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6 – Ravanea

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Obwohl ich noch einige Fragen an Torava hatte, musste sie irgendwann gehen, da sie meinte, eigentlich nicht hier sein zu dürfen. Sie hatte die Wache an der Tür bestochen, um zu mir hereingelassen zu werden.

Es vergehen Stunden, in denen ich weder Geräusche noch Stimmen vernehme. Einzig das leise Pfeifen des Winds, der sich durch die Lücken im Fenster drückt, ertönt in dem trostlosen Raum.

Mein Magen knurrt laut, da ich seit fast einem Tag nichts mehr gegessen habe. Tatsächlich erwäge ich den Gedanken, dass der Imperator mich möglicherweise an meine Grenzen treiben möchte, doch damit erreicht er nicht die Entsieglung der Rune. Liegt es überhaupt in seiner Absicht, mich zu quälen?

Als die Sonne am Horizont untergeht, vernehme ich Schritte von der anderen Seite und einige Stimmen. Da sie undeutlich und dumpf durch die dicke Tür dringen, verstehe ich nicht, worum es in dem Gespräch geht.

Jemand klopft an und tritt herein. Ich platziere mich neben dem Fenster, um genügend Abstand zu der unbekannten Person zu halten.

Eine kleine, schlanke Dame, die ein graues, schlichtes Kleid trägt, verbeugt sich vor mir. »Guten Tag, Miss. Ich bin Natava, Eure Zofe für Euren derzeitigen Aufenthalt, und soll mich darum kümmern, Euch zu waschen und anzuziehen. Der Imperator hat Euch zum Essen eingeladen.«

Wie bitte? Ich sehe sie fassungslos an. »Was?«

Natava streicht sich schüchtern eine dunkelbraune Strähne hinter das Ohr, die aus ihrem seitlich geflochtenen Zopf gefallen ist. »Ihr speist heute mit seiner Familie am selben Tisch.«

Allein der Gedanke, mit diesem Monster in einem Raum zu sein, verpasst mir eine eisige Gänsehaut.

Was soll das Ganze? Versucht er mich etwa auf seine Seite zu ziehen? Oder auf eine andere Weise die Rune zu entsiegeln?

›Ich denke auch, dass er etwas vorhat. Der Imperator ist zu trügerisch, um ihm seine Gutmütigkeit abzukaufen‹, stimmt Danev mir zu.

»Nein«, entgegne ich. »Ich werde ganz bestimmt nicht mit ihm und seiner Familie an einem Tisch sitzen.«

Die Zofe senkt betrübt den Kopf. »Er sagte bereits, dass Ihr Euch weigern würdet, deshalb soll ich Euch von ihm ausrichten, dass er Euren Bruder und den Kopfgeldjäger augenblicklich töten wird, solltet Ihr nicht zum Essen auftauchen.«

Wütend balle ich eine Hand zur Faust und beiße die Zähne zusammen.

Er will mich also erpressen? Aber was hat er davon, wenn ich ebenfalls am Tisch sitze? Amüsiert es ihn, mir anzusehen, wie sehr ich darunter leide, gefangen zu sein?

Ich stoße einen genervten Laut aus, da ich es nicht zulassen darf, dass Ravass und Finn etwas geschieht. Vermutlich werden sie bereits von Kora gefoltert, deren Methoden mir nur allzu bekannt sind.

Wie viele Tage können sie noch durchhalten? Allzu lange darf ich mich nicht mit einem Fluchtplan aufhalten.

»Ich lasse ein Bad für Euch ein. Ein Kleid habe ich auch bereits herausgesucht«, durchbricht Natava die Stille, die sich über uns gelegt hat, und verschwindet nach draußen.

Zugegeben, das warme Wasser, die wohltuende Kräutermischung und die Ruhe haben mir unwahrscheinlich gutgetan.

Das letzte Mal, als ich solchen Luxus genießen durfte, war damals in Taseds Anwesen, als Finn mich dem Imperium ausliefern wollte und ich ihm dank Eward entkam.

Ich wünschte, ich könnte dorthin zurück, um das Schicksal zu verändern. Dann hätte ich Finn vor dem Tod bewahrt und wäre mit ihm gemeinsam vor dem Imperator davongelaufen. Mutter würde noch unter uns weilen und vielleicht wären wir auch nie letztendlich in Baltora gelandet.

Meine Zweifel sind so stark, dass sie sich wie eine riesige Welle über mir aufbäumen. Eine Stimme in mir – damit meine ich nicht Danev – redet mir immer wieder ein, dass meine Hoffnung, es hier herauszuschaffen, einem unerreichbaren Traum gleichkommt. Diese Festung ist ohne die Hilfe von außen unmöglich zu überwinden. Nura, Iain und der Erbauer wären dumm, wenn sie uns retten würden, denn unsere Leben sind es nicht wert. Sollte ich sterben, findet Danev einen anderen Körper.

