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Zehntes Kapitel

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An diesem Tage blieb er zum Essen, und zu Ruths großer Genugtuung machte er einen guten Eindruck auf ihren Vater. Sie sprachen über die Seefahrt als Beruf – ein Gegenstand, den Martin in- und auswendig kannte –, und Herr Morse bemerkte später, daß er ein sehr vernünftiger junger Mann zu sein schiene. Da Martin allen Slang vermeiden wollte und häufig nach den richtigen Ausdrücken suchte, war er gezwungen, langsam zu sprechen, was ihm wiederum ermöglichte, seine besten Gedanken zu finden. Er war freier als an jenem ersten Abend vor etwa einem Jahr, und seine Bescheidenheit verfehlte nicht ihre Wirkung auf Ruths Mutter, die sich über die deutliche Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, freute.

»Er ist der erste Mann, der je Eindruck auf Ruth gemacht hat«, sagte sie später zu ihrem Gatten. »Sie ist bisher Männern gegenüber so ungewöhnlich zurückhaltend gewesen, daß ich mir schon große Sorgen um sie gemacht habe.«

Herr Morse blickte seine Frau neugierig an.

»Und nun willst du diesen jungen Seemann dazu gebrauchen, sie zu ›erwecken‹?«

»Soweit ich dazu beitragen kann, soll sie nicht als alte Jungfer sterben«, lautete die Antwort. »Wenn der junge Eden in ihr das Interesse für Männer überhaupt erregen könnte, so wäre das gut.«

»Ausgezeichnet«, stimmte er zu. »Aber nimm an – man muß auch an so etwas denken, mein Kind –, nimm an, daß er in allzu hohem Maße ihr Interesse für sich persönlich erregt?«

»Unmöglich!« lachte Frau Morse. »Sie ist drei Jahre älter als er, und überhaupt ist das doch ganz unmöglich. Das hat keine Gefahr. Verlaß dich auf mich.«

Und so wurde Martin eine Rolle zugeteilt, während er, von Arthur und Norman angeregt, an eine große Unternehmung dachte. Sie wollten am Sonntagmorgen auf ihren Rädern in die Berge fahren, was Martin nicht interessierte, bis er hörte, daß Ruth auch mitfuhr. Er radelte zwar nicht, wenn Ruth es aber tat, wollte er auch damit anfangen, und so ging er denn auf dem Heimweg in eine Fahrradhandlung und gab vierzig Dollar für ein Fahrrad aus. Das war mehr als die mühsam verdiente Heuer eines ganzen Monats und riß ein großes Loch in seinen Geldbeutel; wenn er aber die hundert Dollar, die er vom ›Examiner‹ bekommen würde, zu den vierhundertundzwanzig Dollar legte, die das Jugendmagazin ihm als Mindestsumme zahlen mußte, so hatte er das Gefühl, auf diese Weise nur die Verlegenheit zu verringern, die ihm die ungewohnte Geldsumme bereitet hätte. Es machte auch nicht viel Eindruck auf ihn, daß er bei der Übungsfahrt nach Hause seinen neuen Anzug verdarb. Er rief am selben Abend vom Laden seines Schwagers aus den Schneider an und bestellte sich einen neuen. Dann trug er das Fahrrad die enge Treppe hinauf, die sich wie eine Feuerleiter an die Rückseite des Hauses klammerte, und als er sein Bett von der Wand abgerückt hatte, fand er, daß das kleine Stübchen gerade genügend Raum für ihn und das Fahrrad bot.

