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Achtes Capitel

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Neshdanow erwachte sehr früh, kleidete sich rasch an, ohne den Diener abzuwarten, und stieg in den Garten hinab. Der Garten war groß und schön und wurde vortrefflich unterhalten. Gemiethete Arbeiter reinigten mit Schaufeln die Wege, von dem hellen Grün der Gewächse hoben sich die rothen Kopftücher der harkenden Bauernmädchen ab. Neshdanow war bis an den Teich gekommen: der Morgennebel hatte sich bereits verzogen, nur hie und da erhoben sich in den schattigen Uferbuchten noch dunstige Flocken. Die noch niedrig am Himmel stehende Sonne warf rosige Streiflichter auf die breite, seidige, bleifarbene Wasserfläche. Mehrere Zimmerleute machten sich an einem Floß zu schaffen; hier schaukelte auch ein neues, bunt gestrichenes Boot und theilte seine Bewegung dem sich kräuselnden Wasser mit. Nur selten vernahm man gleichsam verhaltene menschliche Stimmen: überall fühlte man sich von der Morgenstille und von dem rüstigen, steten Gange der Morgenarbeit, von der Ruhe und der Regelmäßigkeit geordneten Lebens angeweht. Und da stand nun Neshdanow plötzlich am Kreuzungsweg der Alleen der personifizirten Ordnung und Regelmäßigkeit selbst gegenüber – da stand Ssipjagin vor ihm.

Er war in einem erbsfarbenen Rock in Form eines Schlafrockes, in einer bunten Mütze und stützte sich auf ein englisches Bambusrohr; sein eben rasirtes Gesicht athmete zufriedene Selbstgenügsamkeit; er hatte sich aufgemacht, sein Gut zu besichtigen Ssipjagin begrüßte Neshdanow in freundlich höflicher Weise.

– Ah! – rief er aus; – ich sehe, Sie gehören zu den Jungen und Frühzeitigen! Er wollte mit dieser nicht ganz passenden sprichwörtlichen Redensart wahrscheinlich seine Billigung ausdrücken, daß Neshdanow, wie er selbst, sich früh aus dem Bette gemacht. – Wir trinken um acht Uhr Alle zusammen im Eßzimmer den Morgenthee und frühstücken dann um zwölf Uhr; um zehn Uhr werden Sie Kolja die erste Stunde in der russischen Sprache geben, um zwei Uhr aber – in der Geschichte. Morgen am 9. Mai ist sein Namenstag und die Stunden werden ausfallen; heute aber bitte ich den Unterricht zu beginnen!

Neshdanow neigte den Kopf – Ssipjagin aber verabschiedete sich von ihm nach französischer Art, indem er die Hand erhob und dieselbe mehrere Mal rasch an Lippen und Nase führte – und ging dann pfeifend und das Rohr keck schwingend weiter – nicht wie ein hochangesehener Beamter oder Staatsmann – sondern wie ein gutmüthiger russischer country-gentleman.

