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Zweites Kapitel
ОглавлениеDer Weg ins Speisezimmer war ein Alpdruck für ihn. Er stolperte und zauderte, machte einen Ruck vorwärts und schwankte dann wieder, so daß es zuweilen schien, als würde er nie hineingelangen. Schließlich aber hatte er es geschafft und wurde neben SIE gesetzt. Die Fülle der Messer und Gabeln jagte ihm Schrecken ein. Sie drohten mit unbekannten Gefahren, und er starrte sie gebannt an, bis ihr Glanz der Hintergrund für eine Reihe von Bildern aus der Back wurde, wo er und seine Kameraden saßen und Salzfleisch mit dem Taschenmesser und den Fingern aßen oder dicke Erbsensuppe mit verbogenen Blechlöffeln aus der Pfanne kratzten. Er konnte geradezu den Geruch von verdorbenem Fleisch spüren und das Schmatzen der Essenden beim Knarren der Spanten und dem Ächzen der Schotts hören. Er sah die Kameraden essen und kam zu dem Ergebnis, daß sie wie Schweine aßen. Nun, er wollte sich hier schon zusammennehmen. Er wollte kein Geräusch machen. Er wollte ständig darauf achten.
Er ließ seinen Blick über den Tisch schweifen. Ihm gegenüber saßen Arthur und Arthurs Bruder Norman. Er dachte daran, daß es ihre Brüder waren, und fühlte warme Freundschaft für sie. Wie alle in dieser Familie sich liebten! Er sah es wieder vor sich, wie ihre Mutter erschien, wie sich die beiden zur Begrüßung küßten und dann Arm in Arm zu ihm traten. In seiner Welt zeigten Eltern und Kinder ihre Gefühle nicht so. Es war eine Offenbarung von den Höhen des Lebens, die man in der oberen Gesellschaft erreichen konnte. Es war das Schönste, was er bisher bei diesem kleinen Einblick in eine neue Welt gesehen hatte. Es machte tiefen Eindruck auf ihn, und sein Herz strömte über vor mitfühlender Zärtlichkeit. Sein ganzes Leben lang hatte er nach Liebe gehungert. Seine Natur verlangte Liebe. Sie war eine organische Forderung seines Wesens. Doch er hatte sie entbehren müssen und war hart dabei geworden. Er hatte selbst nicht gewußt, daß er Liebe brauchte, und auch jetzt wußte er es nicht. Er sah nur ihr Wirken, und das durchschauerte ihn tief und erschien ihm edel, herrlich und erhaben.
Er freute sich, daß Herr Morse nicht anwesend war. Es war schwierig genug, ihr, ihrer Mutter und ihrem Bruder Norman näherzukommen. Arthur kannte er schon ein wenig. Dem Vater, das wußte er, wäre er nicht mehr gewachsen. Ihm schien, daß er sich noch nie im Leben so abgemüht hätte. Die schwerste Arbeit war Kinderspiel dagegen. Winzige Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, und auch sein Hemd war feucht von der Anstrengung, soviel Ungewohntes auf einmal zu tun. Er mußte essen, wie er noch nie gegessen hatte, mußte mit seltsamen Geräten hantieren und dabei verstohlene Blicke auf die anderen werfen, um zu sehen, wie sie mit jedem neuen Ding umgingen; er mußte die Flut von Eindrücken bewältigen, die auf ihn zuströmten und in seinem Bewußtsein gesichtet und geklärt werden wollten. Dazu fühlte er eine heftige Sehnsucht nach ihr, eine Sehnsucht, die ihn als dumpf nagende Rastlosigkeit quälte, und spürte das stachelnde Verlangen, sich emporzuschwingen zu der Höhe des Lebens, auf der sie dahinschritt. Immer wieder verlor sich sein Geist in Grübelei und unklaren Plänen, wie er diese Höhe erreichen könnte. Wenn sein Blick heimlich zu Norman glitt, der ihm genau gegenüber saß, oder zu den anderen, um herauszubekommen, welches Messer oder welche Gabel gerade in diesem Fall benutzt wurde, so nahm noch dazu das Gesicht des Betreffenden seine Gedanken in Anspruch, und er versuchte unwillkürlich, die Personen einzuschätzen und zu erraten, was sie – stets im Verhältnis zu IHR – bedeuteten.
