Читать книгу Wächter der Runen (Band 3) - J. K. Bloom - Страница 18
10 - Ravanea
ОглавлениеNatava tritt in mein Zimmer, doch dieses Mal liegt auf ihren Lippen kein Lächeln. Stattdessen erkenne ich Angst in ihren Augen, und sie macht auch nur langsam einen Schritt vor den anderen, nachdem sie die Tür geschlossen hat.
Ich steige alarmiert aus dem Bett. »Was ist los?«
»Der Imperator hat Euch erneut dazu aufgefordert, gemeinsam mit ihm zu speisen.« Mir klappt die Kinnlade herunter. Mir war klar, dass es nicht bei einer einmaligen Sache bleiben würde. »Aber nicht nur das. Dieses Mal sitzen auch Adelsleute an seinem Tisch, die ihm die Treue geschworen haben.«
Mir springt beinahe das Herz aus der Brust, da ich weiß, dass er an mir erneut seine Macht vor allen demonstrieren wird. Zitternd reibe ich über den Verband an meiner Hand und sehe Natava nervös an. »Ich werde mich wohl dagegen nicht wehren können, oder?«
Sie schüttelt den Kopf. »Leider nicht.« Mit gesenktem Blick geht sie ins Badezimmer. »Es tut mir so leid, Mylady. Ich habe wirklich gehofft, dass er es sein lassen würde.«
Während Natava alles bereit macht, entnehme ich schnell heimlich aus der Schublade das kleine Fläschchen, das mir Torava gegeben hat, um die Schmerzen zu lindern. Ich könnte nun sehr gut eine leichte Betäubung gebrauchen.
Natava wäscht mich erneut in der Badewanne und richtet meine Haare sowie mein Kleid her. Dieses Mal trage ich ein helles Kristallblau, das mich an die Palastfassaden erinnert, die nachts leuchten. In langen blonden Wellen fallen mir die Strähnen zum Teil über die Schulter, während der Rest hochgesteckt wird.
Wie auch beim letzten Mal begleiten mich etliche Soldaten in den Festsaal, dieses Mal jedoch in einen anderen.
Er ist groß und an der Decke hängt ein Meer aus Eiszapfen. Die Wände sind strahlend weiß und der Boden aus dunkelblauen Fliesen. In der Mitte steht ein lang gezogener Tisch und auf der rechten Seite befindet sich eine Art Tanzbereich, an dessen Ende ein Orchester Streichmusik spielt.
Doch der ganze Raum verstummt, als die Soldaten zur Seite gehen, um den Blick auf mich freizugeben. Mindestens zwanzig neue Gesichter schauen mich missbilligend an, als wäre ich eine Schande für dieses Bankett. Lokris, Lokrezia und Roan sehen ebenfalls neugierig zu mir, weil ich erneut ihrem Essen beizuwohnen scheine.
Aber was ich dann entdecke, raubt mir jeglichen Atem. Direkt neben dem Imperator sitzt eine zierliche, schlanke Gestalt in einem cremefarbenen Kleid auf dem Platz der Gattin des Monsters. Die dunkelbraunen Augen und ihr langes, blondes Haar verraten mir, dass es sich dabei um Torava handelt.
Nein. Beim Schöpfer! Wieso hat sie es mir nicht erzählt?
Laut ihrem Blick scheint es sie mit Schmerz zu erfüllen, wie ich sie ansehe. Was muss das für eine Qual sein, an der Seite dieses Monsters zu leben?
»Er starb jedoch kurz darauf. Er ließ mich und meinen Sohn zurück«, höre ich Torava in meinem Kopf sagen. »Der einzige Ausweg, um meinen Sohn und mich in diesem goldenen Palast weiterhin beschützen zu können, war, eine neue Ehe einzugehen.«
Dann ist Roan … Großer Schöpfer! Er ist mein verdammter Cousin? Aber was ist mit den anderen beiden? Von wem sind diese Kinder? Auch von ihr? Wieso hat sie nichts erwähnt? Weiß Torava außerdem, was ihr Sohn Grauenvolles in den Gewölben tut? Wenn ja, kann sie ihn dann trotzdem lieben und beschützen wollen?
Vermutlich hat sie sonst niemanden außer Roan.