Es liegt also ganz allein an mir, eine Lösung zu suchen, auch wenn die Verzweiflung erst einmal stärker als die Hoffnung ist.

Natava zieht mich gerade in meinem vornehmen Zimmer an. Da ich noch nie solche Kleidung getragen habe, geschweige denn Stoffe aus Seide je berührte, ist es nun ungewohnt, in sie eingehüllt zu werden.

Meine aschblonden Haare fallen in Wellen über meine Schultern. Natava hat sie mit dünnen Klammern ein wenig hochgesteckt, damit ich etwas vornehmer aussehe.

Das Kleid, das ich trage, ist mitternachtsblau und besitzt am Saum einen helleren Farbübergang, als würde es von zartem Licht angestrahlt werden. An meinen Fingern besitzen die Ärmel eine Schlaufe, sodass sich diese um meinen Mittelfinger windet und meinen Handrücken bedeckt. Der obere Teil ist so geschnitten, dass niemand meine wulstigen Narben sieht, die sich bis zu meinem Hals ziehen.

Ob der Imperator vor seiner Familie verbergen will, wie grausam ich unten in den Gewölben gefoltert wurde? Aber weshalb? Jeder weiß, wie rücksichtslos er wirklich ist.

Als Natava mit mir fertig ist, blicke ich in die graublauen Augen einer adligen Frau. Beinahe hätte ich mich selbst nicht wiedererkannt. So langsam verstehe ich allerdings, weshalb ich meine Mutter immer als besonders schön empfand. Ihre Haut war rein, die Züge waren kantig, aber gleichmäßig. Genau wie meine.

Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich dem Adel angehöre. Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn ich wieder meine Lederrüstung trüge und in Massott lebte. Jeder Ort wäre besser als dieser hier.

Natava lächelt mich vorsichtig an, bevor sie die Tür öffnet. »Ihr seht wunderschön aus, Mylady.«

Ich senke den Blick und versuche mir meine innere Wut nicht anmerken zu lassen.

Unglaublich, dass ich mich für ein Essen mit dem Imperator zurechtmachen musste. Mich überkommt der Drang, das Kleid zu zerreißen. Ich bin für diese Welt nicht geschaffen, was ich wohl auch von meiner Mutter geerbt habe. Sie floh ebenfalls aus gutem Grund von diesem Ort.

Mit einem tiefen Atemzug mache ich einen Schritt über die Türschwelle, hinter der mich bereits sechs gerüstete Soldaten erwarten. Sie umkreisen mich wie ein Schwarm Vögel, sodass es schon beinahe aussichtslos ist, auf irgendeine Weise zu fliehen. Durch ihre breiten Schultern und die stämmige Rüstung bekomme ich kaum etwas von meiner Umgebung mit.

Wir positionieren uns auf einer der Schwebeplattformen, um in ein unteres Stockwerk zu fahren. Natava bleibt zurück und schenkt mir noch zum Abschied einen aufmunternden Blick, bevor sie aus meinem Sichtfeld verschwindet.

Obwohl ich die Angst gewohnt sein müsste, ist sie in diesem Moment nur schwer zu kontrollieren. Mich lässt einfach nicht die Frage los, was der Imperator damit bezwecken will. Mir ist bewusst, dass dahinter ein bösartiger Plan stecken muss, nur fällt mir noch nicht ein, welcher es sein könnte.

Möglicherweise finde ich es heute Abend heraus.

Als die Plattform anhält, betreten wir einen Korridor, der in den Farben weiß und blau gehalten ist. Die Wände funkeln wie Eis, das von der Sonne angestrahlt wird. Der Boden besteht aus einem dünnen Teppich, der mich an gefrorenes Wasser erinnert. Wunderschöne Kristallleuchten geben ein Licht an der Decke ab und sehen mit ihren Spitzen wie herunterhängende Eiszapfen aus.

Ich bin so sehr von diesem Anblick fasziniert, dass ich gar nicht merke, wie wir vor einer magischen Barriere halten. Dadurch wäre ich beinahe in meinen Vordermann hineingelaufen, doch im letzten Moment komme ich ebenfalls zum Stehen.

Einer der Soldaten macht einen Schritt nach vorne. »Die Gefangene Ravanea Cahem wird vom Imperator im Speisesaal erwartet.«

Über die Schulter der Männer blickend, erkenne ich einen Diener, der in ebenfalls grauer Kleidung eine Rune in der Wand betätigt, sodass die Barriere vor unseren Augen verschwindet.