Bis acht Uhr blieb Neshdanow im Garten, sich im Schatten der alten Bäume an der Frische der Luft und am Gesang der Vögel erfreuend; dann rief ihn der kläglich gedehnte Laut des Gong in’s Haus zurück, wo im Eßzimmer bereits Alle versammelt waren. Valentine Michailowna war gegen ihn sehr freundlich; in ihrem Morgenkleide erschien sie ihm geradezu als ein bildschönes Weib. Das Antlitz Mariannen’s drückte die gewöhnliche in sich gekehrte Strenge aus. – Genau um zehn Uhr gab Neshdanow seine erste Stunde im Beisein von Valentine Michailowna: sie erkundigte sich zuerst, ob sie nicht vielleicht störe und verhielt sich die ganze Zeit über sehr bescheiden und zurückhaltend. Es erwies sich, daß Kolja ein sehr aufgeweckter Knabe war; nach dem ersten unvermeidlichen und unbehaglichen Umhertasten nahm die Stunde einen glücklichen Verlauf. Valentine Michailowna schien mit Neshdanow überaus zufrieden und begann sogar mehrmals mit ihm zu sprechen. – Er blieb steif . . . doch nicht allzusehr. Valentine Michailowna war auch bei der zweiten, der russischen Geschichts-Stunde zugegen. Lächelnd erklärte sie, daß sie in dieser Beziehung nicht weniger eines Lehrers bedürfe, als ihr Kolja – und verhielt sich ebenso zurückhaltend und bescheiden wie während der ersten Stunde. Von drei bis fünf Uhr saß Neshdanow in seinem Zimmer, schrieb an die Freunde in St. Petersburg, und fühlte sich ziemlich behaglich: die Langeweile war verschwunden, auch das Unbehagen; die erregten Nerven kamen allmählich zur Ruhe. Sie wurden während des Mittags von Neuem in Spannung versetzt, obgleich Kallomeyzew abwesend war und auch die freundlich entgegenkommende Haltung des Hausherrn unveränderlich dieselbe blieb; aber dies Entgegenkommen eben ärgerte Neshdanow. – Dazu kam noch, daß seine Nachbarin, das alte Fräulein Anna Sacharowna, ihm offenbar feindselig gesinnt war und ein böses Gesicht machte; Marianne aber von ihrem Ernst nicht lassen wollte, und daß selbst Kolja ihn schon etwas ungenirt mit den Füßen stieß. Ssipjagin schien auch nicht recht bei Laune zu sein. Er war mit dem Leiter seiner Papierfabrik unzufrieden, einem Deutschen, den er für schweres Geld engagirt hatte. Er begann auf alle Deutschen überhaupt zu schmähen, erklärte, daß er bis zu einem gewissen Grade Slavophile sei, wenn auch kein Fanatiker, wies auf einen jungen Russen, einen gewissen Ssolomin hin, der, wie es hieß, der Fabrik eines benachbarten Kaufmanns in ausgezeichneter Weise vorstehen solle und äußerte den Wunsch, die Bekanntschaft dieses Ssolomin zu machen. Am Abend erschien Kallomeyzew, dessen Gut nur zehn Werst von »Arshanoje« – so hieß Ssipjagins Dorf – entfernt war. Dann erschien noch ein Friedens-Vermittler, einer von jenen Gutsbesitzern, die Lermontow in zwei bekannten Versen treffend charakterisirt hat:

Im Halstuch verborgen, im Frack ellenlang . .

Mit Schnauzbart, Diskantstimm’ und unsicherem Blick . . .


Es kam noch ein anderer Nachbar mit gedrücktem Ausdruck in dem zahnlosen Gesicht, der jedoch sehr gut gekleidet war; endlich auch der Kreisarzt, ein sehr schlechter Arzt, der aber mit gelehrten Ausdrücken um sich zu werfen liebte: er versicherte zum Beispiel, daß er Kukolnik – Puschkin vorziehe, weil in Kukolnik viel »Protoplasma« anhalten sei. Man setzte sich an den Kartentisch – Neshdanow begab sich auf sein Zimmer – und las und schrieb bis lange nach Mitternacht.

