht an, daß man sich immer nur auf Leute wie Ostrodumow verläßt! Es sind ehrliche, gute Menschen – aber dumm! Dumm!! Sieh’ Dir unseren Freund doch nur an. Selbst die Sohlen seiner Stiefel – auch die sind nicht so, wie sie bei vernünftigen Leuten zu sein pflegen! Weswegen ist er jetzt fortgegangen? – Er wollte mit einem Aristokraten nicht in einem Zimmer sein, nicht dieselbe Luft mit ihm, athmen!

– Ich muß Dich bitten, in meiner Gegenwart nicht mehr in solcher Weise von Ostrodumow zu sprechen, – fiel Neshdanow herausfordernd ein. – Stiefeln mit dicken Sohlen trägt er deshalb, weil sie billiger sind.

– Ich habe es ja gar nicht so gemeint, – wollte Paklin einwenden.

– Wenn er nicht mit einem Aristokraten in einem Zimmer bleiben will, – fuhr Neshdanow, die Stimme erhebend, fort, – so kann ich ihn dafür nur loben; – jedenfalls aber ist er sich aufzuopfern im Stande, – er würde sein Leben hingeben, wenn es nöthig wäre, was wir Beide niemals thun werden!

Paklin machte ein klägliches Gesicht und wies auf seine lahmen, dünnen Beinchen.

– Wie soll ich denn kämpfen, mein lieber Freund Alexei Dmitritsch! – Ich bitte Dich! Aber lassen wir das . . . Ich wiederhole: ich bin Deiner Annäherung an Ssipjagin herzlich froh – und sehe sogar voraus, daß diese Annäherung unserer Sache großen Nutzen bringen wird. Du dringst jetzt in die höchsten Kreise; Du wirst diese Löwinnen sehen, diese Frauen mit dem samtenen Körper auf Federn von Stahl, wie es in den »Briefen aus Spanien« heißt; studire sie, Freund, studire sie. Wenn Du ein Epikuräer wärst, würde ich für Dich sogar fürchten . . . wahrhaftig! – Das sind jedoch nicht die Ziele, die Dich bewegen als Lehrer fortzuziehen?

– Ich ziehe fort, – fiel Neshdanow ein, – weil ich nicht an den Hungerpfoten saugen will . . . »und um Euch Alle eine Zeit lang los zu sein« – fügte er in Gedanken hinzu.

– Nun natürlich, natürlich! – Daher sage ich Dir auch: studire sie! Was dieser Herr jedoch für einen Wohlgeruch um sich verbreitet hat!l – Paklin zog die Luft durch die Nase ein. Das ist der echte »ambre« von dem die Frau des Polizeimeisters im »Revidenten« mit so viel Schwärmerei gesprochen!

– Er hat den Fürsten G. wohl über mich ausgeforscht, – begann Neshdanow mit dumpfer Stimme, sich wieder zum Fenster wendend: – jetzt kennt er wahrscheinlich meine ganze Geschichte.

– Nicht wahrscheinlich, sondern ganz gewiß! – Was ist denn auch dabei? – Ich wette, daß er eben dadurch auf den Gedanken gekommen ist, Dich als Lehrer zu engagiren. Was Du da auch reden magst, Du bist doch selbst ein Aristokrat – dem Blute nach. – Nun und das heißt: Einer von den Unsern! Wie ich hier aber lange gesessen habe; es ist für mich Zeit in’s Comptoir zu gehen, mich ausnutzen zu lassen! – Auf Wiedersehen, Freund!

Paklin war schon an der Thür, hielt aber vor derselben an und ging wieder auf Neshdanow zu.

– Hör’, Alex, – sagte er mit einschmeichelndem Tone: – Du hast es mir eben abgeschlagen, ich weiß, Du wirst jetzt selbst bei Gelde sein – aber erlaube mir wenigstens eine Kleinigkeit für die allgemeine Sache zu opfern! – Sonst kann ich nichts thun – laß mich also meine Tasche öffnen. – Da sieh: ich lege zehn Rubel auf den Tisch! Nimmst Du sie an?

Neshdanow blieb stumm und rührte sich nicht.

– Stillschweigen – bedeutet beistimmen! Danke! – rief Paklin heiter aus und verschwand.

Neshdanow blieb allein. – Am Fenster stehend, fuhr er fort, auf den engen düsteren Hof, in welchen selbst die Strahlen der Sommersonne nicht zu dringen vermochten, hinauszublicken – und düster war auch sein Antlitz.