Dann stimmt es also, dass der Imperator unantastbar ist. Wenn er mehrere solcher Barrieren in seinem Palast errichtet hat, wird nicht einmal der beste Kämpfer an ihn herankommen.

Er weiß sich gut zu schützen. Doch wovor? Ist die Zahl seiner Feinde in Baltora etwa gewachsen? Aber ist er nicht stark genug, um sich diese vom Hals zu schaffen? Schließlich hat er sich mit der Macht von portes tenebra vereinigt.

Nach einem weiteren Flur treffen wir endlich auf die Flügeltüren, die in den Speisesaal führen. Obwohl ich bereits einige Gespräche erwartet habe, ist es so unheimlich still, dass es mir einen Schauer über den Rücken jagt. Nur das Klackern der Rüstungen und unsere Schritte hallen durch den riesigen Raum.

Bevor mein Blick zum Tisch gleitet, erhasche ich das Glasdach, das wie geschliffenes Eis wirkt. Die Wände sind tiefblau und der Boden besteht aus schwarzem Mosaik. Auch wenn es nicht kalt ist, fröstle ich dennoch, da die tristen Farben Einsamkeit und Trostlosigkeit ausstrahlen.

Der Tisch ist aus weißem Elfenbeinholz und mit blauen Rändern verziert. Eine schwebende Kristallleuchte befindet sich direkt darüber und ähnelt einem gigantischen Edelstein, herausgebrochen aus den Bergen Amateas.

Mein Blick fällt letztendlich auf die einzige Person, die am Ende des Tisches wie ein Herrscher auf seinem Thron sitzt. Der Mann hat dunkelgraues Haar, seine Haut ist aschfahl und die Augen leuchten rot. Ich bin von dem Antlitz so erschrocken, dass ich mich nicht einmal traue, einen weiteren Schritt zu tun.

»Guten Abend, Ravanea«, begrüßt mich der Mann mit einer finsteren Stimme, die meine Angst nur noch schürt.

Ist das etwa …?

›Ja, er ist es. Der Imperator‹, bestätigt mir Danev. ›Er besitzt dieselbe Aura, die ich zuvor schon einmal gespürt habe. Sein Körper ist allerdings bereits von portes tenebra zerfressen. In ihm wird wohl nichts Menschliches mehr stecken – wenn überhaupt, dann nur ein winziger Teil.‹

»Hab keine Angst, setz dich zu mir.«

Die Wachen räumen mir den Weg frei, sodass ich ungehindert auf den Tisch zugehen kann. Meine Beine bewegen sich jedoch nur zögerlich und ich entscheide mich für den letzten Stuhl des Tisches, weit weg vom Imperator.

Doch bevor ich mich überhaupt setzen kann, wendet er erneut etwas ein. »Dein Platz ist hier.«

Er tippt mit der Hand die Lehne eines Stuhles an, der sich direkt neben ihm befindet. Aber so einfach werde ich es ihm nicht machen.

»Sollte dort nicht Eure Gattin sitzen?«

Sein Ausdruck offenbart keine einzige Emotion, als wären all seine Muskeln starr. »Sie ist heute Abend nicht zugegen.«

Wieso? Geht es ihr nicht gut? Hat sie keinen Hunger? Vielleicht ist ihr die Anwesenheit des Imperators genauso zuwider wie mir.

Da ich mich nicht traue, noch einmal etwas zu entgegnen, gehorche ich und nehme direkt neben dem Imperator Platz. Aus der Nähe erkenne ich unter seiner Haut dunkelgraue Adern, die besonders an seinem Hals und an den Augen hervorstechen. Er sieht aus, als wäre er von einer tödlichen Krankheit befallen oder ein Untoter, dessen Körper von innen heraus fault.

Ich rücke langsam, so weit es geht, mit dem Stuhl von ihm weg. Je mehr Abstand zwischen uns kommt, desto sicherer fühle ich mich.

Der Imperator besitzt unter seinen Augen dunkle Schatten und Fältchen, die mir Aufschluss darüber geben, dass er mindestens an die vierzig Jahre alt sein muss. Die roten Augen erinnern mich an Blut.

»Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich«, beginnt er.

Mit ihm allein an einem Tisch zu sitzen, fühlt sich wie pure Folter an. Einerseits will ich ihm den Kopf von den Schultern reißen, andererseits hat er Finn und Ravass in der Hand, deren Leben ich nicht so einfach aufs Spiel setzen kann.