Am folgenden Tages, am 9. Mai, wurde Kolja’s Namenstag gefeiert. Die »Herrschaft« begab sich mit dem ganzen Hausstand in drei offenen Kaleschen mit Dienern hinten auf dem Tritt zur Messe in die Kirche, obgleich es nur ein viertel Werst bis dahin war. Alles ging höchst prächtig und feierlich zu. Ssipjagin hatte sich ein Ordensband umgelegt, Valentine Michailowna ein wunderschönes, in Paris verfertigtes Kleid von der Farbe blaß-blauer Syringen angezogen. Während der Messe las sie aus einem in karmoisin-rothen Sammet gebundenen Gebetbüchlein; durch dieses Büchlein lenkte sie den Unwillen der älteren Besucher der Kirche auf sich, so daß Einer unter denselben sich nicht enthalten konnte, seinen Nachbar zu fragen: »Was thut sie denn da, verzeih’ mir Gott die Sünde, hext sie, oder was?« – Der die Kirche erfüllende Blumenduft vermischte sich mit dem scharfen Geruch der neuen, geschwefelten Kittel, der getheerten Stiefel und Schuhe, und über allen diesen Dünsten schwebte noch der beklemmende Duft des Weihrauchs. Küster und Meßner sangen beide mit besonderem Eifer. Unter Beihilfe der Fabrikarbeiter, die sich zu ihnen gesellt, ließen sie es sich sogar entfallen, ein förmliches Concert zu geben! Es kam ein Augenblick, wo es allen Anwesenden . . . ganz bang zu Muthe wurde. Der Tenor, ein Fabrikarbeiter Namens Klim, der sich bereits im höchsten Stadium der Schwindsucht befand, begann plötzlich ganz allein, ohne jede Unterstützung, allerlei musikalische Figuren in Dur und Moll und auch in chromatischer Folge auszuführen – sie waren schrecklich, diese Töne – wenn ihm die Stimme versagt hätte, wäre es gleich mit dem ganzen Concert zu Ende gewesen. . . Aber die Sache lief doch noch . . . so ziemlich ab. Vater Cyprian, ein Priester von höchst würdevollem Aussehen, mit Nabédrennik3 und Kamiláwka,4 aus einem Heft eine sehr erbauliche Predigt ab; leider hatte der eifrige Geistliche es jedoch für nöthig gehalten, einige ganz wunderliche Namen assyrischer Könige anzuführen, deren Aussprache ihm große Schwierigkeiten bereitete und ihn – obgleich er dabei eine gewisse Gelehrsamkeit allerdings entwickelte – weidlich schwitzen machte! Neshdanow, der schon lange in keiner Kirche gewesen, hatte sich in eine Ecke zu den Weibern zurückgezogen. Diese schienen ihn, sich eifrig bekreuzend, tief verneigend und den Kleinen ehrbar die Nase abwischend, kaum zu beachten, dafür aber schauten die Bauermädchen in ihren neuen Kleidern, mit den Perlenschnüren um die Stirn und die Bauernknaben in ihren Hemden mit den verzierten Schulterstücken und rothen Achselzwickeln den neuen Kirchengänger um so neugieriger an – . . . Auch Neshdanow sah sie an – und allerlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf-

Nach dem Gottesdienste, der sehr lange dauerte – der Gottesdienst am Tage des heiligen Nikolaus des Wunderthäters ist bekanntlich einer der längsten der orthodoxen Kirche – begab sich die ganze Geistlichkeit, von Ssipjagin aufgefordert, in das herrschaftliche Haus, worauf ihr nach einigen, dem Tage angemessenen Ceremonien und nach Besprengung der Zimmer mit heiligem Weihwasser, ein mit Allem im Ueberfluß versehenes Frühstück vorgesetzt wurde. Während desselben wurden die üblichen, wohlmeinenden und ehrbaren, aber ein wenig ermüdenden Reden gewechselt. Obgleich Ssipjagin und Frau niemals um diese Zeit zu frühstücken pflegten, so nahmen sie doch von Diesem und Jenem der Speisen und nippten auch ein wenig vom Wein, Ssipjagin gab sogar eine komische Anekdote zum Besten, die in Anbetracht seines rothen Bandes und seiner Würde einen höchst effectvollen Eindruck machte und in Vater Cyprian sogar ein aus Dankbarkeit und Staunen gemischtes Gefühl hervorrief. Um nicht zurückzubleiben – um zu zeigen, daß auch er bei Gelegenheit etwas Wissenswürdiges mittheilen könne – erzählte Vater Coprian seine Unterhaltung mit dem Erzbischof, als derselbe, seine Eparchie bereisend, alle Geistlichen in die Stadt in’s Kloster berief. – Er ist ein gestrenger, sehr gestrenger Herr, – versicherte Vater Cyprian; – zuerst erkundigte er sich nach der Gemeinde, nach den Zuständen . . . dann ging er zum Examen über. . . So wandte er sich auch an mich: Wann feierst Du dein Kirchweihfest? – Am Tage der Verklärung Christi, antwortete ich. – Kennst Du auch den Lobgesang dieses Tages? – Wie sollte ich ihn nicht kennen! – Laß hören! – Nun, ich fange also zu singen an; »Sintemal Du Christe, unser Heiland auf dem Berge verkläret bist. . . « Halt! Was bedeutet das Wort: Verklärung, und was versteht man darunter? – Ich sage also ganz einfach: Christus wollte seinen Jüngern von seiner Herrlichkeit Zeugniß geben! – Gut, sagte er; da hast Du ein kleines Heiligenbild zum Andenken. – Ich falle ihm zu Füßen: ich danke Dir, Oberhirt! . . . Und so ging ich, nicht mit leeren Magen, von dannen!

