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Neuntes Kapitel

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Martin Eden kam von See nach Kalifornien zurück mit der Sehnsucht eines Liebenden. Als sein Geld verbraucht war, hatte, er als Matrose auf dem Schatzsucherschiff angeheuert. Auf den Salomoninseln hatte sich dann die Expedition aufgelöst, nachdem sie acht Monate vergeblich nach dem Schatz gesucht hatte. Die Mannschaft war in Australien abgemustert worden, und Martin hatte sofort wieder auf einem Hochseedampfer nach San Franzisko angeheuert. In diesen acht Monaten hatte er nicht nur soviel Geld zurückgelegt, daß er viele Wochen an Land bleiben konnte, sondern auch Gelegenheit gehabt, eine ganze Menge zu lesen und zu studieren.

Er war begabt, und hinter seiner Begabung standen seine unbezwingliche Natur und seine Liebe zu Ruth. Die mitgenommene Grammatik arbeitete er immer wieder durch, bis sein unverbrauchtes Hirn sie völlig beherrschte. Er bemerkte die grammatikalisch falsche Satzbildung seiner Kameraden und verbesserte in Gedanken ihre Sprachschnitzer. Zu seiner großen Freude entdeckte er, daß sein Ohr anfing, für Aussprache und Satzbau empfindlich zu werden, und daß er allmählich reiner und besser sprach als selbst die Schiffsoffiziere und die Gentleman-Abenteurer in der Kajüte, die die Expedition finanziert hatten.

Der Kapitän war ein fischäugiger Norweger, dem irgendwie eine vollständige Shakespeare-Ausgabe in die Hände gefallen war, die er niemals las, und wenn Martin ihm sein Zeug gewaschen hatte, lieh er ihm dafür die teuren Bücher. Eine Zeitlang hatten ihn die Dramen und die vielen Verse, die sich ihm fast ohne Anstrengung einprägten, so begeistert, daß ihm die ganze Welt fast wie eine elisabethanische Tragödie oder Komödie erschien und er sogar in Jamben dachte. Das übte sein Ohr und gab ihm ein feines Gefühl für schönes Englisch, während er gleichzeitig viele altertümliche und nicht mehr gebräuchliche Worte und Wendungen in seinen Sprachschatz aufnahm.

Er hatte die acht Monate gut angewandt, und außer korrektem Sprechen und hohen Gedanken hatte er auch sich selbst kennengelernt. Gleichzeitig mit der Scham über sein geringes Wissen stellte sich bei ihm ein gewisses Selbstbewußtsein ein. Er fühlte einen bedeutenden Unterschied zwischen sich und seinen Kameraden und war klug genug zu erkennen, daß dieser Unterschied eher in der Möglichkeit als in der Tat bestand. Was er jetzt leistete, konnten sie auch leisten, aber in seinem Innern lebte ein wirres, gärendes Gefühl, daß mehr in ihm steckte, als er bisher gezeigt hatte. Ihn peinigte die wunderbare Schönheit der Welt, und er wünschte, daß Ruth bei ihm gewesen wäre, um sie mit ihm zu teilen. Er beschloß, ihr die Schönheit der Südsee zu beschreiben. Der schöpferische Geist in ihm flammte bei diesem Gedanken auf und spornte ihn an, all diese Schönheit vor einem größeren Kreise als Ruth allein wiedererstehen zu lassen. Und da kam, in Glanz und Pracht, der große Gedanke. Er wollte schreiben. Er wollte eines der Augen werden, durch die die Welt sah, eines der Ohren, durch die sie hörte, eines der Herzen, durch die sie fühlte. Er wollte schreiben – alles – Poesie, Prosa, Romane, Beschreibungen und Dramen, wie Shakespeare sie geschrieben hatte. Das war Aufstieg und der Weg, Ruth zu gewinnen. Die Männer, die Bücher schrieben, waren die Großen der Welt, und er hatte das Gefühl, daß sie weit größer waren als ein Herr Butler und seinesgleichen, die dreißigtausend Dollar jährlich verdienten und, wenn sie wollten, Mitglieder des Obersten Gerichtshofs werden konnten.