»Ihr habt sie getötet«, knurre ich feindselig. »Genau wie meinen Vater.«

»Deine Mutter konnte dank Nura wiederbelebt werden«, argumentiert er, als würde das sein Verbrechen wiedergutmachen. »Deinen Vater allerdings habe ich der Bestie zum Fraß vorgeworfen. Sie bevorzugt Menschenfleisch.«

Die Bestie? Das haben auch die Leute erwähnt, als sie uns auf dem Weg zum Palast rüde Sachen an den Kopf warfen.

Ich versuche die Vorstellung, wie ein Monster den toten Körper meines Vaters zwischen seinen Zähnen zermalmt, zu verdrängen. Der Gedanke lässt meinen Magen verkrampfen und treibt mir Tränen in die Augen, als wäre ich selbst dabei gewesen.

Ich darf nicht darüber grübeln, sonst werde ich schneller meinen Verstand verlieren, als mir lieb ist. »Meint Ihr damit etwa Euch?«

Er wirkt gelangweilt und scheint gar nicht auf meine Beleidigung einzugehen. »Sie ist also nicht bis zu deinen Ohren gedrungen? Vielleicht sollte ich sie dir vorstellen.«

Mein Herz klopft furchtsam in der Brust. »Nein danke.«

»Sie wird dir gefallen.«

Anscheinend habe ich überhaupt keine Wahl, weswegen ich einfach den Mund halte, statt erneut zu widersprechen. »Was habt Ihr mit meinem Bruder und Finnigan gemacht?«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, der eher wie ein Thron wirkt, und zuckt nur mit den Schultern. »Ich habe sie meinem Sohn zum Spielen gegeben.«

Erschrocken reiße ich die Augen auf. »Euer Sohn?«

Der, der Nuras Tafel besitzt? Möglicherweise bin ich doch nicht ganz unnütz hier. Ich könnte bereits in Erfahrung bringen, in welchem Teil seines Körpers sich die Tafel befindet. Sie zu entnehmen, werde ich nicht fähig sein, da dies nur der Erbauer zu tun vermag. Genau aus diesem Grund begab ich mich vor wenigen Wochen auf die Suche nach ihm. Wenigstens ist er in guten Händen.

Gerade als ich eine Antwort vom Imperator erwarte, ertönen erneut Schritte im Raum und ich wende mich zu der offenen Flügeltür.

»Guten Abend!«, ruft jemand mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen. Der schlaksige Mann in den schwarzblauen Gewändern tritt auf mich zu und bleibt interessiert vor mir stehen. Durch seine dunklen Haare kommt mir seine blasse Haut beinahe wie Schnee vor. »Das ist also das Kind der Streunerin?«

Welcher Streunerin? Reden sie etwa über meine Mutter? Der Imperator muss gewusst haben, dass sie adlige Wurzeln hat und damals davongelaufen ist, weil sie es nicht mehr beim Adel aushielt.

Der dunkle Herrscher nickt. »So ist es. Setz dich bitte, Roan.«

Er kommt der Bitte seines Vaters nach und nimmt gegenüber von mir auf dem Stuhl Platz. »Wieso speist sie mit uns? Sollte sie nicht unten in den Gewölben Kora unterliegen?«

Der Imperator greift zu seinem silbernen Weinkelch und nippt zuerst daran, bevor er Roan antwortet. »Ich habe meine Gründe. Stell also bitte diesbezüglich keine Fragen mehr.«

Roan hat ungeheuren Respekt vor seinem Vater, denn er widerspricht ihm kein einziges Mal. Gut, er könnte von seiner Macht mit portes tenebra wissen und sich eher davor fürchten, dennoch glaube ich, dass der Imperator keine angenehme Person ist, wenn man ihn verärgert.

Roan wendet sich plötzlich an mich. »Du bist doch mit deinem Streuner-Bruder und diesem Kopfgeldjäger hierhergebracht worden, oder?«

Eigentlich will ich nicht antworten, weil ich mich viel zu sehr davor fürchte, was er über sie erzählen wird. Der Imperator hat mir bereits verraten, dass er die beiden Roan überlassen hat. Aber was genau ist damit gemeint?

Meine Lippen beben und ich öffne sie, um etwas zu sagen, aber die Furcht lähmt mich.

Roan grinst amüsiert und greift nach seinem eigenen Getränk, das vor ihm steht. »Ehrlich gesagt, bin ich äußerst interessiert daran, meine kleinen Experimente an einem Todeskriecher auszuprobieren. Schließlich schlummern in ihnen auch ungeahnte Kräfte und ein Teil des Todes.«

Nein, bitte nicht. Er wird Finn leiden lassen.

Unter dem Tisch balle ich die Hände zu Fäusten, um meine Wut vor ihm zu verbergen. Wenn er merkt, dass mir seine Foltermethoden zu nahe gehen, wird er es an den beiden weiterhin auslassen.