– Ich habe die Ehre Se. Eminenz persönlich zu kennen, – bemerkte Ssipjagin mit einer gewissen Wichtigkeit. – Ein höchst würdiger Seelenhirt!

– Höchst würdig! – bestätigte Vater Cyprian. – Er sollte nur den Pröbsten weniger trauen. . .

Valentine Michailowna that der Volksschule Erwähnung und wies dabei auf Marianne, als auf die zukünftige Lehrerin, hin; der Diakon – ihm war die Oberaufsicht über die Schule anvertraut – ein Mann von athletischer Körperbildung mit bang herabwallendem Haar, das entfernt an den schön gestrichenen Schweif eines Orlow’schen Renners erinnerte, wollte seine Billigung aussprechen, platzte aber, der Macht seiner Kehle uneingedenk, so laut heraus, daß er selbst zusammenfuhr und auch die Anderen erschreckte. – Bald darauf entfernten sich die Geistlichen.

Kolja war in seinem neuen Jäckchen mit den goldenen Knöpfen der Held des Tages; man machte ihm Geschenke, gratulirte ihm, küßte ihm die Hände sowohl an der vorderen als an der hinteren Hausthür: Fabrikarbeiter, Knechte, alte Frauen, Mädchen und Bauern; die Letzten drängten sich meist vor dem Hause in alter, noch von den Zeiten der Leibeigenschaft her gewohnter Weise, mit dumpfen Getöse um die mit warmem Gebäck und Branntweinflaschen besetzten Tische. – Und Kolja selbst, er schien so froh, so stolz zu sein, und dann wieder so schüchtern, so beschämt und er schmiegte sich bald an die Eltern, bald lief er hin und her. . . Beim Mittagessen ließ Ssipjagin Champagner bringen und hielt, bevor er auf die Gesundheit des Sohnes trank, eine Rede. Er sprach darüber, was es heiße: »dem Lande dienen,« – welches der Weg sei, von dem er wünsche, daß ihn Nikolai – so nannte er jetzt feierlich seinen Sohn – einschlagen möge, und was von ihm erstens: – die Familie, zweitens: – der Stand, die Gesellschaft, drittens: – das Volk, ja, meine Herren, das Volk! und viertens: – die Regierung zu erwarten berechtigt seien. Sich allmählich immer mehr steigernd, schwang sich Ssipjagin zur Höhe der Beredtsamkeit empor, wobei er die Hand, nach dem Vorgange Robert Peel’s, beständig nach hinten in die Rocktasche steckte; er gerieth endlich in Entzücken bei dem Worte »Wissenschaft« und schloß seine Rede mit dem lateinischen Ausruf: »Laboremus!« den er auch gleich in’s Russische übersetzte. Kolja machte mit dem Pokal in der Hand die Runde um den Tisch, dem Vater zu danken und sich mit Allen zu küssen.

Neshdanow’s und Mariannen’s Blicke begegneten sich während des Mittagessens zu wiederholten Malen. Sie schienen dasselbe zu empfinden. . . Sie sprachen jedoch nicht mit einander.

