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Siebentes Kapitel

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Eine Woche eifrigsten Lesens war vergangen, seit er Ruth Morse zum ersten Male gesehen hatte, und noch wagte er nicht, sie zu besuchen. Immer wieder sprach er sich Mut zu, dann aber erhoben sich wieder Zweifel und erstickten seine Entschlossenheit. Er kannte nicht die passende Besuchszeit, es gab keinen, der sie ihm sagte, und so fürchtete er, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Da er aber seine alten Gefährten und seine alte Lebensweise abgeschüttelt und keine neuen Gefährten gefunden hatte, konnte er nichts als lesen. Die langen Stunden, die er dieser Beschäftigung opferte, hätten ein Dutzend Paar gewöhnlicher Augen verdorben. Aber seine Augen waren stark, und ein wunderbar kräftiger Körper half ihnen. Dazu war sein Geist aufnahmebereit. In bezug auf Bücherweisheit hatte er sein ganzes Leben brachgelegen, und jetzt war er reif zur Aussaat. Er, den noch nie ein Studium überanstrengt hatte, verbiß sich jetzt in das Wissen, das er in den Büchern fand, verbiß sich mit scharfen Zähnen, die nicht locker lassen wollten.

Am Ende der Woche schien es ihm, als ob er Jahrhunderte gelebt hätte, so weit war er über sein altes Leben und seine alten Gesichtspunkte hinausgelangt. Er wurde jedoch durch seinen Mangel an Vorbildung genarrt. Er versuchte Bücher zu lesen, die ein jahrelanges Spezialstudium erfordert hätten. Den einen Tag las er ein Buch über alte Philosophie und am nächsten Tage ein hypermodernes, so daß ihm von dem Widerspruch und dem Streit der Ideen der Kopf wirbelte. Und ebenso ging es ihm mit der Nationalökonomie. Auf ein und demselben Regal in der Bibliothek fand er Karl Marx, Ricardo, Adam Smith und Mill, und die schwerverständlichen Formulierungen des einen ließen ihn nicht ahnen, daß die Vorstellungen des andern veraltet waren. Er war verwirrt und wollte dennoch Bescheid wissen. An einem einzigen Tage hatte ihn das Interesse für Ökonomie, Industrie und Politik gepackt. Auf dem Wege durch den Rathauspark hatte er eine Menschenansammlung bemerkt, in deren Mitte fünf oder sechs Männer standen, die mit roten Gesichtern laut und ernsthaft diskutierten. Er schloß sich den Zuhörern an und vernahm jetzt eine neue, fremde Sprache, wie diese Philosophen des Volkes sie redeten. Der eine war ein Vagabund, ein anderer ein Arbeiteragitator, ein dritter Student der Jurisprudenz, und die übrigen waren redegewandte Arbeiter. Zum ersten Male hörte er etwas von Sozialismus, Anarchismus und Einzelbesteuerung und erfuhr, daß es einander widersprechende sozialphilosophische Systeme gab. Er hörte Hunderte von technischen Ausdrücken, die ihm neu waren, weil sie Gedankengebieten angehörten, mit denen er bei seinem bißchen Lesen noch nicht in Berührung gekommen war. Daher konnte er den Beweisgründen nicht recht folgen und die Ideen nur ahnen und erraten, die in all diese fremden Ausdrücke verkleidet auftraten. Dann kam ein schwarzäugiger Kellner, der Theosoph, ein gewerkschaftlich organisierter Bäcker, der Agnostiker war, ein alter Mann, der sie alle mit der merkwürdigen Philosophie verspottete, daß alles, was ist, richtig ist, und ein anderer alter Mann, der endlos über Weltall, Vateratom und Mutteratom schwatzte.