Falls ich Roan richtig einschätze, ähnelt seine Einstellung der von Kora und seinem Vater sehr. Er liebt Schmerz und weidet sich offensichtlich daran, an niederen Menschen seine Macht auszuüben.

Das Schweigen ist damit die beste Variante, um die Situation der beiden nicht zu verschlimmern. »Allerdings habe ich es heute nur bei deinem Bruder geschafft, die ersten Anfänge auszuprobieren, und es hat mich sehr überrascht, wie viel Durchhaltevermögen er besitzt.« Roan seufzt. »Hat er wohl von seiner Schlampen-Mutter.«

Dieser verdammte, arrogante Sohn eines Monsters! Am liebsten würde ich sofort auf ihn losspringen und ihm den dürren Hals umdrehen. Wie kann er es nur wagen, so über meinen Bruder oder meine Mutter herzuziehen?

»Wo bleiben deine Geschwister, Roan?«, fragt der Imperator ungeduldig.

Sein Sohn wirkt empört. »Keine Ahnung! Ich bin jedenfalls da.«

Nur einen Augenblick später höre ich Absatzschuhe über den Mosaikboden laufen. Zwei weitere Personen betreten den Speisesaal und kommen auf den Tisch zu.

Der hochgewachsene Mann wirkt älter als Roan und besitzt aschblondes Haar und himmelblaue Augen. Seine Strähnen sind zurückgekämmt, womit er recht förmlich aussieht, doch sein fieses Grinsen verrät etwas anderes.

Seine Begleitung ist eine junge Dame, vielleicht gerade einmal sechzehn Jahre alt. Sie hat einen zierlichen Körperbau und trägt ein rubinrotes, schillerndes Kleid. Durch ihre ebenfalls fast weißen Haare sieht sie unbeschreiblich schön aus. Doch in ihren dunkelbraunen Augen erkenne ich nur Verachtung für mich.

»Iih! Wir essen mit dieser … Gefangenen?«, nörgelt sie und setzt sich neben ihren Bruder Roan.

»Mir passt das auch nicht«, stimmt dieser zu.

Doch der Älteste von ihnen schenkt mir ein charmantes Lächeln. »Ich wüsste nicht, weshalb eine solche Schönheit Verachtung von euch beiden verdient hätte. Außerdem ist sie ebenfalls eine Adlige, schon vergessen?«

»Das zählt nicht«, murrt das Mädchen und verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. »Ihre Mutter hat dem Palast den Rücken gekehrt, was sie zu einer Abtrünnigen und damit Verbrecherin macht.«

»Abgesehen davon war sie mit einem Bauern zusammen«, fügt Roan hinzu. »Das hat ihr Adelsblut zunichtegemacht.«

Er war mehr als nur ein Bauer! Er war mein Lehrer, mein Beschützer, die große Liebe meiner Mutter. Es bringt meine Augen zum Brennen, in Zusammenhang mit ihren grausamen Worten an ihn zurückdenken zu müssen und dass er wegen mir sein Leben ließ.

Ohne meinen Vater hätte ich niemals überlebt. Er lehrte mich das Kämpfen, führte mich in die Kunst der Runen ein, brachte mir Stehlen und Spurenlesen bei. Er zeigte mir jeglichen erdenklichen Weg, den ich im Leben gehen konnte, und ich habe jeden einzelnen von ihnen gebraucht.

Nun zu hören, wie sie über ihn herziehen, zerreißt mir das Herz. So etwas hat er nicht verdient.

»Schluss jetzt«, unterbricht der Imperator das Gespräch. »Lokris, setz dich.«

Der Älteste nimmt direkt neben mir Platz, was mir eine eisige Gänsehaut verpasst. Er beugt sich zu mir, lässt seinen Arm auf meine Stuhllehne fallen und kommt mir so nahe, dass ich seinen heißen Atem auf der Haut spüre. »Ich bin unfassbar interessiert an dir, meine liebe Ravanea. Wir könnten doch auch mal allein speisen, um uns besser kennenzulernen.«

Ich schließe die Lider und atme noch einmal tief durch. Das hier ist eindeutig zu viel für mich, da ich weder mein Schwert heben kann, um einen von ihnen zu erschlagen, noch etwas einwenden darf, da ich sonst alles nur noch schlimmer mache. Sollte ich auf Lokris’ Andeutung eingehen, könnte es passieren, dass ihn das nur noch mehr antreibt.

Auch wenn ich es nicht gerne tue, ist Schweigen noch immer eine der besten Optionen.