Den Sonntag hatte er eigentlich benutzen wollen, um sich für das Aufnahmeexamen vorzubereiten, aber der Artikel über die Perlenfischerei lockte ihn von der Arbeit fort, und er verbrachte den Tag in einem weißglühenden Fieber, um die Schönheit und Romantik, die in ihm brannte, in Worte zu fassen. Daß der ›Examiner‹ auch heute seinen Aufsatz über die Schatzsucher nicht brachte, verdarb seine gute Laune nicht, er war zu hochgestimmt. Und da er nicht hörte, daß er zweimal zum Essen gerufen wurde, mußte er die reichhaltige Mahlzeit entbehren, die bei Bernard Higginbotham regelmäßig dieses eine Mal in der Woche auf den Tisch kam. Für Bernard Higginbotham war ein derartiges Mittagessen der Ausdruck seines Wohlstands und Aufstiegs, und er würzte es durch kleinbürgerliche Predigten über die Einrichtungen Amerikas und die Möglichkeiten, in der Welt vorwärtszukommen, die diese Einrichtungen jedem tüchtigen Manne gaben. Dabei unterließ er es nie zu bemerken, daß er selbst es vom Krämerlehrling bis zum Inhaber von Higginbothams Bar- und Kassageschäft gebracht hatte.

Am Montagmorgen warf Martin Eden seufzend noch einen Blick auf den unvollendeten Artikel über die Perlenfischerei und fuhr dann mit der Straßenbahn nach Oakland zur Oberschule. Als er sich einige Tage später den Bescheid über den Ausfall des Examens abholte, erfuhr er, daß er in allen Fächern mit Ausnahme von Grammatik durchgefallen war.

»In Grammatik sind Sie ausgezeichnet«, sagte ihm Professor Hilton und starrte ihn durch seine großen Brillengläser an, »aber Sie wissen nichts, absolut nichts in den andern Fächern, und Ihre Unkenntnis in der Geschichte der Vereinigten Staaten ist geradezu furchtbar; es gibt kein anderes Wort dafür – furchtbar. Ich rate Ihnen…«

Professor Hilton hielt inne und starrte ihn so Sympathie- und phantasielos an wie eines seiner Reagenzgläser. Er war Physiklehrer an der Schule, hatte eine große Familie, ein mageres Gehalt und einen gewissen Schatz von eingelerntem Wissen.

»Ja«, sagte Martin ergeben und wünschte insgeheim, der Mann, der am Pult in der Bibliothek saß, könnte in diesem Augenblick den Platz Professor Hiltons einnehmen.

»Ich rate Ihnen, wieder in die Grundschule zu gehen und mindestens zwei Jahre dort zu bleiben. Guten Tag.«

Seine Niederlage machte keinen besonders starken Eindruck auf Martin, wenn er auch erstaunt war über das erschrockene Gesicht Ruths, als er ihr von dem Rat erzählte, den Professor Hilton ihm erteilt hatte. Ihre Enttäuschung war so offenkundig, daß es ihm leid tat, durchgefallen zu sein, aber hauptsächlich ihretwegen.

»Sie sehen, daß ich recht hatte«, sagte sie. »Sie wissen viel mehr als die andern Schüler, die in die Oberschule eintreten, und doch konnten Sie das Examen nicht bestehen. Das kommt daher, weil Ihre Bildung bisher so lückenhaft und oberflächlich war. Sie brauchen die Disziplin des Lernens, die nur ausgebildete Lehrer Ihnen geben können. Sie müssen die richtige Grundlage erhalten. Professor Hilton hat recht, und ich an Ihrer Stelle würde in die Abendschule gehen. Dort könnten Sie es vielleicht in anderthalb Jahren schaffen. Außerdem hätten Sie den Tag frei zum Schreiben oder, wenn Sie Ihr Brot nicht mit der Feder verdienen können, zu irgendeiner andern Arbeit.«

Wenn ich aber den Tag über arbeite und abends in die Schule gehe, wann habe ich dann Gelegenheit, sie zu sehen? war Martins erster Gedanke, wenn er ihn auch nicht aussprach. Statt dessen sagte er:

»Es erscheint mir so kindisch, in die Abendschule zu gehen. Aber daraus würde ich mir nichts machen, wenn ich glauben würde, daß es sich lohnt. Aber das glaube ich nicht. Ich kann allein alles viel schneller lernen, als die es mir beibringen können. Es wäre Zeitverlust« – er dachte an sie und seinen Wunsch, sie zu besitzen –, »und ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich kann wirklich nicht so viel Zeit dafür opfern.«

»Es ist so viel notwendig dazu.« Sie sah ihn freundlich an, und er kam sich gemein vor, weil er ihr widersprach. »Physik und Chemie – die können Sie nicht ohne Laboratorium lernen, und Sie werden bald einsehen, daß es fast hoffnungslos ist, Arithmetik und Geometrie ohne Unterricht lernen zu wollen. Sie brauchen tüchtige Lehrer, Spezialisten in der Kunst, Wissen zu vermitteln.«

Er schwieg einen Augenblick und grübelte darüber nach, wie er sich ausdrücken könnte, ohne daß es eingebildet klang.