Neshdanow empfand, daß Alles, was er da zu sehen und zu hören bekam, eher komisch und unterhaltend, als zornerregend und widerwärtig war. Valentine Michailowna aber, die liebenswürdige Hausfrau, war in seinen Augen eine kluge Dame, die da wußte, daß sie Komödie spielte, sich zugleich darüber freute, daß noch ein anderer Mensch vorhanden war, – ebenso klug und verständig, – der ihr Benehmen begreifen konnte. Neshdanow merkte es selbst nicht, wie sehr es seiner Eitelkeit schmeichelte, daß sie so zuvorkommend freundlich gegen ihn war.

Am folgenden Tage fing der Unterricht wieder von Neuem an und nun rollte das Leben in geregeltem Gleise dahin.

Unmerklich verging eine Woche. . . . Das Bruchstück eines Briefes an einen gewissen Ssilin, einen früheren Schulkameraden und seinen besten Freund, kann einen Begriff davon geben, was Neshdanow in dieser Zeit empfand und dachte. Dieser Ssilin lebte nicht in Petersburg, sondern in einer entfernten Gouvernementsstadt bei einem wohlhabenden Verwandten, von dem er in jeder Beziehung abhängig war. Die Verhältnisse hatten sich so gestaltet, daß er nicht einmal daran denken konnte, sich denselben jemals entwinden zu können; er war ein schüchternen schwächlicher Mensch, und gerade nicht besonders begabt, aber offenbar eine reine Seele. Um Politik kümmerte er sich nicht, las dies und jenes Buch, spielte in seinen Mußestunden auf der Flöte und fürchtete sich vor den jungen Fräuleins. Ssilin war Neshdanow leidenschaftlich zugethan – er schloß sich überhaupt leicht an Menschen an. Vor Niemandem pflegte Neshdanow sein Herz so rückhaltlos auszuschütten, wie vor Wladimir Ssilin; wenn er ihm schrieb, schien es ihm immer, daß er zu einem ihm sehr nahe stehenden, sehr bekannten Wesen spräche – aber zu einem in einer andern Welt lebenden Wesen oder zu seinem eigenen Gewissen. Neshdanow hatte sich keine Vorstellung davon machen können, wie er mit Ssilin von Neuem in derselben Stadt auf kameradschaftlichem Fuße würde leben können. Er hätte ihn vielleicht mit Kälte behandelt: sie hatten nur wenig mit einander gemein; aber er schrieb ihm gern und viel – und rückhaltlos. Andern gegenüber pflegte er, – auf dem Papier wenigstens – sich gewissermaßen herauszustreichen; wenn er aber an Ssilin schrieb – niemals! Die Feder schlecht führend, vermochte Ssilin ihm nur in kurzen, ungeschickten Worten zu antworten; aber Neshdanow bedurfte auch nicht der ausführlichen Antwort: er wußte, daß sein Freund jedes seiner Worte in sich aufsauge wie der Staub am Wege die Regentropfen, daß er seine Herzensergießungen wie ein Helligthum geheim halte – in tiefer unabwendbarer Einsamkeit verkümmernd, nur lebend in der Nachempfindung seines, des Freundes Lebens. Gegen Niemand in der Welt hatte sich Neshdanow jemals über dieses Verhältniß zu Ssilin ausgesprochen, das er überaus hoch hielt. »Nun Freund,« schrieb er ihm. – »Du reiner Wladimir!« – so pflegte er ihn stets zu nennen, und zwar mit Recht – »gratulire mir: jetzt habe ich Futter bekommen und kann ein wenig ausruhen und meine Kräfte sammeln. Ich habe bei einem reichen Würdenträger, Namens Ssipjagin, eine Stelle angenommen, unterrichte seinen Sohn, esse prächtig – so habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen – schlafe herrlich, tummle mich nach Herzenslust in der schönen Umgegend – vor Allem aber: ich habe mich auf kurze Zeit von der Vormundschaft der Petersburger Freunde befreit; und wenn am Anfang auch die Langeweile gründlich an mir genagt hat, so ist es mir jetzt doch leichter um’s Herz geworden. Bald werde ich in das Dir bekannte Joch kriechen müssen, das heißt: ich muß ziehen, da ich mich habe einspannen lassen, fürs Erste aber kann ich das Leben physisch vollauf genießen, an Umfang zunehmen – und meinetwegen dichten, wenn die Lust dazu kommt. Die sogenannten Beobachtungen werden bis auf eine gelegenere Zeit aufgespart: das Gut scheint mir vortrefflich bewirthschaftet, vielleicht, daß es um die Fabrik ein wenig faul steht; die nach dem Loskauf abgefundenen Bauern sehen unzugänglich aus; die auf dem Gute dienenden Leute dagegen haben Physiognomien von einem Comme il faut! Aber wir werden die Sachen später untersuchen. Die Herrschaft – das sind höfliche, liberale Leute; der gnädige Herr ist so herablassend, so herablassend – dann aber schwingt er sich plötzlich empor: ein höchst gebildeter Mann! Die gnädige Frau – ist schön wie ein Bild und scheint ihre fünf Sinne beisammen zu haben: sie lauert nur darauf, daß sie Dich packt, – ist aber so weich – als ob sie keine Knochen hätte! Ich fürchte mich vor ihr: Du weißt, was ich für ein Damencavalier bin! – Es sind noch Nachbarn da – garstige Leute; eine alte Frau, die mir feindlich gesinnt ist . . . Am meisten interessirt mich aber ein junges Mädchen, eine Verwandte, Gesellschafterin – Gott weiß! – mit der ich kaum zwei Worte gesprochen habe, die aber, ich fühle es, aus meinem Holz gezimmert ist . . .«