»Das besprechen wir wann anders, Lokris«, unterbricht ihn der Imperator.

Sein Sohn wendet sich wieder dem Tisch vor sich zu, scheint jedoch beleidigt darüber zu sein, nicht weitermachen zu dürfen. Sein Interesse an mir gefällt mir ganz und gar nicht. Da sind mir Roan und seine garstige Schwester viel lieber.

»Das Essen«, ruft der Imperator durch den Raum und plötzlich kommen mehrere Diener hereingelaufen, die befüllte Platten tragen und diese auf den Tisch stellen.

Der Duft von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot kriecht in meine Nase. Mein Hunger macht sich mit einem Magenknurren bemerkbar.

Ich sehe zum Imperator, den ich verstohlen mustere. Es ist immer noch ein unbeschreibliches Gefühl zu wissen, dass dieses Monster, das nur sehr wenige Menschen zu Gesicht bekommen, gleich drei Kinder gezeugt hat. Er wirkt mit seiner erschreckenden Erscheinung nicht nur unheimlich, sondern auch unfassbar angsteinflößend.

Ich schaue mir nochmals die drei Kinder an und erkenne, dass Lokris und das blonde Mädchen sehr ähnliche Züge haben, als besäßen sie diese von ihrer Mutter. Roan hingegen ähnelt weder seinen Geschwistern noch seinem Vater.

Hat Nura nicht damals erwähnt, dass der Imperator nur einen Sohn hätte? Ob die blondhaarigen Geschwister von einem anderen Mann abstammen? Vielleicht hat die erste Gattin es nicht lange mit dem Monster ausgehalten.

Jeder schaufelt sich etwas auf seinen Teller, bevor das erste Gespräch losgetreten wird, das die Tochter beginnt. »Wie weit ist Mutter eigentlich mit den Vorbereitungen für meine heiratsfähigen Männer?«

»Sie hat im Moment keine Zeit dafür, Lokrezia«, antwortet ihr Vater gefühlskalt. Er begründet noch nicht einmal, weshalb seine Gattin diese nicht besitzt.

Lokrezia erwidert jedoch auch nichts. Ob sie so erzogen worden sind, niemals ihrem Vater zu widersprechen? Oder auch nur nachzuhaken?

»Mir ist aber langweilig«, sagt sie wie ein kleines Kind, das eine neue Beschäftigung sucht. »Kann mich nicht wenigstens dieser Kaufmanns-Junge besuchen? Den du letztens eingeladen hast, weißt du noch?«

»Es ist zurzeit nicht möglich.«

»Hol dir doch einen der Gefangenen, Rezia«, schlägt ihr großer Bruder grinsend vor. »Du solltest ihn nur vorher waschen. Viele von ihnen haben Entzündungen, Eiter, offene Wunden, aufgeschlitzte …«

Plötzlich schlägt der Imperator mit der Faust so fest auf den Tisch, dass ich beinahe vor Angst vom Stuhl gefallen wäre, da ich glaubte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Ich zucke zusammen und lege die Arme schützend um mich.

»Es reicht jetzt! Wir reden am Tisch nicht über dieses Drecksloch und vor allen Dingen nicht beim Essen.«

Ich wage es erst wieder zu atmen, als Roan nur mit den Augen rollt und damit die kurze Rage seines Vaters als Lappalie hinstellt. Die anderen beiden widmen sich weiterhin dem Essen auf ihrem Teller.

Die Angst sitzt noch zu sehr in meinen Gliedern, als dass ich nach etwas greifen könnte.

Lokris bemerkt meine Zurückhaltung und schnappt sich eine gebackene Keule, die er mir auf den Teller wirft. »Iss, meine Hübsche«, fordert er mich auf. »Eine solche Gelegenheit wirst du nicht so schnell wieder bekommen.« Er sieht für den Moment zur Decke, als würde er seinen Satz überdenken. »Es sei denn, du entscheidest dich freiwillig, öfter mit mir gemeinsam zu speisen.«

Keine hundert Runenplaketten würden mich dazu bringen. Lieber verrotte ich in meinem Turmzimmer.

Ich sehe zu der Keule und nehme das Stück Fleisch in die Hand. Es riecht so unfassbar gut, dass sich bereits der Speichel in meinem Mund sammelt. Durch den köstlichen Duft werde ich beinahe dazu getrieben hineinzubeißen.

Mit einem letzten Blick zu Lokris, der mich noch immer charmant anlächelt, bohre ich meine Zähne in die zarte Keule und hätte beinahe ein genussvolles Stöhnen von mir gegeben. Die Haut ist leicht gewürzt, sodass in meinem Mund eine Geschmacksexplosion nach der anderen folgt.