Neshdanow war, wie wir bereits wissen, der Sohn des Fürsten G., des überaus reichen Generals-Adjutanten – und der am Tage der Geburt gestorbenen Gouvernante seiner Töchter, eines hübschen Instituts-Zöglings. Den ersten Unterricht hatte er in der Pension eines Schweizers, eines thätigen und strengen Pädagogen erhalten – worauf er die Universität bezog. Er selbst hätte am liebsten Jura studirt, aber der General, sein Vater, der die Nihilisten auf’s Aeußerste haßte, schrieb ihn in die »Aesthetik,« wie sich Neshdanow mit bitterem Spott auszudrücken pflegte, d. h. in die historisch-philologische Facultät ein. Der Vater Neshdanow’s sah ihn vielleicht nur drei bis vier Mal im Jahr, nahm jedoch an seinem Schicksal lebhaften Antheil und vermachte ihm sterbend – »zum Andenken Nastenka’s« (seiner Mutter) – ein Kapital von 6000 Rubel, dessen Zinsen ihm von seinen Brüdern, den Fürsten G., unter dem Namen einer »Pension« ausbezahlt wurden. – Paklin hatte ihn nicht umsonst einen Aristokraten genannt; Alles an ihm gab von seiner Herkunft Zeugniß: die kleinen Ohren, Hände, Füße, die vielleicht zu wenig markirten, jedoch feinen Züge, die zarte Haut, das buschige Haar, selbst die leicht schnarrende, aber angenehme Stimme. Er war sehr nervös, sehr eigenliebig, empfänglich und sogar eigensinnig; die falsche Situation, in welche er schon als Kind gerathen war, hatte in ihm eine gewisse Empfindlichkeit und Reizbarkeit wachgerufen; aber die angeborene Großmuth ließ kein Mißtrauen und keinen Argwohn in ihm aufkommen. – Diese falsche Situation erklärte auch die Widersprüche, welche sich in seinem Wesen offenbarten. Ordnungsliebend bis in’s Kleinste, wählerisch bis zum Aeußersten, gab er sich doch Mühe, in Worten recht cynisch und derb zu sein; seiner Natur nach Idealist, leidenschaftlich und keusch, kühn und schüchtern zu gleicher Zeit, schämte er sich doch seiner Schüchternheit und seiner Keuschheit als eines schmachvollen Lasters, und hielt es für seine Pflicht, über die Ideale zu spotten. Er besaß ein mildes Herz und zog sich doch vor den Menschen zurück; er gerieth leicht in Zorn – und erinnerte sich nie des Bösen. Er zürnte seinem Vater, weil er ihn in die »Aesthetik« eingeschrieben; vor Aller Augen beschäftigte er sich mit politischen und sozialen Fragen, sprach die schroffsten Ansichten aus – sie waren bei ihm mehr als bloße Phrase! – und ergötzte sich insgeheim an der Kunst, der Poesie, der Schönheit in jeder Erscheinungsform . . . er dichtete sogar kleine Lieder . . . Er pflegte sorgfältig das Heft zu verbergen, in welchem er sie niedergeschrieben hatte – und von allen Petersburger Freunden ahnte nur Paklin, dem ihm eigenen Instinkt zufolge, die Existenz eines solchen Heftes. Nichts tränkte und erregte Neshdanow mehr, als eine selbst ganz unbedeutende Anspielung auf seine Dichterei, auf diese, wie er meinte, unverzeihliche Schwäche. Dank seinem Erzieher, dem Schweizer, kannte er viele Thatsachen und scheute weder Arbeit noch Mühe; er arbeitete sogar gern – freilich ein wenig fieberhaft und unregelmäßig. Seine Kameraden liebten ihn . . . es zog sie seine Wahrhaftigkeit, Güte und Reinheit an; aber es war kein glücklicher Stern, unter dem Neshdanow das Licht der Welt erblickt; sein Leben war nicht leicht. Er empfand das selbst aufs tiefste, und fühlte sich einsam, trotzdem, daß die Freunde so sehr an ihm hingen.

Er stand noch immer am Fenster, und dachte voll Ernst und Traurigkeit an die bevorstehende Fahrt, an den nun eingetretenen Wendepunkt in seinem Schicksal . . . Sich von Petersburg zu trennen, fiel ihm nicht schwer; er hinterließ dort nichts, was ihm theuer gewesen wäre; er wußte ja auch, daß er im Herbst zurückkehren würde. Und doch war er nachdenklich geworden: er empfand eine unwillkürliche Traurigkeit.

« »Was bin ich für ein Lehrer!« ging es ihm durch den Kopf; – »was für ein Pädagog?!« – Er hätte sich Vorwürfe darüber machen mögen, daß er die Pflichten eines Lehrers übernommen. Und doch wäre ein solcher Vorwurf ungerecht gewesen. – Neshdanows Kenntnisse waren durchaus genügend, – und ungeachtet seines ungleichen Wesens gingen die Kinder doch gern zu ihm – und auch er schloß sich leicht an sie an. Die Traurigkeit, deren sich Neshdanow nicht erwehren konnte, wurzelte in jenem Gefühl, welches jede Veränderung des Aufenthalts nach sich zieht, und welches allen Melancholikern, allen zum stillen Brüten geneigten Menschen eigen ist; heiteren Sanguinikern ist dies Gefühl unbekannt: sie freuen sich vielmehr darüber, wenn das alltägliche Leben unterbrochen wird, wenn sie aus der gewohnten Umgebung herauskommen. Neshdanow war so in Gedanken versunken, daß er fast unbewußt sein Denken in laute Worte zu kleiden begann; die in ihm gährenden Empfindungen gestalteten sich bereits zu regelrechten Tongebilden . . .