Martin Edens Kopf befand sich in einem Zustand völliger Verwirrung, als er nach mehreren Stunden den Park verließ und in die Bibliothek eilte, um die Bedeutung von einem Dutzend Fremdwörtern nachzuschlagen. Und als er die Bibliothek verließ, hatte er vier Bände unter dem Arm: Madame Blavatskys ›Geheimlehre‹, ›Fortschritt und Armut‹, ›Die Quintessenz des Sozialismus‹, und ›Krieg zwischen Religion und Wissen‹. Unglücklicherweise begann er mit der ›Geheimlehre‹; jede Zeile wimmelte von vielsilbigen Wörtern, die er nicht verstand. Er setzte sich im Bett auf und las mehr im Wörterbuch als in dem Werke selbst. So viele neue Wörter schlug er nach, daß er, wenn sie wieder auftauchten, ihre Bedeutung schon vergessen hatte und noch einmal nachschlagen mußte. Dann kam er auf den Einfall, die Bedeutung in ein Notizbuch niederzuschreiben, und er füllte Seite auf Seite damit. Aber den Sinn verstand er immer noch nicht. Er las bis drei Uhr morgens, und sein Hirn war ganz in Aufruhr, aber er hatte nicht einen einzigen tragenden Gedanken des Textes erfaßt. Er blickte auf, und es kam ihm vor, als ob die Stube sich hob und senkte wie ein Schiff im Sturm. Da schleuderte er die ›Geheimlehre‹ fluchend in die Ecke, drehte das Gas aus und legte sich schlafen. Mit den andern drei Büchern hatte er auch nicht viel mehr Glück. Nicht, daß sein Hirn schwach oder untauglich gewesen wäre, es hätte diese Gedanken gut fassen können, aber ihm fehlten die Übung im Denken und die Werkzeuge dazu. Er sah es selber ein und ging eine Zeitlang mit der Absicht um, nichts als das Wörterbuch zu lesen, bis er jedes Wort, das darin stand, auswendig wußte.

Aber sein Trost war die Poesie. Und er las viel und fand die größte Freude an den einfacheren Dichtern, die am verständlichsten waren. Er liebte Schönheit, und hier fand er Schönheit. Poesie machte wie Musik einen tiefen Eindruck auf ihn, und obwohl er es selbst nicht wußte, bereitete er seinen Kopf dadurch für die mühseligere Arbeit vor, die kommen sollte. Sein Gehirn war wie ein Buch mit unbeschriebenen Seiten, viele der Dinge, die er las und die ihm gefielen, druckten sich ohne Anstrengung Strophe um Strophe auf diesen unbeschriebenen Seiten ab, und bald hatte er die große Freude, sich laut oder ganz leise all die Musik und Schönheit aufsagen zu können, die aus den gelesenen Druckzeilen sprach. Dann stieß er auf Gayleys ›Klassische Sagen‹ und Bullfinchs ›Zeitalter der Fabel‹, die nebeneinander in der Bibliothek standen. Das war eine Erleuchtung, ein heller Strahl in der Finsternis seiner Unwissenheit, und jetzt las er Dichtung mit größerer Gier als je zuvor.

Der Mann in der Bibliothek hatte Martin so oft dort gesehen, daß er ihn beim Eintreten freundschaftlich mit Lächeln und Nicken begrüßte. Das ermutigte Martin eines Tages zu einem kühnen Entschluß. Als er sich einige Bücher ausliefern ließ und der Mann die Karten abstempelte, sagte er plötzlich:

»Hören Sie, ich möchte Sie gern etwas fragen.«

Der Mann blickte lächelnd auf.

»Wenn man eine junge Dame kennenlernt und sie einen auffordert, sie zu besuchen, wie bald kann man dann kommen?«

Martin fühlte, wie sein Hemd sich schweißnaß an seine Schultern klebte.

»Na, eigentlich jederzeit«, antwortete der Mann.

»Ja, aber die Sache ist ein bißchen anders«, wandte Martin ein. »Sie… ich… also, sehen Sie, es ist so: Vielleicht ist sie nicht zu Hause. Sie besucht die Universität.«

»Dann müssen Sie eben ein andermal wiederkommen.«

»Das meinte ich nicht«, gestand Martin stockend und entschloß sich dann, sich der Gnade des anderen auszuliefern. »Ich bin nur ein einfacher Bursche, und ich habe nie etwas von gesellschaftlichem Leben gesehen. Das junge Mädchen ist nicht wie ich, und ich bin nichts ihr gegenüber. Sie denken doch wohl nicht, daß ich mich zum Narren mache?« fragte er plötzlich.

»Nein, nein, durchaus nicht«, protestierte der andere. »Ihre Frage fällt nicht gerade in mein Ressort hier in der Bibliothek, aber es wird mir eine Freude sein, Ihnen zu helfen.«

Martin sah ihn bewundernd an. »Ja, wenn ich so quasseln könnte, dann wäre alles in Ordnung«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Ich meine, wenn ich so leicht und gebildet reden könnte und – «

»Ach so!« sagte der andere verständnisvoll.