Dann wieder mußte er sprechen, hören, was man zu ihm sagte und was die anderen unter sich sprachen, und, wenn nötig, antworten, mit einer Zunge, die die unangenehme Neigung hatte, durchzugehen, und stets gezügelt werden mußte. Und um seine Verwirrung noch zu vermehren, war der Diener da, eine beständige Drohung, die lautlos an seiner Schulter auftauchte, eine unheimliche Sphinx, die ihm Rätsel und Vexierfragen vorlegte, die er stets sofort lösen mußte. Während der ganzen Mahlzeit bedrückte ihn der Gedanke an die Fingerschalen. Beharrlich, immer wieder abschweifend, fragte er sich, wann sie in Erscheinung treten und wie sie aussehen würden. Er hatte von diesen Dingern gehört und wußte, daß er sie im Laufe weniger Minuten sehen würde, da er mit höheren Wesen bei Tische saß und sie wie diese benutzen sollte. Und das Wichtigste vor allem: auf dem Grunde seiner Gedanken und doch stets dicht an der Oberfläche lag die große Frage, wie er sich diesen Leuten gegenüber benehmen sollte. Welche Haltung sollte er einnehmen? Mit diesem Problem kämpfte er andauernd und sorgenvoll. Da waren feige Einflüsterungen, die ihn veranlassen wollten, Komödie zu spielen, und noch feigere, die ihn warnten, daß er bei einem solchen Versuch scheitern müßte, daß seine Natur sich nicht dazu eignete und daß er sich zum Narren machen würde.
Während des ersten Teils des Essens, als er mit sich rang, wozu er sich entscheiden sollte, war er sehr still. Er wußte nicht, daß er durch sein Schweigen Arthur Lügen strafte, der am Tag zuvor angekündigt hatte, er würde einen Wilden mit zu Tisch bringen, sie brauchten aber keine Angst zu haben, denn sie würden feststellen, es sei ein interessanter Wilder. Martin Eden hätte gerade jetzt nicht an die Möglichkeit geglaubt, daß IHR Bruder sich eines solchen Verrats schuldig machen könnte, zumal er ja eben diesem Bruder aus einer schlimmen Prügelei geholfen hatte. Und so saß er denn bei Tisch, bedrückt durch seine eigene Unwürdigkeit und doch zugleich von allem, was um ihn her vorging, bezaubert. Zum erstenmal erkannte er, daß Essen etwas anderes als eine nützliche Funktion war. Er hatte keine Ahnung, was er aß. Es war eben Essen. Er stillte seinen Schönheitsdurst an diesem Tisch, wo Essen eine ästhetische Funktion war. Aber es bedeutete auch eine intellektuelle Funktion. Sein Geist war angeregt. Er hörte Worte, deren Sinn er nicht verstand, und andere Worte, die er nur in Büchern gefunden hatte und die weder Männer noch Frauen seiner Bekanntschaft imstande gewesen wären auszusprechen. Wenn er solche Worte von den Lippen dieser wundervollen Familie – IHRER Familie – aussprechen hörte, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre, wurde er von Entzücken durchbebt. Die Romantik und Schönheit, das Erhabene, von dem er in Büchern gelesen hatte, wurden hier wahr. Er befand sich in dem seltsamen, seligen Zustand, in dem ein Mann seinen Traum aus den Winkeln der Phantasie herausspazieren und Wirklichkeit werden sieht.