Doch noch viel eher schockiert mich, in welcher familiären Beziehung ich zum Imperator stehe.
Wir sind verschwägert! Der Gedanke ist so widerlich, dass mir augenblicklich schlecht wird und ich die Magensäure in meinem Hals aufsteigen spüre.
Außerdem quält Roan Finn! Er wurde eindeutig von seinem neuen Vater auf diesen Pfad geleitet. Vermutlich hat Torava noch nicht einmal ein Mitspracherecht.
Wie grausam ist ihr Leben in diesem Palast wirklich? Allein die Vorstellung, diesem Monster beizuwohnen, der keinerlei Gefühle zeigt, geschweige denn weiß, was Sanftheit oder Güte bedeutet, verpasst mir einen eisigen Schauer.
Hat sie es mir deshalb verschwiegen? Aus Angst, dass ich sie sofort verstoßen hätte? Wer will schon etwas mit der Ehefrau des Imperators zu tun haben?
Ich weiß nicht, wie lange ich da so regungslos im Raum stehe und zu Torava starre, doch dem Imperator scheint das gar nicht zu gefallen. »Ravanea, setz dich.«
Lokris schiebt einen Stuhl zurück, da direkt neben ihm ein Platz frei ist. Dieser Abend wird noch viel schlimmer als der vorherige. So viele fremde Augen starren mich an, als wäre ich das Monster in diesem Raum. Ohne sie wirklich ansehen zu müssen, spüre ich ihre verachtenden Blicke auf mir.
Als ich Platz genommen habe, beugt sich Lokris zu mir und haucht mir ins Ohr: »Du siehst heute wieder einmal zauberhaft aus, Ravanea. Vater hat mir erlaubt, dich heute Abend ganz für mich zu haben.«
Mein Atem stockt, als ich das höre, und mir wäre beinahe das Herz stehen geblieben. Der Imperator will mich wirklich quälen und vermutlich versuchen, meine Seele zu brechen, bis ich den Verstand verliere. Dann bin ich ihm ergeben und er kann machen, was er will.
Obwohl ich weiß, dass der Schock tief in mir sitzt, habe ich es dem kleinen Fläschchen von Torava zu verdanken, dass ich nicht die Fassung verliere und in Tränen ausbreche. Die Flüssigkeit scheint nicht nur äußerlichen Schmerz zu lindern, sondern auch den inneren. Jedenfalls muss ich sie darum bitten, mir mehr davon zu brauen, denn sonst werde ich das in nächster Zeit nicht aushalten. So eine große Angst hatte ich schon lange nicht mehr.
Der Adlige neben mir rückt von mir weg, als wäre ich ein widerliches Insekt, mit dem er nichts zu tun haben will. Ich höre, wie sie leise über mich tratschen und mich als Schande und Mörderin bezeichnen. Dabei haben sie gar keine Ahnung, wer hier die meisten Leben auf dem Gewissen hat.
Diese Adligen sind allesamt so dumm.
Ich bemerke, wie Lokrezia sich zu Roan beugt. »Das ist so widerlich. Sie sieht fast aus wie Mutter. Einfach ekelhaft.«
Obwohl ihre Worte wie Messer in meine Brust schießen, wird mir augenblicklich klar, was der Imperator bei unserem letzten Treffen gemeint hat.
»Dein Aussehen widert mich so sehr an, dass ich es damals nicht einmal über mich brachte, dein Gesicht zu verunstalten, als ich dich in den Gewölben festhielt.«
Er verschonte mein Gesicht, weil es ihn an seine Gattin erinnerte. Ich kann nicht erklären, was für ein kranker Gedanke dahintersteckt, aber es wäre eine logische Erklärung.
Vielleicht glaubte er, er füge ihr damit Schmerzen zu. Aber bedeutet das dann, er liebt sie? Kann er das überhaupt? Oder ist sie für ihn nur ein kostbarer Besitz, den er nicht verunstalten möchte?
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als der Imperator die Stimme erhebt. »Sprecht, Ganora«, fordert er eine Dame am Ende des Tisches auf, deren Augen glasig sind.