Als der Gedanke erst geboren war, beherrschte er ihn völlig, und die Rückreise nach San Franzisko glich einem Traum. Er war von einer ungeahnten Kraft berauscht und fühlte, daß er alles, was es auch sei, tun konnte. Mitten auf dem großen, einsamen Meer gewann er den Überblick über die Dinge. Zum erstenmal sah er Ruth und ihre Welt klar und deutlich. In seinem Geist wurde alles gegenwärtig wie etwas Greifbares, etwas, das er in beide Hände nehmen, drehen und wenden und untersuchen konnte. Es gab viel Unklares, Verschleiertes in jener Welt, aber er sah sie als ein Ganzes, nicht in Einzelheiten, und er sah auch, wie er ihrer Herr werden konnte. Schreiben! Der Gedanke brannte wie Feuer in ihm. Gleich nach seiner Rückkehr wollte er anfangen. Das erste sollte eine Schilderung der Schatzsucherreise sein. Er wollte die Beschreibung an eine der San-Franziskoer Zeitungen verkaufen, er wollte Ruth nichts davon sagen, und sie sollte freudig überrascht werden, wenn sie seinen Namen gedruckt las. Während er schrieb, wollte er seine Studien fortsetzen. Jeder Tag hatte vierundzwanzig Stunden. Er war unüberwindlich. Er wußte, wie er arbeiten mußte, und die stärksten Festungen sollten vor ihm in den Staub sinken. Er brauchte nie mehr zur See zu gehen, jedenfalls nicht mehr als Matrose, und im Augenblick träumte er sogar von einer Dampfjacht. Es gab Schriftsteller, die Dampfjachten besaßen. Natürlich, das sagte er sich warnend, würde er nicht so schnell Erfolg haben und im Anfang froh sein, wenn er durch seine schriftstellerische Tätigkeit Geld genug verdiente, um sein Studium fortzusetzen. Und wenn er nach einiger Zeit – der Begriff war sehr dehnbar – genug gelernt und sich vorbereitet hatte, dann wollte er das wirklich Große schreiben, und sein Name sollte auf aller Lippen sein. Weit größer, unendlich größer, ja, das größte von allem war, daß er sich dann Ruths würdig gezeigt hatte. Ruhm mochte ganz schön sein, aber es war Ruths wegen, daß er seine strahlenden Träume träumte. Er war kein Ruhmsüchtiger, er war nur einer von Gottes erkorenen, wahnsinngeschlagenen Liebenden.

Mit einem netten Sümmchen in der Tasche ging er wieder nach Oakland, bezog sein altes Zimmer bei Bernard Higginbotham und begann zu arbeiten. Er ließ nicht einmal Ruth wissen, daß er wiedergekommen war. Er wollte sie erst besuchen, wenn der Bericht über die Schatzsucher fertig war. Es wurde ihm nicht einmal schwer, nicht zu ihr zu gehen, denn die mächtige Flamme des schöpferischen Fiebers brannte in ihm. Dazu würde ja der Artikel, den er schrieb, sie ihm näherbringen. Er wußte nicht, wie lang er sein durfte, aber er zählte die Wörter eines doppelseitigen Artikels in der Sonntagsbeilage ›San Francisco Examiner‹ und richtete sich danach. Drei Tage arbeitete er in wilder Erregung an seinem Bericht, schrieb ihn sorgfältig mit großen, ungeschickten, leicht lesbaren Buchstaben ins reine. Als er den Artikel zum zweitenmal abgeschrieben und sorgfältig zusammengerollt hatte, las er in einer Zeitung einige »Winke für Anfänger« und lernte das eiserne Gesetz, daß ein Manuskript nie zusammengerollt und daß es nur einseitig beschrieben werden darf. Er hatte das Gesetz in beiden Punkten übertreten. Aus derselben Notiz erfuhr er ferner, daß erstklassige Zeitungen mindestens zehn Dollar die Spalte bezahlten, und so tröstete er sich, während er das Manuskript zum drittenmal abschrieb, indem er zehn Spalten mit zehn Dollar multiplizierte. Das Ergebnis war immer dasselbe – hundert Dollar –, und er entschied sich, daß das besser war, als zur See zu fahren. Wenn er nicht diesen Fehler gemacht hätte, würde er den Aufsatz in drei Tagen fertiggeschrieben haben. Hundert Dollar in drei Tagen! Auf See hätte er drei Monate und länger gebraucht, um eine solche Summe zu verdienen. Man mußte ein Narr sein, um zur See zu gehen, wenn man schreiben konnte, entschied er, obwohl das Geld an und für sich ihm nichts bedeutete. Wert hatte in seinen Augen nur die Freiheit, die es ihm verschaffen, die gute Kleidung, die er sich dafür kaufen konnte – lauter Dinge, die ihn dem schlanken, blassen jungen Mädchen näherbringen sollten, das sein Leben umgewandelt und ihn inspiriert hatte.