Es fällt mir schwer, nicht gierig zu essen, sondern genauso gemächlich wie die anderen am Tisch. Doch die Keule ist schneller verschlungen, als ich gedacht hätte. Nach meinem nur leicht gefüllten Magen zu urteilen, hätte ich vermutlich noch zehn weitere Fleischstücke essen können.

Stattdessen reiße ich mir jedoch etwas von dem Brot ab und nage an diesem, um meinem Hungerleiden entgegenzuwirken.

Erst da bemerke ich Roans wachsame Augen, die mich wohl schon seit Längerem im Visier haben. Als ihm klar wird, dass mir sein Starren aufgefallen ist, nimmt er einen großen Schluck aus seinem Becher und beginnt erneut ein Gespräch.

»Ravanea, ich würde gerne deine ganze Geschichte kennen. Von Anfang an. Wie mir zu Ohren gekommen ist, bestand dein Leben nur aus Leid und Verlust.«

Da dies eine Aufforderung ist, die ich nicht einfach mit einem Schweigen abtun kann, antworte ich ihm mit dem Nötigsten. »Wieso? Der Anfang sollte Euch doch bekannt sein.«

Er seufzt genervt. »Ja, aber ich wollte es aus deinem Mund hören.«

Ich sehe ihn nur mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

Er wendet sich an seinen Vater. »Bist du nicht auch der Auffassung, dass wir mehr darüber wissen sollten?«

Plötzlich wirkt der Imperator sehr interessiert, was mich frösteln lässt. »Tatsächlich würde ich gerne erfahren, was geschah, als deine Mutter sich opferte, um dich an einen anderen Ort zu bringen.«

Darüber können sie wohl nicht jedes Detail kennen, da ich sozusagen untergetaucht war. »Sie brachte mich in Sicherheit.« Meine Miene verfinstert sich. »Vor Euch.«

Erneut rührt sich kein einziger Muskel in seinem Gesicht. »Das ist mir bewusst. Aber wohin? Stimmt es, dass es sich dabei um das Dorf Urnach handelte? Meine Soldaten berichteten mir, dass sie dich dort gefangen nahmen, du dann jedoch trotzdem fliehen konntest.«

Mein Puls beschleunigt sich. »Ich bin eben eine Überlebenskünstlerin.«

»Dein Kerker war verschlossen. Deine Kräfte wurden mit einer Rune unterdrückt. Wie hast du das also geschafft? Ich glaube nämlich, dass dir jemand geholfen hat. Und ich will wissen, wer.«

Mir kommt das unschuldige kleine Mädchen mit den schweren, dunklen Locken und den Rehaugen wieder in den Sinn. Wäre Aralena damals nicht gewesen, die sich ins Gefängnis geschlichen hatte, um uns die Schlüssel zu reichen, hätte ich vermutlich mit dem Imperator schon viel eher an diesem Tisch gesessen.

Doch er darf niemals erfahren, dass sie mir geholfen hat. Er könnte einen Soldaten damit beauftragen, sie hinrichten zu lassen, weil sie einer Abtrünnigen zur Flucht verhalf.

Auch wenn es mich unwahrscheinlich viel an Überwindung kostet, dem Imperator zu widersprechen und ihm etwas vorzuenthalten, tue ich es dennoch. Für Aralena. »Wie ich schon sagte: Ich bin eine Überlebenskünstlerin.«

Gerade als ich denke, dass er meine Antwort einfach so akzeptieren würde, geschieht etwas vollkommen Unerwartetes. Viel zu spät erkenne ich, wie der Imperator nach der Gabel greift, diese in die Höhe hebt und mit voller Wucht in meinen Handrücken rammt.

Schmerz zieht sich bis in meinen Oberarm und ich schreie qualvoll auf. Die Spitzen stecken in dem Holz, nageln meine Hand an dem Tisch fest, sodass ich ohne meine zweite diese nicht befreien kann.

Wieso hat er mir einfach eine Gabel durch die Hand gestochen?

Ich keuche auf.

Die Pein ist so unerträglich, dass mir sofort Tränen in die Augen schießen und ich den Stiel der Gabel umschließe, um sie aus meiner Hand zu ziehen. Mein ganzer Körper zittert und ich traue mich nicht einmal, meine Finger zu bewegen. Die Knochen hat er mir ebenfalls gebrochen.

»Wenn du die Gabel herausziehst, ohne mir vorher die Wahrheit gesagt zu haben, werde ich deine zweite Hand ebenfalls festnageln. Ich kann es nicht leiden, wenn man mir Sachen vorenthält«, droht das Monster mir.

