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Viertes Kapitel

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Martin Eden, dessen Blut immer noch vor Zorn über den Zusammenstoß mit seinem Schwager kochte, tastete sich über den unbeleuchteten Flur und erreichte sein Zimmer, eine winzige Mädchenkammer, in der gerade Platz für ein Bett, einen Waschtisch und einen Stuhl war. Bernard Higginbotham war zu sparsam, um ein Mädchen zu halten, wenn seine Frau die Arbeit tun konnte, und außerdem könnten sie auf diese Weise zwei Pensionäre statt einen aufnehmen. Martin legte den Swinburne und den Browning auf den Stuhl, zog den Rock aus und setzte sich auf den Bettrand. Ein Krachen der asthmatischen Federn war die Antwort auf das Gewicht seines Körpers, aber er bemerkte es nicht. Er begann sich die Schuhe auszuziehen, hielt aber inne und starrte auf die Wand, deren geweißte Fläche von langen braunen Streifen unterbrochen wurde – dort, wo der Regen durchs Dach gesickert war. Und auf diesem schmutzigen Hintergrund flammten jetzt die Visionen auf. Er vergaß seine Schuhe und starrte lange vor sich hin, bis sich schließlich seine Lippen bewegten und den Namen Ruth murmelten.

»Ruth!« Nie hätte er gedacht, daß ein einfacher Laut so schön sein könnte. Er entzückte sein Ohr und berauschte ihn, sooft er ihn wiederholte. »Ruth!« Das war ein Talisman, eine Zauberformel! Sobald er diesen Namen murmelte, stand ihr Gesicht leuchtend vor ihm und überflutete die schmutzige Wand mit goldenem Glanz. Und dieser Glanz beschränkte sich nicht auf die Wand. Er verbreitete sich bis ins Unendliche, und durch seine goldene Tiefe suchte seine Seele die ihre. Das Beste in ihm löste sich in einem mächtigen, herrlichen Strom. Der bloße Gedanke an sie veredelte und läuterte ihn, machte ihn besser und erweckte in ihm die Sehnsucht, noch besser zu werden. Dies war etwas Neues für ihn. Noch nie hatte er Frauen gekannt, die ihn besser gemacht hatten. Sie hatten stets die entgegengesetzte Wirkung auf ihn ausgeübt und ihn tierisch gemacht. Er wußte nicht, daß viele von ihnen ihr Bestes getan hatten, so wenig es auch sein mochte. Er hatte nie viel über sich nachgedacht, und er wußte nicht, daß er in seinem Wesen das hatte, was die Liebe der Frauen gewann. Hatten sie ihn auch oftmals gequält, so hatte er sich doch keine Mühe um sie gegeben, und er ahnte nicht, daß es Frauen gab, die bessere Menschen geworden waren, weil sie ihn getroffen hatten. Er hatte sein Leben bisher in erhabener Gleichgültigkeit gelebt, und jetzt kam es ihm vor, als hätten sie ihn stets bedrängt und schamlos die Hände nach ihm ausgestreckt. Das war weder gerecht gegen sie noch gegen sich selber. Aber es war das erstemal, daß er zum Bewußtsein seiner selbst kam, und er war nicht imstande, klar zu urteilen, sondern brannte vor Scham, als er seine Schändlichkeit bedachte.

Er stand hastig auf und versuchte, sich in dem blinden Spiegel über dem Waschtisch zu betrachten. Er rieb ihn mit einem Handtuch ab und musterte sich wieder, lange und sorgfältig. Es war das erstemal, daß er sich wirklich ansah. Seine Augen waren zum Sehen geschaffen, aber bis zu diesem Augenblick hatten sie nur das ewig wechselnde Panorama der Welt aufgefangen, das ihm keine Zeit gelassen hatte, sich selbst zu betrachten. Jetzt sah er das Gesicht eines zwanzigjährigen Burschen; da ihm aber solche Prüfung ungewohnt war, konnte er es nicht beurteilen. Über einer breiten, gewölbten Stirn sah er einen Schwall nußbraunen, welligen und leichtgelockten Haares, das eine Freude für die Frauen war und ihre Hände danach verlangen ließ, es zu streicheln und zärtlich hindurchzufahren. Aber das überging er als wertlos in IHREN Augen. Lange und sinnend verweilte er bei der hohen, breiten Stirn und versuchte hinter sie zu dringen, um zu sehen, was dort wohnen mochte. Was für eine Art Hirn lag dort drinnen – das fragte er sich die ganze Zeit. Was vermochte es? Wie weit konnte es ihn bringen? Würde es ihn wohl zu ihr bringen?