Ihre Haare sind goldblond und lockig. Sie wirkt jung, obwohl sie das nicht zu sein scheint, denn unter ihren Augen erkenne ich eindeutig ein paar Fältchen. »Ihr seid eine dreckige Schlampe, Ravanea Cahem.«
Ihre Worte verpassen mir einen harten Stich. Deshalb hat der Imperator mich hierhergebracht. Er setzt mich den Leuten zum Fraß vor. Aber woher ist mir ihr Name so bekannt?
»Ihr habt meinen Sohn getötet, als er auf der Jagd nach Euch gewesen ist«, brüllt sie verbittert über den Tisch.
Was zum …?
Das ist Finns Mutter, die der Imperator eingeladen hat! Wie kann er nur? Sie wird sich nichts sehnlicher wünschen, als mich auf der Stelle zu töten. Ich bin schuld daran, dass Finn gestorben ist.
Dann weiß sie also nichts davon, dass er hier gefangen gehalten wird? Vielleicht kann ich den Spieß ja umdrehen, indem ich die Informationen preisgebe, die sie noch nicht kennt.
Was für eine Qual ist es für sie, mit der Mörderin ihres Sohnes an einem Tisch zu sitzen und mit ihr zu speisen? Er quält nicht nur mich damit, sondern auch sie. Was für ein Bastard!
»Ich habe ihn nicht …«, will ich mich gerade rechtfertigen, als eine weitere Frau neben ihr aufsteht und mich erbost anblickt.
»Schweigt! Ihr habt nicht das Recht, zu sprechen. Ich wollte sowieso schon immer dem Mörder meines Bruders in die Augen sehen und dafür beten, dass Ihr elendig verreckt«, kreischt sie wütend. »Ihr habt ihm den Kopf verdreht, ihm eingeredet, sich gegen das Imperium zu wenden!«
Ich kriege beinahe keine Luft mehr, da mich die ganzen Vorwürfe so sehr erdrücken. Obwohl ich nicht an allem die Schuld trage, tue ich es irgendwie trotzdem. Es fühlt sich an, als würde jeder von ihnen mit einem Stein nach mir werfen und mich unter dem Haufen langsam begraben.
Mit aller Kraft versuche ich stark zu bleiben, doch mein inneres Chaos sagt mir etwas anderes. Verkrampft lege ich den gesunden Arm um meine Mitte und presse ihn an mich. Wann hört das auf?
»Aber, aber, meine Damen«, schreitet unerwartet Roan mit einem zauberhaften Lächeln auf den Lippen ein. »Wir haben für heute Abend eine kleine Überraschung für Euch mitgebracht. Mein Vater und ich haben dank unserer heiligen Quelle ein Mittel zusammengestellt, das Euren geliebten Finn wiederbelebt hat.«
»Was?«, entfährt es dem Mann neben Ganora, bei dem ich vermute, dass es sich um Finnicars handelt, seinen Vater. Er sieht ihm so unfassbar ähnlich. Sie besitzen dieselben dunklen Augen und das haselnussbraune Haar.
»Er … lebt?«, ruft Ganora aufgeregt und hält sich vor Schreck die Hände über den Mund.
Mir wird mit einem Schlag klar, dass die hier lebenden Adligen im Palast anscheinend nicht viel mitbekommen. Obwohl draußen irgendjemand Finn erkannt haben muss, als sie uns mit Schimpfwörtern bedachten, begriff nicht einmal die Familie selbst, dass ihr Sohn lebt. Möglicherweise lässt der Imperator aber auch nur die Informationen an ihre Ohren, die er für sie bestimmt. Er hält sie alle wie Tiere in Käfigen.
»Ja, und dank der heiligen Quelle meines Vaters konnten wir ihn wieder unter die Lebenden bringen.«
Die Freude, die ich zuvor in Ganoras Augen habe funkeln sehen, ist nun verblasst. Angst erfasst sie stattdessen, da jeder normal Denkende weiß, dass man totes Fleisch nicht wiederbeleben kann. Es sei denn, höhere Mächte sind dazu imstande, und davor fürchten sich nun mal die meisten.
In Roans Ausdruck schleicht sich eine Bosheit, die mir durch Mark und Bein geht. Was hat er verflucht noch mal vor?
Er klatscht in die Hände und ruft: »Lasst ihn herein.«
Was? Wen meint er? Doch wohl nicht Finn, oder?