»Welches ist die beste Besuchszeit? Nachmittags – nicht zu kurz vor der Essenszeit? Oder abends? Oder auch sonntags?«

»Ich will Ihnen was sagen«, meinte der Bibliothekar, und sein Antlitz erhellte sich. »Rufen Sie sie an und fragen Sie sie.«

»Das will ich tun«, sagte er, nahm die Bücher und wandte sich zur Tür. Aber er kehrte noch einmal um und fragte:

»Wenn man mit einer jungen Dame spricht – sagen wir, sie heißt Lizzie Smith –, sagt man dann ›Fräulein Lizzie‹ oder ›Fräulein Smith‹?«

»Sagen Sie ›Fräulein Smith‹«, entschied der Bibliothekar. »Sie müssen immer Fräulein Smith sagen, bis Sie sie besser kennenlernen.«

Und so löste Martin denn das Problem.

»Kommen Sie, wann Sie wollen; ich bin den ganzen Nachmittag zu Hause«, beantwortete Ruth seine hervorgestammelte Frage, wann er ihr die geliehenen Bücher zurückbringen könnte.

Sie empfing ihn selbst an der Tür, und ihr weiblicher Blick sah sofort die Bügelfalte und die entschiedene, wenn auch unbestimmbare leichte Veränderung zum Besseren, die mit ihm vorgegangen war. Auch sein Gesicht überraschte sie. Seine Gesundheit wirkte fast überwältigend und schien mit starken Wogen von ihm zu ihr überzuströmen. Wieder fühlte sie den Drang, sich an ihn zu lehnen, um Wärme zu empfangen, und wieder wunderte sie sich über die Wirkung, die seine Gegenwart auf sie ausübte, während er seinerseits bei der Berührung ihrer Hände wieder von einer schwindelnden Seligkeit durchbebt wurde. Der Unterschied zwischen ihnen war, daß sie ruhig und selbstbeherrscht blieb, während er bis zu den Haarwurzeln errötete. Er stolperte so linkisch wie beim ersten Besuch hinter ihr her, und seine Schultern schwangen gefährlich weit aus.

Sobald sie im Wohnzimmer saßen, benahm er sich freier – weit freier, als er selbst gedacht hatte. Sie erleichterte es ihm, und die Liebenswürdigkeit, mit der sie es tat, machte ihn verliebter denn je. Zuerst sprachen sie über die geliehenen Bücher, über Swinburne, auf den er schwor, und über Browning, den er nicht verstand; dann brachte sie das Gespräch auf andere Gegenstände, während sie darüber nachdachte, wie sie ihm helfen könnte. Seit ihrer ersten Begegnung war dieser Gedanke ihr so oft gekommen. Sie wollte ihm gern helfen. Er rief ihr Mitleid und ihre Zärtlichkeit in einer Weise wach, wie es noch keiner je getan, und ihr Mitleid war weniger Überlegenheit als Mütterlichkeit. Es konnte kein gewöhnliches Mitleid sein, wenn der, der es hervorrief, so sehr Mann war, daß er ihr ein Gefühl jungfräulicher Angst einflößte und ihre Seele und ihren Körper vor unerklärlichen Gedanken und Gefühlen beben ließ. Wieder fühlte sie den alten Zauber, den sein Hals gleich am ersten Tage auf sie ausgeübt hatte, und der Gedanke, ihren Arm um ihn zu schlingen, war süß. Es erschien ihr immer noch als eine ungebührliche Regung, aber sie hatte sich schon mehr daran gewöhnt. Sie ließ sich nicht träumen, daß unter solcher Verkleidung ihre neugeborene Liebe sich verbarg. Sie ließ sich auch nicht träumen, daß das Gefühl, das er in ihr erregte, Liebe war. Sie glaubte lediglich, daß sie sich für ihn als für einen ungewöhnlichen Menschen interessierte, der große Entwicklungsmöglichkeiten besaß, und sie fühlte sich ihm gegenüber als Philanthropin.