Er fragte sich dann, ob Seele in diesen großen, stahlgrauen Augen lag, die zuweilen ganz blau waren und klar vom Salzhauch der sonnigen See. Er grübelte auch, welchen Eindruck seine Augen auf sie gemacht haben mochten. Er versuchte, sich an ihre Stelle zu versetzen, wenn sie ihm in die Augen sah, aber hier scheiterte seine Phantasie. Wohl konnte er sich in die Gedanken anderer versetzen, aber es mußten Menschen sein, deren Lebensweise er kannte. Ihre Lebensweise kannte er nicht. Sie war ein Wunder, ein Rätsel, und wie konnte er auch nur einen einzigen ihrer Gedanken erraten? Nun ja, es waren ehrliche Augen, so schloß er, und es war nichts Kleines oder Gemeines in ihnen. Sein braunes, sonnenverbranntes Gesicht überraschte ihn, denn er hatte nicht geahnt, daß er so dunkel war. Er schob den Hemdsärmel zurück und verglich die Haut seiner Arme mit diesem Gesicht. Ja, ein Weißer war er doch! Aber die Arme waren auch verbrannt. Er drehte den Arm, rollte mit der andern Hand den Bizeps beiseite und betrachtete die Unterseite, die von der Sonne am wenigsten verbrannt war. Sie war sehr weiß, und er lachte über sein bronzebraunes Gesicht im Spiegel bei dem Gedanken, daß es einmal ebenso weiß wie die Innenseite seines Arms gewesen war; aber er ließ sich nicht träumen, daß es nur wenige blasse, elfenhafte Frauen gab, die eine hellere, glattere Haut als die seine hatten – heller als seine dort war, wo die Sonne sie nicht verbrennen konnte.

Sein Mund wäre der eines Cherubs gewesen, hätten die vollen, sinnlichen Lippen sich nicht in erregten Augenblicken fest über den Zähnen geschlossen. Zuweilen schlossen sie sich so fest, daß der Mund barsch und streng, ja fast asketisch wurde. Es waren die Lippen eines Mannes, der zu kämpfen und zu lieben verstand. Sie konnten die Süße des Lebens schmecken und sich an ihr freuen, und sie konnten die Süße beiseite schieben und das Leben beherrschen. Das Kinn und die kräftigen Kieferbogen, die eine handfeste Angriffslust nur eben andeuteten, halfen den Lippen, das Leben zu beherrschen. Kraft beherrschte die Sinnlichkeit und hatte eine heilsame Wirkung auf sie, denn sie zwang ihn, nur Schönheit zu lieben, die natürlich war, und nur auf Sinneseindrücke zu reagieren, die gesund waren. Und zwischen diesen Lippen lagen zwei Reihen Zähne, die nie einen Zahnarzt gekannt oder gebraucht hatten. Sie waren weiß, stark und regelmäßig, fand er, als er sie prüfend betrachtete. Aber während er sie betrachtete, begann er unruhig zu werden. Irgendwo in einem geheimen Winkel seines Gehirns lebte als dunkle Erinnerung der Eindruck, daß es Leute gäbe, die sich täglich die Zähne putzten; das waren die Leute hoch oben auf der sozialen Stufenleiter, die Menschen ihrer Klasse. Sie bürstete sich sicher täglich die Zähne. Was würde sie sagen, wenn sie erfuhr, daß er sich noch nie im Leben die Zähne geputzt hatte? Er beschloß, sich eine Zahnbürste zu kaufen und sich an ihre Benutzung zu gewöhnen. Gleich morgen wollte er damit beginnen. Nicht allein durch große Taten konnte er sie zu gewinnen hoffen. Er mußte seine ganze Lebensführung verändern, er mußte sich die Zähne putzen und sich daran gewöhnen, mit gestärkter Wäsche zu gehen, obwohl ein steifer Kragen ihm wie eine Beschränkung seiner Freiheit vorkam.

Er hob die Hand, rieb mit dem Daumenballen die schwielige Innenfläche und sah den Schmutz, der gleichsam in die Haut gewachsen war und den keine Bürste entfernen konnte. Wie anders war doch ihre Hand! Bei der Erinnerung an sie durchschauerte es ihn angenehm. Wie ein Rosenblatt, dachte er, kühl und weich wie eine Schneeflocke. Nie hatte er gedacht, daß eine Frauenhand so herrlich weich sein könnte. Er ertappte sich auch bei dem Gedanken, wie wunderbar es sein mußte, von einer solchen Hand liebkost zu werden, und eine schuldbewußte Röte färbte seine Wangen. Dieser Gedanke war zu grob – irdisch; irgendwie schien er ihrer hohen Geistigkeit zu widersprechen. Sie war eine blasse, feine Elfe, hoch erhaben über die Gier des Fleisches; aber dennoch konnte er sich nicht von dem Gedanken an ihre weiche Hand frei machen. Er war an die harten Hände der Fabrikmädel und Arbeiterfrauen gewöhnt.