Hierauf folgte eine Schilderung des Aeußeren von Marianne – ihres ganzen Wesens; dann fuhr er fort:

»Daß sie unglücklich, stolz, eigenliebig, verschlossen, namentlich aber unglücklich ist – unterliegt keinem Zweifel. Weshalb sie unglücklich ist – weiß ich noch nicht. Daß sie eine ehrenhafte Natur ist – ist mir klar; ob sie gut ist – das ist noch die Frage. Giebt es denn auch vollkommen gute Frauen – wenn sie nicht dumm sind? Und sind solche denn überhaupt nöthig? Ich kenne übrigens die Frauen nur wenig. Von Frau Ssipjagin wird sie nicht geliebt . . . Und auch sie zahlt ihr mit derselben Münze . . . Wer von den Beiden Recht hat, – ist mir unbekannt. Ich denke, daß eher Frau Ssipjagin im Unrecht ist . . . da sie schon fast zu höflich gegen sie ist; bei Dieser zucken hingegen sogar die Brauen, wenn sie mit ihrer Patronin spricht. Ja; ein sehr nervöses Wesen, das paßt auch zu mir. Aus der Art geschlagen ist sie ebenso wie ich, – wenn auch wahrscheinlich in anderer Weise.

Wenn sich Alles ein wenig entwirrt haben wird – schreibe ich Dir . . .

Wir sprechen fast nie miteinander, wie ich Dir schon gesagt habe; aber aus den wenigen Worten, die sie an mich gerichtet – immer plötzlich und unerwartet – tönt eine gewisse herbe Aufrichtigkeit . . . Das ist mir angenehm.

Was mir dabei einfällt: hast Du bei Deinem Anverwandten noch immer dieselbe schmale Kost? – und denkt er nicht daran, in’s Jenseits hinüberzugehen?

Hast Du im »Europäischen Boten« den Aufsatz über die letzten Prätendenten im Gouvernement Ostenburg gelesen? Das war im Jahre 1834, Freund! Ich liebe diese Zeitschrift nicht – auch gehört der Verfasser zu den Konservativen; es ist aber ein interessanter Artikel und kann verschiedene Ideen anregen . . .

3

Ein länglich-viereckiges, an der Hüfte herabhängendes Stück Goldstoff mit einem Kreuz in der Mitte.

4

Eine emporstehende Kopfbebeckung von violettem Sammet für Weltgeistliche, von schwarzem – für Klostergeistliche.

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