Noch nie hatte er auf solchen Höhen des Lebens gestanden, und er hielt sich selbst im Hintergrund, lauschend, beobachtend und glücklich, während er einsilbig »Ja, Miß« und »Nein, Ma’am« erwiderte. Er unterdrückte den Impuls, der seinem Seemannsdrill entsprang, ihren Brüdern mit »Ja, Sir« und »Nein, Sir« zu antworten. Er fühlte, das würde nicht richtig sein, würde ein Eingeständnis seiner Unterordnung bedeuten – was unmöglich anging, wenn er SIE gewinnen wollte. Außerdem lehnte sich sein Stolz dagegen auf. Weiß Gott! sagte er zu sich, ich bin genauso gut wie sie, und wenn sie auch vieles wissen, was ich nicht weiß, so könnte ich sie doch auch ein ganz Teil lehren. Wenn aber sie oder ihre Mutter ihn ein paar Augenblicke später mit »Herr Eden« ansprachen, vergaß er seinen streitbaren Stolz und wurde ganz rot und warm vor Freude. Er war ein zivilisierter Mensch, jawohl, und er saß hier, Schulter an Schulter, bei Tisch mit Leuten gleich denen, über die er in Büchern gelesen hatte. Jetzt war er selbst mitten in so einem Buch, mitten in einem Abenteuer, das die Druckseiten eines dicken Bandes füllte.
Während er aber Arthurs Beschreibung auf diese Art Lügen strafte und eher ein frommes Lamm als ein Wilder zu sein schien, zerbrach er sich die ganze Zeit den Kopf, wie er auftreten sollte. Er war kein frommes Lamm, und die zweite Geige zu spielen, paßte seiner hochfahrenden Herrschernatur durchaus nicht. Er sprach nur, wenn er mußte, und dann war seine Rede wie sein Gang zu Tisch, zögernd und stockend, da er in seinem buntgemischten Sprachschatz suchte, über Worte nachgrübelte, die wohl bei dieser oder jener Gelegenheit paßten, die er aber fürchtete, nicht richtig auszusprechen, und wieder andere Worte verwarf, von denen er wußte, daß sie sie nicht verstanden, oder daß sie in ihren Ohren roh und gewöhnlich klingen würden. Aber die ganze Zeit bedrückte ihn das Bewußtsein, daß diese Vorsicht in der Wahl seiner Worte ihn als Dummkopf erscheinen ließ, weil sie ihn hinderte, seinem Innern Ausdruck zu verleihen.
Dazu empörte sich seine Freiheitsliebe gegen diesen Zwang ungefähr ebenso wie sein Hals gegen die Fessel seines steifen Kragens, und schließlich wußte er, daß er es auf die Dauer doch nicht durchhalten würde. Er war eine Kraftnatur, er konnte denken, und der schöpferische Geist in ihm hob das Haupt und wollte sich geltend machen. Er wurde schnell übermannt von der Idee oder dem Gefühl, die sich in ihm in Geburtswehen wanden, um Ausdruck und Form zu finden, und dann vergaß er sich und seine Umgebung, und die alten Worte – die Werkzeuge der Sprache, die er kannte – schlüpften heraus.
Als der Diener ihm einmal etwas anbot, ihn dabei unterbrach und an seine Schulter stieß, lehnte er mit einem kurzen, entschiedenen »Pau!« ab.
Sofort richteten sich alle Augen bei Tische erwartungsvoll auf ihn, der Diener war hochnäsig und belustigt, und Martin Eden schämte sich sehr. Aber er faßte sich schnell.
»Das ist ein Kanakenwort für ›fertig‹«, erklärte er. »Und es rutschte mir unwillkürlich heraus!«
Er sah, wie ihr Blick neugierig auf seinen Händen ruhte, und da er einmal beim Erklären war, redete er weiter: »Ich kam auf einem Schiff von der Pazifik-Postlinie die Küste herunter. Wir hatten uns verspätet, und in allen Häfen am Puget-Sund schufteten wir wie die Nigger, um die Ladung zu verstauen – Stückgut, wenn Sie wissen, was das heißt. Davon ist die Haut so abgeschrammt.«
»Ach, das meinte ich nicht«, erklärte sie schnell. »Ihre Hände scheinen mir zu klein für Ihren Körper.«
Er errötete. Er glaubte, daß wieder eine seiner Unvollkommenheiten ans Tageslicht gebracht worden sei.
»Ja«, sagte er ärgerlich. »Sie sind nicht groß genug. Meine Arme und Schultern sind so stark wie die von einem Maultier – zu stark, und wenn ich einem Mann eins in die Fresse haue, kriegen meine Hände auch etwas dabei ab.«
Was er da eben vorgebracht hatte, gefiel ihm nicht. Er war wütend auf sich. Er hatte seine Zunge laufen lassen und Dinge gesagt, die sich nicht schickten.