Sie wußte nicht, daß sie sich nach ihm sehnte; ihm aber erging es anders. Er wußte, daß er sie liebte, und er sehnte sich nach ihr, wie er sich noch nie im Leben nach etwas gesehnt hatte. Er hatte die Poesie um der Schönheit willen geliebt; aber seit er sie getroffen, waren die Tore zu dem ungeheuren Feld der Liebesdichtung weit geöffnet. Sie hatte ihm mehr Verständnis geschenkt als Bullfinch und Gayley. Es gab eine Zeile, der er vor einer Woche noch keinen Gedanken geschenkt haben würde: »Gottes erkorener, wahnsinngeschlagener Liebender, der stirbt für einen Kuß«; jetzt aber lag sie ihm ständig im Sinn. Er grübelte darüber, wie wunderbar und wahr diese Zeile war, und als er sie ansah, wußte er, daß er mit Freuden für einen Kuß sterben könnte. Er fühlte sich selbst als Gottes erkorener, wahnsinngeschlagener Liebender, und kein Ritterschlag hätte ihn mit größerem Stolz erfüllen können. Jetzt endlich kannte er den Sinn des Lebens und wußte, warum er geboren war.

Während er sie ansah und lauschte, wurden seine Gedanken kühner. Wieder erlebte er das wilde Entzücken, das ihn durchbebt hatte, als sie ihm an der Tür die Hand drückte, und er sehnte sich danach, sie nochmals in der seinigen zu fühlen. Sein Blick wanderte oft zu ihren Lippen, und ihn hungerte nach ihnen. Aber es war nichts grob Irdisches in diesem Verlangen. Es machte ihm eine unsagbare Freude, jede Bewegung und jedes Spiel dieser Lippen beim Sprechen zu beobachten, und gleichwohl waren es nicht gewöhnliche irdische Lippen, wie alle andern Männer und Frauen sie hatten. Sie waren nicht aus Erdenstaub geformt. Es waren Lippen aus reinem Geist, und sein Verlangen nach ihnen schien völlig verschieden von dem, das er nach andern Frauenlippen gehabt hatte. Er hätte ihre Lippen küssen, seine Lippen aus Fleisch und Blut auf sie drücken können, und doch wäre es mit der gleichen Ehrfurcht und erhabenen Leidenschaft geschehen, mit der der wahrhaft Gläubige das Gewand Gottes küssen würde. Er war sich nicht bewußt, welch eine Verschiebung von Werten in ihm stattgefunden hatte, und er ahnte nicht, daß das Licht in seinen Augen, wenn er sie ansah, eben das war, das in den Augen aller Menschen leuchtet, wenn das Verlangen nach Liebe in ihren Herzen erwacht. Er ließ sich nicht träumen, wie feurig und männlich sein Blick war, und ebensowenig, daß die Flamme darin ihre Seele ergriff. Ihre rührende Jungfräulichkeit erhöhte und verbarg seine eigenen Gefühle, indem sie seine Gedanken zu sternenkalter Keuschheit erhob. Es würde ihn erschreckt haben, hätte man ihm erzählt, daß in seinen Augen ein Licht brannte, das sie wie warme Wogen durchströmte und eine ähnliche Wärme in ihr entzündete. Sie wurde leicht verwirrt dadurch, und obwohl sie den Grund nicht kannte, durchbrach es immer wieder mit einer wundersam berauschenden Macht ihren Gedankengang und zwang sie, nach Worten zu suchen, um den begonnenen Satz zu beenden. Die Sprache war ihr sonst stets leicht von den Lippen geflossen, und diese Unterbrechungen hätten sie verwirrt, wäre sie nicht zu dem Ergebnis gelangt, daß es daher kam, weil er ein so eigentümlicher Mensch war. Sie war für Eindrücke sehr empfänglich, und alles in allem war es nicht so merkwürdig, daß dieser Wanderer aus einer andern Welt durch seine fremde Atmosphäre derartig auf sie wirkte.

Im Hintergrund ihres Bewußtseins lag das Problem, wie sie ihm helfen könnte, und sie lenkte die Unterhaltung in diese Richtung; aber es war Martin, der das erste Wort sprach.