Da schwingen die großen Flügeltüren auf und tatsächlich blicke ich in das Antlitz von Finn, von dem ich dachte, es nie wieder zu sehen. Freude und Erleichterung überkommen mich, als er lebend vor mir steht.
Gerade will ich aufstehen, vollkommen ignorierend, ob das überhaupt erlaubt ist, als Lokris so fest meinen Arm packt, dass ich fast aufgeschrien hätte. »Ich würde dir raten, das zu lassen, wenn du deine Hand nicht ganz verlieren willst.«
Seine Stimme klingt so bedrohlich, dass es selbst mein Glücksgefühl verschwinden lässt. Beinahe hätte ich wirklich vergessen, wo ich mich befinde und wie leicht ich dem Imperator eine perfekte Vorlage für einen grausamen Akt gegeben hätte. Ihm hätte es vermutlich gefallen, mir vor den Augen aller anderen die Hand abzuschneiden.
Zwei Soldaten flankieren Finn und halten ihn fest. Seine Beine zittern, als hätte er Mühe zu stehen. Seine Haut ist noch blasser geworden, und durch das Licht der Kristallleuchte über uns nehme ich einen leicht gräulichen Ton darin wahr. Genau denselben besitzt auch der Imperator.
Was hat Roan mit ihm angestellt? Doch etwa keine Experimente mit der Kraft von portes tenebra? Wollen sie ihn auch zu einem gefühllosen Monster machen?
Mir wird abwechselnd heiß und kalt, je intensiver ich darüber nachdenke. Finns Blick wandert vom Imperator zu Torava, seinen Kindern und schließlich bis zu mir.
Als er mein Gesicht wiederzuerkennen scheint, stelle ich fest, wie sich sein ganzer Körper versteift. In seinen Augen bemerke ich dieselben Gefühle wie meine, die in mir förmlich explodiert sind, als er den Raum betrat. Erleichterung, Freude, Sehnsucht.
»Du hast einen Platz neben deiner Familie«, weist Roan ihn an, und ein Diener schiebt einen Stuhl neben Finnicars zurück.
»Erfüllt es Euch nicht mit Freude, Euren tot geglaubten Sohn wiederzusehen, Ganora? Falls Ihr Euch danach sehnt, ihn in Eure Arme zu schließen, dann sei es Euch erlaubt, aufzustehen«, höre ich den Imperator mit seiner kalten Stimme sagen.
Die Familie Bassett fühlt sich beinahe schon aufgefordert, sich von ihren Plätzen zu erheben, auch wenn ich Furcht in ihren Augen erkenne. Sie sind innerlich misstrauisch gegenüber den Behauptungen von Roan, da dieser Finn angeblich mit seiner heiligen Quelle wiederbelebt hat.
Dabei war es eine der Teilschöpfungen, die ihn zurückholte. Wollen sie dem Adel weismachen, dass in Wahrheit portes tenebra das Gute ist? Daran kann ja wohl nicht einmal die Familie Bassett glauben, oder?
Ich beobachte gespannt, wie Ganora langsam auf ihren Sohn zugeht und ihn entsetzt anblickt. Finns Miene bleibt hart, als würde er nicht wollen, dass seine Gefühle nach außen dringen.
Nach einer geschlagenen Minute legt sie schlussendlich doch ihre Arme um ihn und drückt ihn kurz, bevor sie ihn wieder loslässt. Behutsam berührt sie seine Wange, als wäre diese zerbrechlich wie Glas. Anschließend fragt sie ihn flüsternd etwas, das ich von Weitem nicht verstehe.
Finn nickt nur.
Finnicars reicht seinem Sohn die Hand und drückt diese fest, wobei sein Gegenüber zusammenzuckt und sich den Arm an den Bauch hält. Hat er etwa Schmerzen? Ob er noch Wunden an seinem Körper trägt?
Mich überkommt der Wunsch, Finn in meine Arme zu schließen, ihn dann zu packen und mit ihm durch die Flügeltüren zu fliehen. Ich bin so erleichtert, dass es ihm gut geht, da ich mir bereits viel grauenvollere Dinge ausgemalt habe.
Seine Schwester Carora zieht ihn ebenfalls kurz an sich, bevor sie sich mit einem unechten Lächeln von ihm löst und zurück an ihren Platz geht. Die Soldaten bringen Finn an den Tisch und er verzieht vor Schmerz das Gesicht, als er sich setzen muss.