»Es war großartig von Ihnen, daß Sie Arthur auf diese Weise zu Hilfe kamen – Sie, als Fremder«, sagte sie taktvoll, als sie seine Verlegenheit sah, obwohl sie den Grund nicht kannte.
Er hingegen verstand sehr gut, was sie getan hatte, und in der warmen Welle der Dankbarkeit, die über ihm zusammenschlug, vergaß er seine geschwätzige Zunge.
»Das war nicht der Rede wert«, sagte er. »Jeder andere hätte es auch getan. Diese Rowdys wollten Spektakel machen, und Arthur hatte ihnen nichts getan. Sie gingen auf ihn los, und da ging ich eben auch auf sie los und vermöbelte ein paar von ihnen. Bei der Gelegenheit ging wohl auch ein bißchen Haut von meinen Händen ab, und unsere Gegner mußten ein paar Zähne opfern. Ich hätte es um alles in der Welt nicht versäumen mögen. Wenn ich sehe…«
Er hielt inne, mit offenem Munde, am Rande des Abgrunds seiner eigenen Verderbtheit und äußersten Unwürdigkeit, dieselbe Luft wie sie zu atmen. Und während Arthur zum zwanzigstenmal sein Abenteuer mit den betrunkenen Strolchen auf der Fähre berichtete und erzählte, wie Martin Eden sich auf sie gestürzt und ihm geholfen hatte, saß dieser Martin Eden mit gerunzelter Stirn da, dachte, daß er sich jetzt vollkommen lächerlich gemacht hätte, und kämpfte verbissener denn je mit der Frage, wie er sich diesen Leuten gegenüber benehmen sollte. Bis jetzt hatte er wahrhaftig nicht viel Glück gehabt. Er gehörte nicht zu ihrer Klasse und sprach nicht ihre Sprache, so erklärte er es sich selbst. Er konnte nicht so tun, als ob er ihresgleichen wäre. Eine solche Maskerade würde ihm mißglücken, zumal jede Art Maskerade seinem Wesen fremd war. Verstellung oder List kannte er nicht. Was auch geschah, er mußte er selbst bleiben. Noch konnte er ihre Sprache nicht sprechen, doch bald würde er sie beherrschen. Dazu war er fest entschlossen. Inzwischen aber mußte er sprechen, und zwar in seiner eigenen Sprache, die er natürlich mildern müßte, damit sie ihnen verständlich wurde und sie nicht allzusehr verletzte. Von nun an wollte er nicht einmal mehr durch schweigendes Hinnehmen so tun, als kenne er Dinge, die er in Wirklichkeit nicht kannte. Nach dieser Entscheidung fragte Martin Eden, als die beiden Brüder in einem Gespräch über Universitätsangelegenheiten mehrmals den Ausdruck »Trig« gebrauchten:
»Was ist Trig?«
»Trigonometrie«, erwiderte Norman, »eine höhere Form der Math.«
»Und was ist Math?« lautete die nächste Frage, die Norman zum Lachen brachte.
»Mathematik – Arithmetik«, war die Antwort.
Martin Eden nickte. Flüchtig hatte er etwas von den anscheinend unbegrenzten Horizonten des Wissens erblickt. Was er sah, nahm greifbare Gestalt an. Seine unerhörte Einbildungskraft ließ Abstraktionen körperliche Form gewinnen. In der Werkstatt seines Hirns wurden Trigonometrie und Mathematik, der ganze Bereich der Wissenschaft, den sie bezeichneten, in eine Landschaft verwandelt. Er sah Alleen in grünem Laub und Waldlichtungen, ganz in sanftes Licht getaucht oder von hellen Sonnenflecken durchblitzt. Die Einzelheiten in der Ferne waren verschleiert und von einem violetten Nebel verwischt, dahinter aber, das fühlte er, lag der Zauber des Unbekannten, der Reiz der Romantik. Es wirkte auf ihn wie Wein. Hier gab es Abenteuer. Hier gab es etwas, das Kopf und Hände verrichten konnten, hier war eine Welt zu erobern; und sogleich tauchte im Hintergrund seines Bewußtseins der Gedanke auf, daß er siegen wollte, um SIE zu gewinnen, diese lilienweiße Elfe, die neben ihm saß.