Da lernte er aus einem Lehrbuch, das er in der Bibliothek fand, daß es so etwas wie Absätze und Anführungszeichen gab. Er hatte noch nie an solche Dinge gedacht, und sofort setzte er sich hin und überarbeitete den Artikel noch einmal. Er zog dauernd das Lehrbuch zu Rate und lernte in einem Tag mehr über Komposition als der Durchschnittsschüler in einem Jahr.

Er legte das Manuskript in einen großen Umschlag und schickte es an den Redakteur des ›San Francisco Examiner‹. Er glaubte, daß alles, was eine Zeitung annimmt, sofort veröffentlicht würde, und da er das Manuskript am Freitag eingesandt hatte, erwartete er, seinen Artikel am folgenden Sonntag gedruckt zu sehen. Er meinte, das wäre eine hübsche Art, Ruth von seiner Rückkehr zu unterrichten. Dann wollte er am Sonntagnachmittag zu ihr gehen und sie begrüßen. Unterdessen beschäftigte ihn eine andere Idee, die, wie er glaubte, wirklich vernünftig, gesund und durchführbar war: Er wollte eine Abenteuergeschichte für Knaben schreiben und sie dem ›Jungen Kameraden‹ verkaufen. Er ging in den Lesesaal der Volksbibliothek und blätterte mehrere Jahrgänge des Jugendmagazins durch. Er sah, daß die Geschichten in dieser Wochenzeitschrift durchweg in fünf Fortsetzungen zu je etwa dreitausend Worten gedruckt waren. Er sah aber auch verschiedene, die sich über sieben Nummern erstreckten, und er beschloß, eine Erzählung von dieser Länge zu schreiben.

Er hatte einmal eine Walfangexpedition in den arktischen Meeren mitgemacht – eine Reise, die auf drei Jahre berechnet gewesen war, aber nach einem halben Jahr durch Schiffbruch ihr Ende fand. Seine Einbildungskraft war lebhaft, zeitweise sogar phantastisch, gleichzeitig aber besaß er einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn, der ihn nur über Dinge schreiben ließ, die er kannte. Er kannte den Walfang und begann, aus dem Material seiner tatsächlichen Erfahrung die abenteuerlichen Erlebnisse der beiden Knaben zu gestalten, die er zu Helden seiner Geschichte machen wollte. Am Sonnabend entschied er, daß es eine leichte Arbeit war. Er hatte an diesem Tage den ersten Abschnitt von dreitausend Worten beendet – was große Belustigung bei Jim und offenen Spott bei Bernard Higginbotham auslöste, der beim Essen dauernd höhnische Bemerkungen über den »Literaten« machte, den man plötzlich in der Familie entdeckt habe.

Martin tröstete sich damit, daß er sich die Überraschung seines Schwagers ausmalte, wenn er am Sonntagmorgen den ›Examiner‹ öffnete und den Artikel über die Schatzsucher sah. Am Sonntagmorgen war er ganz früh auf der Straße und überflog nervös die Seiten der dicken Zeitung. Er durchsuchte sie noch einmal sehr sorgfältig, faltete sie dann zusammen und legte sie wieder an ihren Platz zurück. Er freute sich, daß er keinem etwas von seinem Aufsatz erzählt hatte. Dann kam er zu dem Ergebnis, daß er sich geirrt hatte in bezug auf die Schnelligkeit, mit der ein Artikel in der Zeitung erscheinen konnte. Zudem war sein Aufsatz nicht eigentlich aktuell gewesen, und höchstwahrscheinlich würde der Redakteur ihm erst schreiben.