»Auch wenn Euer Sohn wieder unter den Lebenden weilt, hat er dennoch eine Strafe zu verbüßen. Er widersetzte sich dem Imperium und tötete eine Sicaria, weshalb er vorerst im Kerker verweilen wird«, verkündet der Herrscher.
Ganora legt jedoch eine selbstbewusste Miene auf und hebt achtungsvoll das Kinn, als sie sich dem Imperator zuwendet. »Aber war es nicht die Abtrünnige, die meinen Sohn mit Runenmagie manipulierte und ihn dazu zwang, diese Taten auszuführen?«
Der Anflug eines gehässigen Lächelns schleicht sich für den Moment in das Gesicht des Monsters. »Wollt Ihr ihn das nicht selbst fragen?«
Finns Muskeln spannen sich sichtbar an und ich werde ebenfalls furchtbar nervös auf meinem Sitz.
»Erzähl uns die Wahrheit, Finnigan Bassett.«
Mein Mund wird ganz trocken, als ich vollkommen hilflos zu Finn blicke. Ich kann ihm in dieser Situation nicht helfen, da er sich nur auf eine der beiden Seiten stellen kann. Auf die der Familie oder meine. Doch wenn er schlau ist, lässt er mich als das Böse dastehen, damit er nicht noch mehr Probleme bekommt. Ich würde es ihm niemals verübeln, weil ich die Wahrheit bereits kenne.
Finn überlegt einen Moment, und sein Gesicht verfinstert sich. »Ich sehe hier nur ein Monster, das bestraft werden muss.«
Roan, Lokris und Lokrezia sind plötzlich mehr als amüsiert über diese Unterhaltung, während meine Nerven beinahe vor Spannung zerreißen.
Der Imperator sieht ihn herausfordernd an. »Würdest du bitte dieses Monster benennen?«
»Ihr seid das Monster«, wirft Finn dem Herrscher erbost an den Kopf.
Während ich bereits nichts Gutes ahne, tauschen Roan und sein Vater einen kurzen Blick aus und ich bemerke, wie der Sohn unter dem Tisch eine Handbewegung macht, als beschwöre er irgendwelche Kräfte herauf.
Finn stößt einen wehleidigen Schrei aus und hält sich verkrampft den Bauch. An seinem hellen Hemd, das er unter dem Harnisch trägt, erkenne ich Blutflecken, die immer größer werden. Roan reißt mit seiner Magie die Wunden auf und foltert Finn damit.
Nein, bitte nicht! Nicht hier! Ich kann nicht mit ansehen, wie er vor allen anderen gedemütigt wird und Schmerzen erleidet.
Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, erhebe ich mich abrupt von meinem Platz und sehe flehentlich zu Roan und dem Imperator. »Bitte, hört auf!«
Sein Sohn wirkt über meine Reaktion vergnügt, als hätte er sie erwartet. »Wieso sollte ich? Er ist ein Gesetzesbrecher, Cousine. Genau wie du.«
Entsetzte Laute grollen über den Tisch, als Roan meine Verwandtschaft mit dem Imperator preisgibt, die mich noch immer zutiefst erschüttert. Wer es vorhin durch Lokrezias Bemerkung nicht begriffen hat, der weiß es jetzt.
Der Herrscher lehnt sich in seinem Thron zurück und klärt die unruhige Menge auf. Selbst in Finns Augen bemerke ich, dass er gerade nicht versteht, was hier vor sich geht. »Ravaneas Mutter, Ravatoria, die vor sehr langer Zeit beschlossen hat, dem Palast den Rücken zu kehren, ist die Schwester meiner Gattin Torava. Deshalb gehört Ravanea nun zur Familie.«
Wieder wird der Adel am Tisch unruhig, auch wenn er über die Erklärung mehr als schockiert ist.
Der Imperator scheint jedoch mit seiner Rede noch nicht fertig zu sein. »Doch auch Familienmitglieder werden bestraft, wenn sie entgegen unseren Gesetzen handeln, denn diese gelten für jeden Einzelnen im Imperium.«
Natürlich. Darauf hätte ich selbst kommen können. Er macht mich zum perfekten Beispiel für seine Gleichberechtigung und Härte. Der Adel soll nicht glauben, dass ich verschont werde, nur weil ich zur Familie des Imperators gehöre. Damit stellt er sich als gerechter Herrscher dar, der er aber nicht ist. Ihm ist mein Leben vollkommen gleichgültig, das von Danev allerdings nicht.