Die leuchtende Vision wurde von Arthur zerstört, der den ganzen Abend versucht hatte, seinen wilden Mann aus sich herauszulocken. Martin Eden erinnerte sich seines Entschlusses. Zum erstenmal wurde er der echte Martin Eden, anfangs bewußt und mit voller Überlegung; bald aber vergaß er alles über der schöpferischen Freude, das Leben, wie er es kannte, vor den Augen der Zuhörer vorüberziehen zu lassen.
Er hatte zur Mannschaft des Schmugglerschoners »Halcyon« gehört, der von einem Zollkutter gefaßt worden war. Er hatte offene Augen und konnte erzählen, was er gesehen hatte.
Er ließ das wogende Meer und die Männer und Schiffe des Meeres vor ihnen erstehen. Er teilte ihnen von seiner Einbildungskraft mit, bis sie mit seinen Augen sahen, was er gesehen hatte. Aus der ungeheuren Menge von Einzelheiten wählte er mit dem sicheren Griff des Künstlers die geeigneten aus, zeichnete Bilder des Lebens, die von Licht und Farben flammten, so daß seine Zuhörer von diesem Strom ursprünglicher Beredsamkeit, Begeisterung und Kraft gepackt wurden. Zeitweilig erschreckte er sie durch die Lebhaftigkeit der Erzählung und seiner Ausdrücke, aber auf Heftigkeit folgte immer rasch wieder Schönheit, und die Tragödie wurde gemildert durch Humor und durch die Erklärungen der sonderbaren Gedankengänge und Wortspiele, die Seeleuten eigentümlich sind.
Und während er sprach, sah das junge Mädchen ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Sein Feuer durchglühte sie. Sie fragte sich, ob sie wohl ihr ganzes Leben gefroren hätte. Sie sehnte sich danach, sich an diesen brennenden, flammenden Mann zu lehnen, der wie ein Vulkan Stärke und Gesundheit ausspie. Sie fühlte, daß sie sich an ihn lehnen mußte, und widerstand der Versuchung nur mit Mühe. Aber sie empfand auch den entgegengesetzten Impuls: sie schauderte vor ihm zurück. Sie wurde abgestoßen durch diese zerschundenen Hände, die so von Arbeit verfärbt waren, als sei der Schmutz des Lebens bis in das Fleisch gedrungen, durch den roten Streifen vom Kragen und die schwellenden Muskeln. Seine Rauheit erschreckte sie. Jedes grobe Wort beleidigte ihr Ohr, jedes rohe Erlebnis war ein Hohn auf ihre Seele. Aber immer wieder fühlte sie, wie er sie anzog, bis ihr schien, daß er schlecht sein müßte, da er eine solche Macht über sie hatte. Alles, was am tiefsten in ihr wurzelte, geriet ins Wanken. Der Zauber von Romantik und Abenteuer, der über ihm lag, war ein Angriff gegen alles Herkömmliche. Seinen leicht besiegten Gefahren und seinem stets bereiten Lachen gegenüber war das Leben nicht mehr etwas Ernstes voll Mühe und Zwang, sondern ein Spielzeug, das man nach Belieben drehen und wenden, das man sorglos und freudig leben und lässig beiseite werfen konnte. Deshalb spiele! rief es in ihr. Lehne dich an ihn, wenn du Lust dazu hast, und lege ihm deine Arme um den Hals! Sie hätte gern diesen wilden Gedanken verbannt, und sie suchte vergebens, ihre eigene Reinheit und Kultur, alles, was sie war, in die Waagschale zu werfen gegen das, was er nicht war. Sie sah auf die andern und bemerkte, daß sie ihn aufmerksam und hingerissen anblickten, und sie würde ganz den Mut verloren haben, hätte sie nicht den Schrecken in den Augen ihrer Mutter gesehen – die wohl auch gebannt war, aber dennoch zurückschauderte. Dieser Mann aus der äußersten Finsternis war schlecht. Ihre Mutter sah es, und ihre Mutter hatte recht. Sie wollte sich in dieser Sache wie immer auf das Urteil ihrer Mutter verlassen. Das Feuer, das aus ihm loderte, wärmte nicht mehr, ihre Angst vor ihm war nicht mehr so stark.