Nun ja, er wußte ja gut, warum deren Hände hart waren, aber ihre Hand… sie war weich, weil sie nie damit gearbeitet hatte. Der klaffende Abgrund zwischen ihnen wurde größer als je bei dem Gedanken, daß es Menschen gab, die nie für ihr Brot hatten arbeiten müssen. Er sah plötzlich den Adel des Menschen, der nie arbeitete. Wie eine Bronzestatue ragte er vor ihm auf, hochmütig und mächtig. Er selbst hatte gearbeitet; seine ersten Erinnerungen schon schienen mit Arbeit verknüpft zu sein. Und seine ganze Familie hatte gearbeitet. Gertrude zum Beispiel! Waren ihre Hände nicht hart von der endlosen Hausarbeit, so waren sie von der Wäsche geschwollen und rot wie Rindfleisch. Und seine Schwester Marian! Sie hatte letzten Sommer in der Konservenfabrik gearbeitet, und ihre hübschen, schmalen Hände waren über und über mit Narben von den Tomatenmessern bedeckt. Dazu hatte sie im Winter zuvor zwei Fingerspitzen durch die Schneidemaschine in der Tütenfabrik verloren. Er gedachte der harten Hände seiner Mutter, als sie im Sarge lag. Und sein Vater hatte bis zum allerletzten Atemzug gearbeitet, und als er starb, war die Hornhaut an seinen Händen wohl einen halben Zoll dick gewesen. Ihre Hände waren weich, ebenso wie die Hände ihrer Mutter und ihrer Brüder. Dieses letzte kam ihm wie ein Überfall, es zeigte so furchtbar deutlich die Hoheit ihrer Kaste und den ungeheuren Abstand zwischen ihr und ihm.

Mit einem bitteren Lachen ließ er sich auf das Bett fallen und zog sich die Schuhe aus. Er war ein Narr. Er hatte sich von dem Gesicht und den weißen, weichen Händen einer Frau berauschen lassen. Und plötzlich erschien ein neues Bild auf der schmutzigen geweißten Wand. Er sah sich selbst vor einer düsteren Mietskaserne stehen. Es war eine Nacht im Osten Londons, und vor ihm stand Margey, eine kleine Fabrikarbeiterin von fünfzehn Jahren. Er hatte sie nach dem »Bohnenfest« heimbegleitet. Sie wohnte in dem finsteren Gebäude, das selbst als Schweinekoben zu schlecht war. Er reichte ihr die Hand zum Abschied, und sie hob ihm den Mund entgegen, damit er sie küßte. Aber er wollte sie nicht küssen. Er fürchtete sich irgendwie vor ihr. Da aber schloß sich ihre Hand mit fieberhaftem Druck über der seinen, er fühlte, wie ihre Schwielen gegen die seinen rieben, und eine Woge innigen Mitleids wallte ihn ihm auf. Er sah den sehnsüchtigen, hungrigen Ausdruck in ihren Augen, und wie die kleine, unterernährte Gestalt aus ihrer Kindlichkeit wild und gehetzt zur Reife drängte. Da schlang er mit unendlicher Nachsicht die Arme um sie, beugte sich zu ihr hinab und küßte sie auf den Mund. Er hörte noch den kleinen Freudenschrei, den sie ausstieß, und er fühlte, wie sie sich wie eine Katze an ihn klammerte. Arme, verkümmerte Kleine! Er starrte weiter auf die Vision dessen, was vor langer, langer Zeit geschehen war. Das Blut rollte schneller durch seine Adern, wie es in jener Nacht getan, als sie sich an ihn klammerte und sein Herz vor Mitleid schwoll. Es war ein graues Bild, schmutziggrau, und trübe rieselte der Regen auf die Pflastersteine. Dann aber erstrahlte die Wand in Glorie, das Bild verschwand, und statt seiner leuchtete IHR blasses Antlitz unter der goldenen Haarkrone, fern und unerreichbar wie ein Stern.

Er nahm den Browning und den Swinburne vom Stuhl und küßte die Bücher. Trotzdem hat sie mich aufgefordert, wiederzukommen, dachte er. Wieder warf er einen Blick in den Spiegel und sagte dann laut, mit tiefem Ernst:

»Martin Eden, gleich morgen früh gehst du in die Volksbibliothek und liest darüber nach, wie man sich zu benehmen hat. Verstanden?«

Er drehte das Gas aus, und die Federn kreischten unter seinem Gewicht.

»Aber du darfst nicht mehr fluchen, Martin. Hörst du, Alter, du darfst nicht mehr fluchen«, sagte er laut.

Dann schlief er ein und hatte Träume, die sich an Kühnheit nur mit den Träumen eines Opiumrauchers messen konnten.

Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe

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