›Was der einzige Grund ist, weshalb du noch lebst. Aber das weiß er, deshalb bin ich mir sicher, dass er dir nur so weit wehtun würde, wie du es ertragen kannst. Noch mal lässt er deinen Körper nicht an seine Grenzen gehen, damit ich dich hier heraushole‹, erklärt Danev, und ihre unerschrockene Wahrheit verpasst mir einen Stich.
›Das ist mir bewusst, Danev.‹
Ihre Stimme klingt nun schwerer, als müsste sie sich anstrengen zu sprechen: ›Merkwürdig. Irgendwie fühlt sich alles so seltsam an.‹
Ich werde stutzig. ›Was meinst du?‹
Darauf erhalte ich allerdings keine Antwort mehr, was mir Sorgen bereitet. Ob Danev krank wird? Kann sie das überhaupt? Vielleicht tut ihr der Ort nicht gut oder die Nähe des Imperators, an dem die meiste Macht von portes tenebra haftet.
Ich hoffe, dass der Abend so schnell wie möglich endet.
Da ich noch immer von den meisten angestarrt werde, setze ich mich wieder auf den Stuhl zurück und bemerke gleichzeitig, dass Roan von Finn abgelassen hat. Er atmet zwar weiterhin schwer, doch die großen Schmerzen scheinen ihm genommen worden zu sein.
»Nun lasst uns essen«, ruft der Imperator, der die Dienerschaft dazu auffordert, die Speisen auf dem silbernen Tisch zu platzieren.
Da ich meine rechte Hand nicht benutzen kann, lasse ich mir nur Suppe geben und nehme den Löffel in meine linke. Meine Arme zittern ein wenig, weil mich die Anwesenheit des Adels und die wachen Augen des Imperators zu nervös machen. Selbst Lokris kann seinen Blick nicht von mir abwenden, und öfter landet seine widerliche Hand auf meinem Schoß.
Immer wieder sehe ich zu Finn, um mich zu vergewissern, wie sein derzeitiger Zustand ist. Unsere Blicke kreuzen sich hin und wieder, sprechen von Wehmut und Sehnsucht. Ich will ihm so gerne helfen, ihm die Qual nehmen, die er in den dunklen Gewölben ertragen muss, doch ich kann mich nicht einmal selbst retten. Und genau dieser Gedanke entpuppt sich als einer der schlimmsten.
Ich bin zu schwach für ihn. Zu schwach für uns.
Mit der Zeit vergeht mir der Appetit, wobei ich noch nicht einmal die Hälfte der Gemüsebrühe geschafft habe. Warum sollte ich überhaupt etwas essen? Um bei Kräften zu bleiben? Um immer wieder und wieder nur Leid und Schmerz zu ertragen?
›Ravanea‹, höre ich Danev mit brüchiger Stimme sagen. Sie klingt plötzlich viel menschlicher. Was hat sie nur? ›Bitte, du darfst dir nicht das Ende einreden. Wir werden es hier herausschaffen.‹
›Rede keinen Unsinn‹, entgegne ich gereizt. ›Du musst diese Qualen ja nicht aushalten, schließlich ist es nicht dein Körper, der leidet.‹
Daraufhin verstummt sie, weil sie wohl ganz genau weiß, dass ich recht habe. Doch was ist ihr verdammtes Problem? Dieser unüberwindbare Palast ist unser Ende. Wir werden nie mehr etwas anderes als diese grässlichen, einsamen Mauern sehen. Wenn sie einen neuen Körper besäße, könnte sie von Neuem beginnen und ich bekäme meine Erlösung.
Natürlich bin ich mir bewusst, dass es feige ist, den Tod zu wählen, und damit die Probleme, die noch vor uns liegen, zurückzulassen. Aber ich kann hier nichts mehr ausrichten, da die machtgierigen Hände des Imperators meinen Hals umschlungen halten, Lokris seine Finger bereits zwischen meine Schenkel zu schieben versucht und Roan Finn in seiner Gewalt hat.