Nach dem Frühstück arbeitete er weiter an seiner Erzählung. Die Worte flossen ihm aus der Feder, obwohl er häufig innehielt, um etwas im Lexikon nachzuschlagen oder sich im Lehrbuch Rat zu holen. In diesen Pausen las er oft, mitunter zweimal, ein ganzes Kapital durch und tröstete sich damit, daß er, wenn er auch nicht die großen Dinge schrieb, die er in sich fühlte, doch auf jeden Fall dabei schreiben lernte und sich übte, seine Gedanken zu formen und auszudrücken. Er arbeitete bis zum Dunkelwerden und ging dann in den Lesesaal, wo er Magazine und Wochenblätter bis zum Bibliothekschluß um zehn Uhr abends durchlas. Dieses Programm befolgte er eine ganze Woche. Täglich schrieb er dreitausend Worte, und täglich las er die Magazine und suchte herauszufinden, was für Erzählungen, Aufsätze und Gedichte die Redakteure am liebsten veröffentlichten. Eines war sicher: Was diese zahlreichen Skribenten machten, konnte er auch fertigbringen, und wenn er nur Zeit hatte, wollte er schon etwas schaffen, was sie nicht konnten. Es ermutigte ihn, daß er in einem Blatt eine Notiz fand, wie Leute, die für Magazine schrieben, bezahlt wurden – nicht, weil er sah, daß Rudyard Kipling einen Dollar für das Wort bekam, sondern weil der niedrigste Satz bei den erstrangigen Zeitschriften zwei Cent das Wort betrug. Das Jugendmagazin mußte doch ein erstrangiges Blatt sein, und bei dieser Bezahlung würden ihm die dreitausend Worte, die er an diesem Tage geschrieben hatte, sechzig Dollar einbringen – zwei Monate Heuer!

Am Freitagabend hatte er die einundzwanzigtausend Worte lange Erzählung beendet. Nach seiner Berechnung mußte sie ihm bei zwei Cent je Wort vierhundertundzwanzig Dollar einbringen – kein schlechter Wochenverdienst. Das war mehr Geld, als er je auf einmal besessen hatte. Er wußte gar nicht, was er mit all dem Geld machen sollte. Er hatte eine Goldmine entdeckt, und aus dieser Quelle konnte er immer mehr holen. Er beschloß, sich noch einige Kleidungsstücke zu kaufen, viele Zeitschriften zu halten und sich Dutzende von Handbüchern anzuschaffen, um derentwillen er jetzt in die Bibliothek gehen mußte. Aber es blieb immer noch ein gut Teil von den vierhundertundzwanzig Dollar übrig, mit dem er nichts anzufangen wußte. Das quälte ihn, bis ihm der Gedanke kam, ein Dienstmädchen für Gertrude zu engagieren und ein Fahrrad für Marian zu kaufen.

Er schickte das umfangreiche Manuskript mit der Post an das Jugendmagazin, und am Sonnabendnachmittag, nachdem er den Entwurf für einen Artikel über Perlenfischerei gemacht hatte, ging er, Ruth zu begrüßen. Er hatte sie zuvor angerufen, so daß sie ihn selbst an der Tür empfing. Der alte, wohlbekannte Hauch strahlender Gesundheit strömte ihr von ihm entgegen und traf sie wie ein Schlag. Es war, als ginge sie in ihren Körper über, schösse wie ein glühender Strom durch ihre Adern und ließe sie unter dieser neuen Kraftzufuhr erbeben. Eine warme Röte ergoß sich über sein Gesicht, als er ihre Hand ergriff und ihr in die blauen Augen sah. Aber die acht Monate Sonne hatten sein Gesicht so bronzebraun gebrannt, daß man diese Röte nicht sah, wenn man auch am Halse den roten Streifen vom steifen Kragen bemerkte. Sie sah den roten Strich mit Belustigung, die aber rasch verschwand, als sie seine Kleidung musterte. Sie paßte ihm wirklich – es war sein erster nach Maß gefertigter Anzug –, und er erschien ihr schlanker und feiner gebaut. Dazu hatte er seine Mütze mit einem weichen Filzhut vertauscht, den er auf ihren Befehl aufsetzte, worauf sie ihm Komplimente über sein Aussehen machte. Sie konnte sich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein. Die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, war ihr Werk, und sie war stolz darauf und brannte vor Ehrgeiz, ihm noch weiter zu helfen.