»Glauben Sie nicht, daß ich prahlen will«, begann er. »Das ist durchaus nicht meine Absicht. Aber ich habe das Gefühl, daß ich von Natur zum Studium begabt bin. Ich kann allein lernen. Es ist mir angeboren, wie einer Ente das Schwimmen. Sie sehen selbst, was ich in der Grammatik erreicht habe. Und ich habe noch eine Menge anderes gelernt – wieviel, das ahnen Sie nicht. Und dabei habe ich doch erst angefangen. Warten Sie nur, bis ich richtig in Schwung bin. Ich fange ja erst an, Fühlung mit den Dingen zu nehmen. Ich fange an, den Kram mitzukriegen – «

»Bitte sagen Sie nicht: ›den Kram mitzukriegen‹«, unterbrach sie ihn.

Er fuhr errötend fort: »Ich kriege Land in Sicht. Das Wissen kommt mir vor wie ein Kompaßhaus. Jedesmal, wenn ich in die Bibliothek komme, wirkt es so auf mich. Der Lehrer soll dem Schüler den Kompaß systematisch erklären. Die Lehrer sind nur Führer in dem Kompaßhaus – das ist alles. Es ist nicht etwas, das sie selbst im Kopf haben. Sie erfinden es nicht, noch schaffen sie es. Es steht alles im Kompaßhaus; sie wissen, wie man sich darin zurechtfindet, und es ist ihre Sache, Fremden, die sich sonst leicht verirren würden, den Weg zu weisen. Sehen Sie, ich verirre mich nicht so leicht. Ich habe Ortssinn. Manche Leute brauchen Führer – die meisten; aber ich glaube, ich kann ohne sie zurechtkommen. Und ich habe nun schon eine ziemliche Zeit im Kompaßhaus verbracht und weiß bald selber, was ich nötig habe – welche Karten ich benutzen und welche Küsten ich erforschen will. Und mit meiner Methode, die Dinge zu sammeln, lerne ich allein viel schneller. Die Schnelligkeit einer Flotte wird bestimmt vom langsamsten Schiff, und ebenso ist es mit der Schnelligkeit der Lehrer. Sie gehen nicht schneller vorwärts, als die Masse ihrer Schüler mitkommt, und ich kann für mich allein ein schnelleres Tempo anschlagen als sie mit einer ganzen Klasse.«

»Der reist am schnellsten, der ganz allein reist«, zitierte sie.

Aber ich würde noch schneller mit Ihnen reisen! hätte er beinahe laut gerufen, und er sah eine endlose Welt sonniger Weiten und sternenheller leerer Räume vor sich, durch die er, den Arm um sie gelegt, schwebte, während ihr blaßgoldenes Haar ihm ins Gesicht wehte. Und im selben Augenblick erkannte er, wie kläglich unzureichend die menschliche Rede war. Herrgott! Wenn er doch nur die Worte finden könnte, um sie sehen zu lassen, was er in diesem Augenblick sah. Und er fühlte mit schmerzhafter Sehnsucht den drängenden Wunsch, die Gesichte zu schildern, die ungerufen im Spiegel seines Geistes aufleuchteten. Ah, das war es! Er rührte an den Saum des Geheimnisses. Das war es eben, was die großen Dichter und Schriftsteller machte. Daher waren sie Giganten. Sie verstanden das auszudrücken, was sie dachten, fühlten und sahen. Hunde, die in der Sonne schliefen, winselten und bellten, waren aber außerstande zu erzählen, was sie winseln und bellen ließ. Er hatte oft über die Ursache nachgedacht. Aber so war er also – ein Hund, der in der Sonne schlief! Er sah edle, schöne Gesichte, konnte Ruth aber nur anwinseln und anbellen. Aber er wollte nicht mehr in der Sonne schlafen. Er wollte sich mit offenen Augen erheben, kämpfen, arbeiten und lernen, bis er, mit sehenden Augen und gelöster Zunge, seinen ganzen Reichtum an Gesichten mit ihr teilen konnte. Andere Menschen hatten den Zauber des Ausdrucks entdeckt, wie man Worte zu gehorsamen Sklaven macht und Zusammenstellungen von Worten zu größerer Bedeutung erheben kann, als die Summe ihrer einzelnen Bedeutungen ausmacht. Er war tief erregt durch den flüchtigen Blick hinter das Geheimnis, und wieder umfingen ihn sonnige Weiten und sternenhelle leere Räume… bis er merkte, daß es sehr still im Zimmer war. Da sah er, wie Ruth ihn leise belustigt und mit einem Lächeln in den Augen anblickte.