Durch meine Nachricht an Iain werden die Teilschöpfungen ebenfalls keine weiteren Versuche starten, um mich aus Baltora herauszuholen. Vielleicht bin ich sogar bis dahin längst tot.
Es gibt keine Hoffnung mehr. Jedenfalls nicht für uns drei.
Nach dem Essen spielt das Orchester die Musik etwas lauter und es wird getanzt. Dadurch leert sich der Tisch und ich bin dafür dankbar, endlich nicht mehr unter Beobachtung zu stehen.
Der Imperator und Torava machen die ersten Schritte und mir fällt dabei auf, wie gefühllos die beiden tanzen. Besonders der Herrscher, der nichts mehr empfindet außer Hass und Machtgier, wirkt wie eine sich bewegende Statue. Aschfahl, kalt und unberechenbar.
Ich wende den Blick ab und stelle fest, dass Finn mich die ganze Zeit verstohlen ansieht. Wie gern ich einfach aufstehen würde, um bei ihm zu sein. Ich vermisse seine Wärme, seine Nähe und das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Ob es ihm genauso ergeht?
Während wir uns ansehen, ist mir nicht aufgefallen, dass sich eine Träne aus meinem Auge gelöst hat und nun meine Wange hinabwandert. Ich wische sie schnell weg, bevor sie noch Roan oder Lokris zu Gesicht bekommt.
Die Geschwister beschließen ebenfalls auf die Tanzfläche zu gehen und ich bin froh, dass ich dazu anscheinend kein Recht habe. Mit einem prüfenden Blick über meine Schulter merke ich, wie sich die anderen vollkommen konzentriert ihrem Tanz widmen. Ist das vielleicht meine Chance?
Heimlich stehe ich auf und bewege mich langsam an den leeren Stühlen vorbei, um keine Blicke auf mich zu ziehen. Dabei bemühe ich mich, mit aufrechtem Rücken zu gehen, um mich der Menge anzupassen.
Finn sieht mich angespannt an, als hielte er mein Vorhaben für keine gute Idee. Selbst neben ihm sitzt niemand mehr, seine Familie ist wohl erleichtert gewesen, als sie sich von ihm entfernen durfte. Sie tanzt nun ebenfalls auf der Tanzfläche.
Dabei habe ich immer daran geglaubt, dass Familie zusammenhält. Aber dieser Glaube gilt nicht für alle Gemeinschaften in dieser Welt.
Gerade als ich die Kurve erreiche, packt mich plötzlich jemand an der Hand und zieht mich zurück. Ich sehe in die himmelblauen Augen von Lokris, der mich amüsiert angrinst. »Du wolltest doch nicht gerade im Ernst zu deinem Geliebten, oder?«
Ich schlucke schwer und schaue reumütig, beinahe hilflos zu Finn, der aufzustehen versucht.
Doch Lokris hebt eine Hand, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. »Wenn du nicht willst, dass dich mein Bruder hier vor allen Leuten umbringt, dann solltest du die Füße stillhalten«, droht er ihm.
Als ich über meine Schulter auf die Tanzfläche schaue, bemerke ich erst jetzt, dass Roan uns niemals aus den Augen gelassen hat. Besonders Finn nicht, seinen Sklaven, mit dem er machen kann, was er will.
Wenn Lokris ihn nicht gewarnt hätte, wäre es wirklich möglich gewesen, dass Roan seine Kräfte an ihm ausgelassen hätte. Aber wieso hat er das überhaupt getan? Ist es nicht Lokris’ Bedürfnis, Leid und Schmerz zu säen? So wie sein Vater? Oder jeder andere, der mit dem Imperator groß geworden ist?
»Bitte«, flehe ich und schaue erneut zu Finn. »Ich will doch nur kurz zu ihm.«
Lokris lässt sich nicht weichkriegen. »Nein.«
Er zieht mich vom Tisch weg, auch wenn ich mich nur zögerlich fortbewege. Ich wollte Finn doch nur berühren, für einen kleinen Moment. Der Imperator hat ihn absichtlich eingeladen, damit mich das Gefühl der Sehnsucht zerfrisst. Ich soll ihn ansehen, aber weder berühren noch mit ihm reden dürfen.