Später setzte sie sich an den Flügel und spielte für ihn und gegen ihn, aggressiv, mit dem unklaren Ziel, die unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen zu betonen. Ihre Musik war eine Keule, die sie brutal über seinem Haupte schwang, aber wenn sie ihn auch betäubte und in den Staub warf; so wirkte sie doch anspornend auf ihn. Er starrte sie ehrfürchtig an. Für ihn wie für sie erweiterte sich die Kluft zwischen ihnen; aber noch fester wurde sein ehrgeiziger Entschluß, diese Kluft zu überspringen. Jedoch wurde er von einem zu vielfältigen Komplex von Empfindungen bewegt, als daß er den ganzen Abend hätte ruhig dasitzen und in einen klaffenden Abgrund starren können, namentlich wenn musiziert wurde. Er war merkwürdig empfänglich für Musik. Sie war wie ein feuriger Trank, der seine Gefühle zu ungewohnter Kühnheit anspornte, wie ein Rausch, der seine Phantasie ergriff und sie bis in die Wolken hob. Musik verjagte die schmutzige Wirklichkeit, erfüllte sein Gemüt mit Schönheit, ließ die Romantik frei und gab ihr Schwingen. Er verstand die Musik nicht, die sie spielte. Sie war ganz anders als die Musik, die er kannte: das hämmernde Klavier und die lärmenden Blechkapellen in den Tanzlokalen. Aber er hätte durch die Bücher eine Vorstellung von dieser Art Musik, und er nahm ihr Spiel gläubig auf, wartete anfangs geduldig auf die hüpfenden Takte eines bestimmten einfachen Rhythmus und wurde ganz verwirrt, weil diese Maße so oft wechselten. Gerade wenn er ihre Melodie erfaßt hatte und seine Phantasie harmonisch zum Flug ansetzte, verschwanden sie immer wieder in einem wirren Chaos von Tönen, die ihm nichts bedeuteten, und seine Phantasie stürzte schwer zur Erde zurück.
Plötzlich fiel ihm ein, daß dies ein bewußter Versuch sein mochte, ihn zurückzuweisen. Er fühlte ihre Abwehr und bemühte sich, die Botschaft zu erraten, die ihre Hände durch die Tasten mitteilten. Dann aber schob er diesen Gedanken als unwürdig und unmöglich von sich und überließ sich freier der Musik. Wieder überkam ihn das alte Entzücken. Seine Füße waren nicht mehr erdgebunden, sein Fleisch wurde Geist. Vor und hinter seinem Blick entzündete sich ein mächtiger Strahlenkranz. Er vergaß seine Umgebung und erhob sich im Fluge über eine Welt, die ihm so teuer war. In den Traumbildern, die seiner inneren Schau zuströmten, mischte sich Bekanntes mit Unbekanntem. Er erreichte fremde Häfen in sonnigen Ländern und betrat Marktplätze barbarischer Völker, die kein Mensch je gesehen hatte. Er konnte den Duft der Gewürzinseln spüren, wie er ihn in warmen, stillen Nächten auf See gespürt hatte, er kreuzte gegen den Südostpassat der langen Tropentage, den Passat, der die Palmenwedel der Koralleninseln in das türkisblaue Meer hinter ihm versinken und wieder auftauchen ließ. Diese Bilder kamen und schwanden mit der Schnelligkeit eines Gedankens. In einem Augenblick saß er rittlings auf einem Präriehengst und flog durch das bunte Wüstenland mit seinen Märchenfarben; im nächsten starrte er durch Hitzeflimmer in die bleiche Gruft des Totentals oder ruderte über ein halb zugefrorenes Weltmeer, aus dem sich große Eisinseln hoben und in der Sonne glitzerten. Er lag am Ufer einer Koralleninsel, deren Kokospalmen bis zu der sanftrauschenden Brandung hinunterwuchsen. Auf dem Rumpf eines alten Wracks brannten blaue Flammen, und in ihrem Schimmer tanzten die Hulatänzer zu den fremdartigen Liebesrufen der Sänger, den klimpernden Ukuleles und rasselnden Tom-Toms. Es war eine sinnenerregende tropische Nacht. Im Hintergrund hob sich die dunkle Silhouette eines vulkanischen Kraters vom Sternenhimmel ab. Am Himmel stand ein blasser Halbmond, und tief am Horizont flammte das Kreuz des Südens.