»Ich möchte so gern einen Rat von Ihnen haben«, begann er, und sie ging sofort bereitwillig darauf ein, daß sein Herz einen Sprung tat. »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich neulich sagte, ich könnte nicht über Bücher und dergleichen reden, weil ich nicht wüßte, wie. Nun, seitdem hab ich ein ganz Teil darüber nachgedacht. Ich bin viel in der Bibliothek gewesen; aber die meisten Bücher, mit denen ich mich abgegeben habe, waren mir zu hoch. Es wäre vielleicht am besten, wenn ich ganz von vorn anfinge. Ich habe nie etwas Ordentliches gelernt, von Kind an habe ich ziemlich schwer gearbeitet, und nachdem ich in der Bibliothek gewesen bin und die Bücher mit andern Augen angesehen habe – ja, auch neue Bücher gesehen habe –, ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich nicht die richtigen gelesen habe. Sehen Sie, die Bücher, die man auf einer Viehranch oder in der Back findet, sind nicht dieselben, die Sie zum Beispiel hier im Hause haben. Und solche Art Bücher war ich eben gewohnt. Und doch – und ich will damit jetzt nicht prahlen – bin ich anders gewesen als die Leute, mit denen ich zusammen Vieh hütete. Nicht daß ich etwas Besseres bin als die Matrosen und die Viehhirten, mit denen ich zusammen lebte – ich bin eine Zeitlang Viehhirt gewesen, wissen Sie –, aber ich habe immer Bücher geliebt und alles gelesen, was ich in die Finger kriegen konnte, und… ja, ich glaube, ich denke anders als die meisten von ihnen.

Aber was ich sagen wollte: Ich bin noch nie in einem Hause wie diesem gewesen. Als ich vor einer Woche herkam und Sie und Ihre Mutter und Ihre Brüder und alles andere sah, da – ja, es gefiel mir. Ich hatte von solchen Dingen gehört und in Büchern darüber gelesen, und als ich mich in Ihrem Hause umsah, da war es gerade wie in den Büchern. Aber was ich sagen wollte: es gefiel mir. Ich hätte es gern selbst so gehabt. Ich möchte es gern jetzt so haben. Ich möchte, daß die Luft, die ich atme, so ist wie in diesem Hause – eine Luft, die von Büchern, Bildern und schönen Dingen erfüllt ist, in der die Leute leise reden, rein sind und rein denken. Die Luft, die ich bisher geatmet habe, war immer vermischt mit Essen und Miete und Kneipen und Schlägereien, und das war auch alles, worüber man redete. Sehen Sie, als Sie durchs Zimmer gingen und Ihre Mutter küßten, dachte ich, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Ich habe allerhand in meinem Leben gesehen, und auf eine Art habe ich eine Masse mehr dabei erlebt als die meisten, mit denen ich zusammen war. Ich will sehen, und ich möchte gern mehr sehen und es auch anders sehen.

Aber ich bin noch nicht zur Hauptsache gekommen, und die ist: Ich will versuchen, es dahin zu bringen, daß ich ein Leben führen kann, wie Sie es hier im Hause leben. Es gibt anderes und Besseres im Leben als schwere Arbeit und Kneipen und sich herumtreiben. Aber wie soll ich das erreichen? Wo soll ich anfangen? Ich will dafür arbeiten, wissen Sie, und ich kann es mit den meisten aufnehmen, wenn es schwere Arbeit gilt. Wenn ich erst einmal angefangen habe, werde ich Tag und Nacht arbeiten. Vielleicht finden Sie es komisch, daß ich Sie nach alledem frage, ich weiß, Sie sind die letzte auf der Welt, die ich fragen sollte, aber ich kenne sonst niemand, den ich fragen könnte… außer Arthur. Vielleicht sollte ich lieber ihn fragen. Denn ich…«

Seine Stimme versagte. Die feste Entschlossenheit, die ihn bisher getrieben hatte, verschwand bei dem furchtbaren Gedanken, daß er Arthur hätte fragen sollen und daß er sich lächerlich gemacht habe. Ruth antwortete nicht gleich. Sie war zu sehr damit beschäftigt, seine stammelnde, unbeholfene Sprache und seinen einfachen Gedankengang mit seinem Gesichtsausdruck in Einklang zu bringen. Noch nie hatte sie in Augen geblickt, die eine solche Kraft ausstrahlten. Hier war ein Mann, der alles vermochte, so lautete die Botschaft, die sie in ihnen las, und die klang schlecht mit dieser mangelhaften Fähigkeit zusammen, seine Gedanken auszudrücken. Im übrigen war ihr eigenes Denken so kompliziert und schnell, daß sie Einfachheit nicht richtig zu würdigen vermochte; aber dennoch empfand sie, welche Kraft selbst in diesem Tasten seines Geistes lag. Er war ihr wie ein gefesselter Riese vorgekommen, der an seinen Banden riß und zerrte. Und als sie endlich sprach, drückte ihr Gesicht unendliches Mitgefühl aus.