»Ich habe eine große Vision gehabt«, sagte er, und bei dem Klang seiner eigenen Worte klopfte ihm das Herz heftig. Woher waren diese Worte gekommen? Sie hatten genau das ausgedrückt, was er in der Gesprächspause erlebt hatte. Es war ein Wunder. Nie hatte er einen hohen Gedanken so richtig ausgedrückt. Aber nie hatte er bisher versucht, hohe Gedanken in Worte zu fassen. Das war es. Das erklärte alles. Er hatte es nie versucht. Aber Swinburne hatte es getan und Tennyson und Kipling und alle andern Dichter. Seine Gedanken flogen zu den ›Perlenfischern‹ zurück. Nie hatte er sich an die großen Dinge gewagt, an die Schönheit, die wie Feuer in ihm brannte. Dieser Artikel würde etwas ganz anderes sein, wenn er ihn fertig hatte. Er erschrak über die ungeheure Schönheit, die mit Recht dort hineingehörte, und wieder erhob sich seine Seele zu den großen Dingen, und er fragte sich, warum er die Schönheit nicht wie die großen Dichter in edlen Versen besingen konnte. Und das geheimnisvolle Entzücken und geistige Wunder seiner Liebe zu Ruth, warum konnte er nicht auch das besingen, wie es die Dichter taten? Sie hatten von Liebe gesungen. Das wollte er auch tun. Verdammt –!

Und plötzlich hörte er diesen Ausruf in seinen erschrockenen Ohren. Er war hingerissen worden und hatte es laut gesagt. Das Blut stieg ihm in heißen Wellen ins Gesicht und ließ ihn, trotz der Sonnenbräune, bis zu den Haarwurzeln erröten.

»Ich – ich – bitte um Entschuldigung«, stammelte er. »Ich dachte.«

»Es klang, als ob Sie beteten«, sagte sie mutig, aber innerlich schauderte sie zurück. Es war das erstemal, daß sie einen Mann, den sie kannte, fluchen hörte, und sie fühlte sich verletzt, nicht nur infolge ihrer Prinzipien und ihrer Erziehung, sondern auch im Innersten verletzt durch diesen rauhen Lebenshauch, der in den Garten ihrer jungfräulichen Unberührtheit eindrang.

Aber sie verzieh ihm und wunderte sich gleichzeitig, daß ihr dies Verzeihen so leicht wurde. Es war ja auch nicht so schwer, ihm zu verzeihen. Er hatte nicht die Möglichkeit gehabt, so zu werden wie die Männer, die sie kannte, er bemühte sich sehr darum und hatte ja auch Erfolge. Nie war ihr eingefallen, daß ihre freundliche Gesinnung ihm gegenüber andere Gründe haben könnte. Ihre Gefühle waren von Zärtlichkeit getragen, aber sie wußte es nicht. Woher sollte sie es auch wissen? Das ruhige Gleichmaß ihrer vierundzwanzig Jahre ohne eine einzige Liebeserfahrung gewährte ihr keinen Einblick in ihre Gefühle; sie war nie von wirklicher Liebe ergriffen worden und wußte darum nicht, daß sie jetzt dazu erwachte.

Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe

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