Er war wie eine Harfe; alles Leben, das er bisher gekannt hatte und das sein Bewußtsein bildete, stellte die Saiten der Harfe dar, und die Flut der Musik war der Wind, der gegen die Saiten schlug und sie unter Erinnerungen und Träumen schwingen ließ. Er fühlte nicht nur. Seine Empfindung nahm Form, Farbe und Leuchtkraft an und verkörperte auf erhabene, zauberische Weise, was seine Phantasie wagte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden eins, und er wanderte beschwingt durch die weite, glühende Welt, durch Abenteuer und edle Taten, hin zu ihr – ja, und zusammen mit ihr, die er gewinnen wollte; er schlang seinen Arm um sie und trug sie im Fluge durch das Königreich seines Geistes.
Und als sie ihm über die Schulter hinweg einen verstohlenen Blick zuwarf, sah sie etwas von alledem in seinem Gesicht. Es war ein verklärtes Gesicht mit großen, glänzenden Augen, die durch den Schleier der Töne blickten und dahinter den klopfenden Pulsschlag des Lebens und die mächtigen Phantome des Geistes sahen. Sie erschrak. Der ungehobelte, verlegene Bursche war verschwunden. Die schlechtsitzende Kleidung, die zerschrammten Hände und das sonnverbrannte Gesicht waren noch da, aber nur wie ein Kerkergitter, durch das sie eine große Seele ausschauen sah, stumm und stammelnd, weil die Lippen unfähig waren, ihr Ausdruck zu verleihen. Sie erblickte das alles nur einen flüchtigen Augenblick; dann sah sie wieder den linkischen Burschen und lachte über ihren wunderlichen Einfall. Aber den Eindruck dieses flüchtigen Bildes konnte sie nicht abschütteln, und als der Zeitpunkt kam, da er sich, stolpernd und unsicher, verabschiedete, lieh sie ihm den Band Swinburne, in dem er geblättert hatte, und einen Band Browning – sie hörte gerade Vorlesungen über Browning. Wie er errötend dastand und seinen Dank stammelte, schien er ihr ein solcher Knabe, daß eine Woge mütterlichen Mitleids in ihr aufwallte. Sie dachte weder an den linkischen Burschen noch an die gefangene Seele oder an den Mann, der sie mit all seiner Männlichkeit angestarrt, der sie entzückt und geängstigt hatte. Sie sah nur einen Knaben, der ihre Hand mit einer Hand drückte, die so arbeitshart war, daß sie sich wie ein Reibeisen anfühlte, und ihr die Haut kratzte, einen Knaben, der stockend hervorstieß:
»Die größte Stunde meines Lebens. Wissen Sie, ich bin so was nicht gewohnt…« Er sah sich hilflos um. »Leute und Häuser wie dies. Das ist mir alles neu, und es gefällt mir.«
»Dann besuchen Sie uns hoffentlich wieder«, antwortete sie, als er ihren Brüdern gute Nacht sagte.
Er setzte die Mütze auf, stürzte verzweifelt zur Tür hinaus und war verschwunden.
»Nun, wie findest du ihn?« fragte Arthur.
»Er ist äußerst interessant – ein frischer Luftzug«, erwiderte sie. »Wie alt ist er?«
»Zwanzig – fast einundzwanzig. Ich fragte ihn heute nachmittag. Ich hätte ihn nicht für so jung gehalten.« Und ich bin drei Jahre älter, dachte sie, während sie ihren Brüdern den Gutenachtkuß gab.