Aber die entscheidendste Veränderung und die, worüber sie sich am meisten freute, war der Wandel in seiner Sprache. Er sprach nicht nur korrekter, sondern auch mit größerer Leichtigkeit, und sein Wortschatz hatte sich um viele neue Ausdrücke vermehrt. Nur wenn er sich erregte und begeisterte, konnte er wieder in das Verschleifen der Silben und Fortlassen der Endkonsonanten verfallen, und sie bemerkte auch manchmal ein verlegenes Zögern, wenn er einen der neugelernten Ausdrücke anzuwenden versuchte. Andererseits zeigte sich zugleich mit der Leichtigkeit des Ausdrucks auch eine Gewandtheit und ein Witz in seinem Gedankengang, der sie entzückte. Dieser Sinn für Humor und scherzende Plauderei war es, der ihn in seiner eigenen Klasse so beliebt gemacht hatte, aber aus Wortmangel hatte er ihr gegenüber bisher keinen Gebrauch davon machen können. Jetzt begann er eben, sich zurechtzufinden, und fühlte, daß er kein Eindringling mehr war. Aber er war sehr vorsichtig darin, wie weit er gehen durfte, ließ Ruth die Führung bei Munterkeit und Scherz, hielt mit ihr Schritt, aber wagte sich nie weiter vor als sie. Er erzählte ihr von seiner Tätigkeit und der Absicht, sich seinen Unterhalt durch Schreiben zu verdienen und daneben sein Studium fortzusetzen. Aber er war sehr enttäuscht, als sie seinen Plan nicht billigte. Sie hielt nicht viel davon.

»Sehen Sie«, sagte sie offen, »das Schreiben muß doch ein Beruf sein wie jeder andere. Nicht, daß ich etwas davon verstehe – ich bringe nur ganz allgemeine Vernunftgründe vor. Man kann kein tüchtiger Schmied werden, ohne drei Jahre – oder sind es fünf Jahre? – das Schmiedehandwerk gelernt zu haben. Nun, ein Schriftsteller wird soviel besser bezahlt als ein Schmied, daß unendlich viel mehr Menschen lieber schreiben möchten… zu schreiben versuchen.«

»Aber kann ich denn nicht vielleicht eine besondere Veranlagung zum Schreiben haben?« fragte er, im geheimen stolz darauf, wie er sich ausdrückte, und seine lebhafte Einbildungskraft ließ sofort die ganze Szene mit ihrer Atmosphäre auf einem riesigen Schirm erscheinen, neben andern Auftritten aus seinem Leben – Auftritten, die roh und grob, brutal und tierisch waren.