Ich atme ein und aus. Ist er vollkommen wahnsinnig? Was ist das für eine schreckliche Art, an die Wahrheit zu kommen? Macht er das mit all seinen Gästen?

Großer Schöpfer, diese Schmerzen sind grauenvoll.

›Ruhig bleiben, Ravanea. Du musst ihm ja keinen Namen geben, sondern beschreibst einfach nur, dass dich ein Mann befreit hat, aber du nicht weißt, wie er heißt. Das muss er dir einfach abkaufen‹, will mich Danev beschwichtigen. ›Später werde ich versuchen meine Heilkräfte zu aktivieren, auch wenn es nicht einfach wird.‹

Tränen laufen mir über die Wangen, weil ich die Qual nicht lange aushalte. Diese Gabel muss sofort aus meiner Hand, sonst wird die Wunde nur noch schlimmer. Aber was sage ich nun? Ich darf Aralena auf keinen Fall verraten!

»Es war ein Mann«, presse ich zwischen den Lippen hervor. »Er schlich sich in das Gefängnis und gab uns den Schlüssel. Dann verschwand er. Ich schwöre, ich habe keine Ahnung, wer es gewesen ist!«

Durch meine wehleidige Stimme wird auch der Imperator seine Schwierigkeiten haben, die Lüge herauszuhören. Er mustert mich eine lange Zeit, während ich seinem Blick standhalte und innerlich dafür bete, dass Danevs Vorschlag Wirkung zeigt. Kora hat mir damals auch ständig Fragen gestellt und mich gefoltert, wenn ich darauf keine Antwort gab oder sie anlog.

Beim Imperator ist das ein noch viel grauenvolleres Gefühl. Seine Züge sind unvorhersehbar, was ihn noch weitaus gefährlicher als die Kommandantin macht.

Ich bekomme beinahe keine Luft, so sehr spannt sich mein Körper an, der sich gegen die Pein wehrt. Ein Wimmern will meiner Kehle entfliehen, aber ich dränge es mit aller Gewalt zurück.

Nach einer geschlagenen Minute nickt der Imperator nur knapp und ich ziehe mit einem Ruck die Gabel aus meiner blutenden Hand. Die Knochen knacken, Blut sickert über meine Haut und ein leises Wimmern löst sich aus meinem Hals.

Mein Blick gleitet zu den anderen, die mich mit kalter Miene beobachtet haben.

»Bringt sie zurück auf ihr Zimmer!«, ruft er schließlich laut in den Raum.

Nur wenige Sekunden später rücken wieder die sechs Soldaten an, die mich in mein Gemach begleiten sollen. Der Appetit ist mir längst vergangen und ich bin auch nur noch froh, von diesen Monstern wegzukommen.

Doch gerade als ich mich erheben will, greift der Imperator nach meiner verletzten Hand und drückt diese erneut auf den Tisch zurück. Ich gebe einen wehleidigen Laut von mir, ehe ich ihn ansehe.

Seine erbarmungslose Miene lässt das Blut in mir gefrieren. »Ich werde das überprüfen lassen. Sollte sich herausstellen, dass du mich angelogen hast, werde ich deine Hand abschneiden.«

Wie bitte? Vom Imperator persönlich? Nein, das darf er nicht! Ist das sein Ziel? Mich Stück für Stück zu verstümmeln?

Mit einem Schlag überkommt mich eine vollkommen neue Angst. Sie ist tiefer, bringt meinen gesamten Körper zum Beben und entfacht eine Furcht, die mich zu schrecklichen Gedanken drängt. Dieses Monster vor mir ist das Schlimmste, was einem Menschen in dieser Welt passieren kann. Kora ist gegen sein Grauen harmlos.

Er blickt kurz auf meine Hand hinab und verzieht unzufrieden das Gesicht. »Dein Aussehen widert mich so sehr an, dass ich es damals nicht einmal über mich brachte, dein Gesicht verunstalten zu lassen, als ich dich in den Gewölben festhielt.«

Was will er denn damit sagen? Würde man dann nicht erst recht meine Haut entstellen wollen? Wie soll ich diese Aussage verstehen?

Wie kann man nur so schrecklich sein? Wahnsinnig und schrecklich zugleich.

Allein wenn ich an ihre Foltermethoden zurückdenke und mir ausmale, dass der Imperator weitaus entsetzlicher ist, überkommt mich die Vorstellung, den Tod zu wählen.

Dann hätte all das hier ein Ende. Denn noch einmal stehe ich diese Schmerzen nicht durch.

›Wir finden eine Lösung. Er will dich nur einschüchtern, Ravanea.‹

›Ich lasse mich nicht erneut quälen. Nie wieder, Danev.‹

Wächter der Runen (Band 3)

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