»Sie wissen ja selbst sehr gut, was Sie brauchen: systematische Ausbildung. Sie sollten zuerst die Elementarschule beenden und dann die höhere Schule und die Universität besuchen.«

»Aber das kostet Geld«, warf er ein.

»Oh!« rief sie. »Daran hatte ich nicht gedacht. Aber Sie müssen doch Verwandte haben – irgend jemand, der Ihnen helfen könnte?«

Er schüttelte den Kopf.

»Mein Vater und meine Mutter sind tot. Ich habe zwei Schwestern, die eine ist verheiratet, und die andere wird wohl bald heiraten. Dann habe ich noch ein ganzes Schock Brüder – ich bin der Jüngste –, aber die haben noch nie jemand geholfen. Die treiben sich in der ganzen Welt herum und haben genug mit sich selbst zu tun. Der Älteste starb in Indien. Zwei sind jetzt in Südafrika, einer ist auf Walfang, und einer zieht mit einem Zirkus herum – er arbeitet am Trapez. Und mir geht es ganz wie ihnen. Seit meinem elften Jahr – als meine Mutter starb – habe ich selbst für mich gesorgt. Ich werde auch wohl auf eigene Faust studieren müssen, und was ich wissen möchte, ist eben, wo ich anfangen soll.«

»Zuallererst sollten Sie sich eine Grammatik anschaffen. Ihr Satzbau ist…« Sie hatte »schrecklich« sagen wollen, änderte es aber in »nicht besonders gut«.

Er errötete und schwitzte.

»Ich weiß, daß ich eine Menge Slang und Wörter rede, die Sie nicht verstehen. Aber das sind eben die einzigen, von denen ich weiß, wie ich sie aussprechen soll. Ich habe andere Wörter im Kopf – Wörter, die ich in Büchern gelesen habe, aber ich kann sie nicht aussprechen, und deshalb gebrauche ich sie nicht.«

»Es ist weniger was, als wie Sie es sagen. Sie brauchen nur etwas mehr Grammatik. Jetzt werde ich Ihnen ein Buch holen und zeigen, wie Sie anfangen sollen.« Als sie aufstand, fiel ihm etwas ein, das er in den Büchern über den guten Ton gelesen hatte, und er erhob sich linkisch, in schrecklicher Angst, daß es doch nicht richtig sei und daß sie es als Zeichen seines Aufbruchs ansehen könnte.

Als sie mit der Grammatik wiederkam, schob sie einen Stuhl neben den seinen – er dachte darüber nach, ob er ihr hätte helfen sollen – und setzte sich neben ihn. Sie blätterte in der Grammatik, und ihre Köpfe näherten sich einander. Er hatte Mühe, ihr, als sie ihm jetzt einen Arbeitsplan machte, zu folgen, so benommen war er von ihrer köstlichen Nähe. Als sie ihm aber die Bedeutung der Konjugation zu erklären begann, vergaß er sie über seiner Arbeit. Er hatte nie von diesen Dingen gehört und war vollkommen bezaubert von dem Einblick in das Knochengerüst der Sprache. Er beugte sich tiefer über das Buch, und ihr Haar berührte seine Wange. Er war nur einmal in seinem Leben ohnmächtig geworden, aber in diesem Augenblick fühlte er sich wieder einer Ohnmacht nahe. Er konnte kaum atmen, und sein Herz preßte ihm das Blut in die Kehle, daß er fast erstickte. Nie war sie ihm so erreichbar erschienen wie jetzt. Für den Augenblick war der Abgrund zwischen ihnen überbrückt. Aber sein Gefühl für sie war deshalb nicht weniger erhaben. Sie war nicht zu ihm herabgestiegen. Er war es, der in die Wolken gehoben und zu ihr getragen wurde. Die Verehrung, die er in diesem Augenblick für sie hegte, glich religiöser Ehrfurcht und Inbrunst. Ihm war, als sei er ins Allerheiligste eingedrungen, und langsam und vorsichtig entzog er seinen Kopf der Berührung, die auf ihn wie ein elektrischer Schlag gewirkt und die sie gar nicht bemerkt hatte.

Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe

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