Tatsächlich erweist sich diese Folter als eine der schlimmsten. Lieber hätte er mir noch einmal in die Hand stechen sollen, als mir Finn weiterhin auf diese Weise vorzuführen.
Außerdem muss ich doch wissen, wie es um ihn steht, was Roan mit ihm gemacht hat und wie es meinem Bruder geht.
Voller Bedauern lasse ich mich wieder von Finn wegziehen und kämpfe währenddessen mit den Tränen, die sich erneut in meinen Augen anbahnen. In letzter Zeit kann ich meine Gefühle immer weniger kontrollieren, spüre dafür jedoch Stück für Stück, wie mich dieser Ort innerlich zerreißt.
Lokris bringt mich an den Rand der tanzenden Menge, wo er mich ebenfalls dazu auffordert, ihm einen Tanz zu gewähren. Was habe ich schon für eine Wahl?
»Ich kenne aber keinen der Schritte. Schon vergessen, dass ich mit einem Schwert und dem nackten Überleben groß wurde?«, erinnere ich ihn in einem zynischen Tonfall.
Lokris lächelt nur und nimmt meine gesunde Hand in seine. »Dann lässt du dich besser von mir führen, sonst könnte es wirklich passieren, dass du mit deinen Dummheiten heute noch deinen Arm verlierst.«
»Kann dir doch egal sein«, entgegne ich knurrend.
Lokris lässt sich davon nicht beeindrucken und beginnt den ersten Schritt zu tun. Tatsächlich stellt er es so geschickt an, dass ich weder auf seine Füße trete noch ihn anremple. Wir bewegen uns leichtfüßig und im Gleichschritt über die Tanzfläche, ohne dabei aufzufallen.
»Mein Vater mag es nicht, wenn man seine Regeln nicht befolgt, ganz gleich, wie klein und unbedeutend diese auch erscheinen«, raunt er so leise, dass nur ich es verstehe.
»Er wird mich schon nicht umbringen.«
Wir drehen uns, und als er mich wieder an sich zieht, drückt er mich so eng an seine Brust, dass ich den Duft von Zitronenblättern an ihm wahrnehme. »Nein, das wird er tatsächlich nicht.« Seine Miene wird ernst. »Aber er weiß, wie er einen Menschen brechen kann.«
»Dann hättest du wohl ein leichteres Spiel heute Abend«, zische ich.
Er zuckt bloß mit den Schultern und dreht mich erneut im Kreis, wobei mir auffällt, dass er dafür eigentlich meine rechte Hand benutzen müsste. Ich würde es nicht ertragen, wenn er sie zudrückt, während er mich führt. Stattdessen greift er nach meinem Handgelenk. Aber wieso ist er so umsichtig? Er weiß, dass ich trotz der Schmerzen den Mund zu halten habe, um das Fest des Imperators nicht zu stören.
Als der Tanz endet, verbeugt sich Lokris höflich vor mir und ich mache, so gut es geht, einen Knicks. Der Imperator bedeutet mir mit einer Kopfbewegung, mich zu setzen, als alle die Tanzfläche räumen, um kleine Grüppchen zu bilden und miteinander zu reden. Die Musik wird dennoch weitergespielt.
Ich gehorche, merke jedoch, dass Lokris mir nicht folgt, sondern den Saal verlässt.
Tatsächlich werde ich aus dem Blondschopf nicht schlau. Auf wessen Seite steht er? Bei Roan ist mir sofort klar gewesen, dass er der Liebling des Imperators ist und demzufolge wohl auch die Tafel besitzt. Lokrezia ist eine verwöhnte, schnippische Göre, die sich alles nimmt, was sie will. Aber Lokris … seine Absichten sind mir unergründlich, doch mein Gefühl rät mir, gerade bei ihm äußerste Vorsicht walten zu lassen.
»Ravanea«, ruft der Imperator nach mir und verlässt seinen Platz, auf den er sich eigentlich erst gesetzt hat. »Steh auf und folge mir.«
Was hat er nun vor? Habe ich etwas falsch gemacht? Werde ich bestraft?
Oh Schöpfer! Seit wann habe ich so ängstliche Gedanken? Wie eingeschüchtert bin ich bereits? Wo ist mein Selbstbewusstsein geblieben?
Doch ohne zu zögern, erhebe ich mich und gehorche dem Herrscher.