Die ganze vielgestaltige Vision entstand mit Blitzesschnelle, ohne das Gespräch oder sein ruhiges Denken zu unterbrechen. Auf dem Schirm seiner Phantasie sah er sich selbst und dieses schöne, liebliche junge Mädchen, sah, wie sie sich in einem Zimmer voll Stil und Kultur, mit Büchern und Bildern gegenübersaßen und in einem guten, reinen Englisch miteinander sprachen, und über dem ganzen Bild lag ein gleichmäßiges, helles, glänzendes Licht, während sich ringsum und nach dem Rand des Schirmes zu, immer blasser werdend, Auftritte ganz anderer Art gruppierten, jeder Auftritt ein Bild, das er selbst als Zuschauer nach Belieben betrachten konnte. Diese andern Szenen sah er durch treibende Dünste und trübe, wirbelnde Nebel, die von roten, grellen Lichtstrahlen zerstreut wurden. Er sah Cowboys am Schanktisch stehen und schlechten Whisky trinken, die ganze Atmosphäre geladen mit Obszönität; er sah sich selbst mit ihnen trinken und fluchen, mit den Wildesten von ihnen unter blakenden Petroleumlampen sitzen, während die Spielmarken klapperten und schepperten und die Karten ausgeteilt wurden. Er sah sich selbst, nackt bis zum Gürtel, mit bloßen Fäusten seinen großen Kampf mit Liverpool Red auf dem Vorderdeck der »Susquehanna« ausfechten, und er sah das blutige Deck der »John Rogers« an dem grauen Morgen, als die Mannschaft zu meutern versuchte und der Steuermann im Todeskampf auf der Großluke um sich trat, während der Revolver in der Hand des Alten Feuer und Rauch spie und die Leute mit wutverzerrrten, gemeinen Gesichtern, freche Gotteslästerungen ausstoßend, rings um ihn fielen – und dann kehrte er wieder zu dem Bild in der Mitte des Schirmes zurück, das ruhig und rein im klaren Lichte dastand: da saß Ruth und sprach mit ihm über Bücher und Bilder, und er sah den Flügel und hörte das Echo seiner eigenen, wohlgesetzten und korrekt ausgesprochenen Worte: »Aber kann ich denn nicht vielleicht eine besondere Veranlagung zum Schreiben haben?«

»Es kann ein Mann auch die besten Anlagen zum Schmied haben«, sagte sie lächelnd, »aber ich habe noch nie gehört, daß jemand Schmied wurde, ohne erst seine Lehrzeit durchgemacht zu haben.«

»Was würden Sie mir denn raten?« fragte er. »Aber vergessen Sie nicht, daß ich die Veranlagung zum Schreiben in mir fühle – ich kann es nicht erklären, ich weiß nur, daß ich sie habe.«

»Sie brauchen eine gründliche Ausbildung«, lautete die Antwort, »ganz gleich, ob Sie schließlich Schriftsteller werden oder nicht. Diese Ausbildung ist unerläßlich, welche Laufbahn Sie auch wählen wollen, und sie darf nicht oberflächlich und lückenhaft sein. Sie sollten die höhere Schule besuchen.«

»Ja – «, begann er; aber sie unterbrach ihn, als wäre ihr noch etwas eingefallen:

»Natürlich könnten Sie auch weiter schreiben.«

»Das müßte ich wohl«, sagte er grimmig.

»Wieso?« Sie sah ihn ziemlich verblüfft an, denn der Eigensinn, mit dem er an seiner Idee festhielt, gefiel ihr nicht ganz.

»Weil es nichts mit der höheren Schule werden kann, wenn ich nicht schreibe. Ich muß leben und mir Bücher und Kleidung kaufen, wissen Sie.«

»Das hatte ich ganz vergessen«, lachte sie. »Warum sind Sie auch nicht mit einem Einkommen auf die Welt gekommen!«

»Mir sind Gesundheit und Phantasie lieber«, antwortete er. »Ein Einkommen kann ich mir schaffen, aber die beiden andern Dinge nicht, verflucht noch mal!«

»Das dürfen Sie nicht sagen«, unterbrach sie ihn mit einem reizenden Schmollen. »Das klingt schrecklich!« Er errötete und stammelte:

»Sie haben recht, und ich möchte nur, daß Sie mich immer korrigieren.«

»Das… das werde ich auch gern tun«, sagte sie zögernd. »Es steckt soviel Gutes in Ihnen, daß ich Sie gerne ganz vollkommen sehen möchte.«

Sofort war er Wachs in ihren Händen und verlangte ebenso leidenschaftlich, sich von ihr umformen zu lassen, wie sie selbst wünschte, ihn zu ihrem Ideal eines Mannes umzuformen. Und als sie ihn darauf aufmerksam machte, daß der Zeitpunkt jetzt günstig sei, weil das Aufnahmeexamen für die Oberschule am folgenden Montag begann, erbot er sich sofort, die Gelegenheit wahrzunehmen.

Dann spielte und sang sie ihm vor, während er sie mit der Sehnsucht eines Hungernden anstarrte, ihre Schönheit trank und sich wunderte, daß nicht hundert Bewunderer ihr lauschten, wie er ihr lauschte.

Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe

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