– Pfui Teufel! – schrie er plötzlich laut auf, – wie es scheint, bin ich nahe daran Verse zu machen! – Er fuhr auf und trat vom Fenster zurück, erblickte den auf dem Tisch liegenden Zehn-Rubelschein Paklin’s, steckte ihn in die Tasche und begann auf und ab zu gehen.

– Ich muß das Handgeld nehmen, – dachte er bei sich selbst . . . da dieser Herr es mir anbietet. – Hundert Rubel . . . und noch bei den Brüdern – den durchlauchtigsten – hundert Rubel . . . Fünfzig Rubel um Schulden zu bezahlen, fünfzig oder siebzig zur Reise das Uebrige an Ostrodumow. Und auch das, was Paklin gegeben – auch an Ostrodumow . . . Von Markelow muß man sich auch noch Einiges holen . . .

Während er diese Berechnungen im Kopfe anstellte – regten sich in ihm wieder die früheren Tongebilde. Nachdenklich hielt er plötzlich inne . . . und blieb wie erstarrt, die Augen zur Seite gerichtet, auf dem Platze stehen . . . Dann suchten seine Hände, gleichsam tastend die Schieblade des Tisches, zogen dieselbe heraus, holten aus der Tiefe ein stark beschriebenes Heft . . .

Er ließ sich auf einen Stuhl nieder, noch immer ohne die Richtung des Blickes zu ändern, ergriff die Feder und begann, still vor sich hinbrummend, das Haar zuweilen zurückwerfend, Zeile auf Zeile streichend und ändernd, niederzuschreiben . . .

Die Thür nach dem Vorzimmer that sich zur Hälfte auf – und es zeigte sich der Kopf Maschurinas. Neshdanow bemerkte es nicht und fuhr zu arbeiten fort., Maschurina schaute ihn lange mit scharfen Blicken an – dann trat sie kopfschüttelnd zurück . . . Aber Neshdanow richtete sich plötzlich empor, wandte sich um und schleuderte mit dem Ausruf: – Ah! Sie sind es! – das Heft in die Schieblade des Tisches zurück.

Da trat Maschurina festen Schrittes in’s Zimmer.

– Ostrodumow hat mich zu Ihnen geschickt, – sagte sie gedehnt, – um zu erfahren, wann man das Geld bekommen könne? – Wenn Sie es noch heute erhielten, würden wir schon heute Abend reisen.

– Heute geht es nicht, – entgegnete Neshdanow und runzelte die Brauen; – kommen Sie morgen.

– Um welche Zeit?!

– Gegen zwei Uhr Mittags.

– Gut.

Maschurina stand einen Augenblick still – und reichte dann Neshdanow plötzlich die Hand.

– Ich habe Sie wohl gestört; verzeihen Sie. Und dann . . . ich reise fort. Wer weiß, ob wir uns je wiedersehen werden? Ich wollte von Ihnen Abschied nehmen.

Neshdanow drückte ihre rothen, kalten Finger.

– Sie haben diesen Herrn bei mir gesehen? – begann er. – Wir haben uns geeinigt. Ich nehme bei ihm eine Stelle an. Sein Gut liegt im Gouvernement S., dicht neben der Stadt selbst.

– Ein freudiges Lächeln zeigte sich auf dem Antlitz Maschurinas.

– Neben S.! Dann werden wir uns ja doch vielleicht noch sehen. Vielleicht schickt man uns dahin. – Maschurina seufzte: Ach, Alexei Dmitritsch . . .

– Was? – fragte Neshdanow.

Maschurina war tiefernst geworden.

– Nichts! – Leben Sie wohl! Nichts.

Sie drückte Neshdanow noch ein Mal die Hand und verließ das Zimmer.

»In ganz Petersburg ist doch Niemand mir so zugethan wie dieser Sonderling!« dachte Neshdanow. »Aber wozu hat sie mich denn stören müssen . . . Uebrigens, Alles zum Besten!«

Am Morgen des folgenden Tages begab sich Neshdanow in die Stadtwohnung Ssipjagin’s, und dort, in dem prachtvollen Kabinet mit den streng stilvollen Möbeln, die der Würde des liberalen Staatsmannes und Gentlemans vollkommen entsprachen, vor einem riesigen Bureau sitzend, auf welchem in regelrechter Ordnung Papiere lagen, die Niemand brauchte und die auch zu nichts zu gebrauchen waren, und neben ihnen großmächtige elfenbeinerne Papiermesser, die niemals etwas aufgeschnitten – hörte er im Verlauf einer ganzen Stunde dem freiheitsliebenden Hausherrn zu, sog den Weihrauch seiner weisen, wohlgeneigten und herablassenden Reden ein und erhielt endlich hundert Rubel. Zehn Tage später aber brauste derselbe Neshdanow an der Seite desselben weisen, liberalen Staatsmannes und Gentlemans, halb ausgestreckt auf dem sammtenen Divan eines besonderen Coupes erster Klasse, auf den ausgefahrenen Geleisen der Nikolai-Bahn Moskau zu.

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