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Achtes Kapitel
ОглавлениеMehrere Wochen vergingen, in denen Martin Eden seine Grammatik studierte, die Bücher über den guten Ton wieder vornahm und alle Werke verschlang, die sein Interesse erregten. Von seinen Klassengenossen sah er niemand. Die jungen Mädchen im Lotus-Klub wunderten sich, daß er verschwunden war, und quälten Jim mit Fragen, und einige der jungen Leute, die sich an den Boxkämpfen bei Riley zu beteiligen pflegten, freuten sich, daß Martin nicht mehr dorthin kam. Er machte eine neue Entdeckung unter den Schätzen der Bibliothek. Wie die Grammatik ihm das Gerüst der Sprache gezeigt hatte, so zeigte dieses Buch ihm das Gerüst der Poesie; er begann Versmaß, Konstruktion und Form der von ihm so geliebten Schönheit zu erkennen und begriff ihre Gesetze. Noch ein modernes Werk fiel ihm in die Hände, das die Poesie als darstellende Kunst behandelte – sie erschöpfend behandelte mit vielen Beispielen aus dem Besten der Literatur. Nie hatte er einen Roman mit so großer Begeisterung gelesen, wie er dieses Werk studierte. Und sein unbelasteter, frischer, zwanzigjähriger Geist, angespornt durch sein drängendes Verlangen, erfaßte alles, was er las, mit einer ganz ungewöhnlichen männlichen Kraft.
Wenn er jetzt von seiner höheren Warte aus zurückblickte, so erschien ihm seine frühere Welt – diese Welt von Erde, Meer und Schiffen, mit Seeleuten und schlechten Frauenzimmern – sehr klein; und doch mischte sie sich mit seiner neuen Welt und erweiterte sie. Sein Geist strebte nach Einheit, und er war überrascht, als er die ersten Berührungspunkte zwischen den beiden Welten erblickte. Zudem verwandelten ihn die erhabenen Gedanken und die Schönheit, die er in den Büchern fand. Immer unerschütterlicher wurde sein Glaube, daß jeder, der sozial über ihm stand wie Ruth und ihre Familie, diese Gedanken dachte und nach ihnen lebte. Er lebte in der Niederung und hatte nur den einen Wunsch, sich von dem Schmutz, der sein ganzes Leben lang an ihm geklebt hatte, zu reinigen und sich in die höheren Regionen der oberen Klassen zu erheben. Während seiner ganzen Kindheit und Jugend hatte er unter einer Unrast gelitten; was er wünschte, hatte er nie gewußt, und er hatte vergebens gesucht, bis er Ruth traf. Und jetzt war diese Unrast qualvoll geworden, und er wußte endlich klar und sicher, daß es Schönheit, Wissen und Liebe waren, die er suchte.
In diesen Wochen sah er Ruth einhalbdutzendmal, und jedes Mal war es ihm eine neue Inspiration. Sie half ihm bei seinem Sprachstudium, berichtigte seine Aussprache und weihte ihn in die Arithmetik ein. Aber ihr Gedankenaustausch galt nicht allein dem Elementarstudium. Er hatte zuviel vom Leben gesehen und sein Geist war zu reif, um sich mit Brüchen, Kubikwurzeln, Satzbau und Analyse zufriedenzugeben; es kamen Stunden, in denen sie von ganz andern Dingen sprachen – von den letzten Dichtungen, die er gelesen, und den letzten Dichtern, die sie studiert hatte. Und wenn sie ihm ihre Lieblingsdichter vorlas, dann war der Gipfel alles Entzückens für ihn erreicht. Keine von all den Frauen, die er je sprechen gehört, hatte eine Stimme wie die ihre gehabt. Ihr leisester Ton war ein Sporn für seine Liebe, und jedes Wort, das sie aussprach, erfüllte ihn mit Freude und Entzücken. Es war der Wohlklang darin, die Ruhe und harmonische Modulation, dieses weiche, volle, unbestimmbare Produkt der Kultur und einer sanften, liebevollen Seele. Wenn er ihr lauschte, klangen in seiner Erinnerung die rauhen Schreie barbarischer Weiber wider und – wenn auch weniger rauh – die schrillen Stimmen der Mädchen seiner eigenen Klasse. Dann begann die Werkstatt der Bilder in ihm zu arbeiten und ließ sie vor seinem inneren Auge aufmarschieren und die Herrlichkeit Ruths durch den Gegensatz noch erhöhen. Was aber sein Glück noch vollkommener machte, war das Bewußtsein, daß ihre Seele mit dem Gelesenen übereinstimmte und vor Entzücken über die Schönheit des geschriebenen Gedankens bebte. Sie las ihm ein großes Stück aus ›Die Prinzessin‹ vor, und oft sah er Tränen in ihren Augen, so fein war ihr ästhetisches Empfinden. In solchen Augenblicken entrückte ihn ihre Bewegung über den Alltag hinaus, bis er sich wie ein Gott fühlte, und wenn er sie anschaute und ihr lauschte, schien ihm, als sähe er das Antlitz des Lebens und läse darin die tiefsten Geheimnisse. Und wenn ihm dann bewußt wurde, wie wunderbar seine Empfänglichkeit gewachsen war, sagte er sich, daß dies Liebe sei, daß Liebe das Größte in der Welt war, und durch seine Erinnerung huschten die Gemütsbewegungen und Sehnsüchte, die er früher gekannt hatte – Weinrausch, Liebkosungen von Frauen, Boxkämpfe mit ihrem rohen Geben und Nehmen –, und alles erschien ihm gleichgültig und häßlich im Vergleich mit der erhabenen Leidenschaft, die er jetzt fühlte.
Ruth durchschaute die Situation nicht. Sie hatte keine Herzenserfahrungen. Ihr einziges Wissen in dieser Beziehung stammte aus Büchern, in denen die Geschehnisse des täglichen Lebens durch die Phantasie in das Feenreich der Unwirklichkeit verpflanzt waren. Und sie ahnte nicht, daß dieser rauhe Seemann sich allmählich in ihr Herz schlich und schlummernde Kräfte in ihr weckte, die eines Tages losbrechen und sie wie Feuerflammen durchlodern würden. Sie kannte nicht den Feuerbrand der Liebe. Ihr Wissen um die Liebe war rein theoretisch, und sie dachte sie sich als ein zahmes Flämmchen, sanft wie fallender Tau oder wie das Kräuseln eines stillen Wassers und so mild wie die samtweiche Dunkelheit der Sommernächte. Sie dachte sich die Liebe als eine ruhige, freundschaftliche Zuneigung, die dem Geliebten in einer blumengesättigten, dämmrigen Atmosphäre ätherischer Ruhe dient. Sie ahnte nichts von den vulkanischen Ausbrüchen der Liebe, ihrer sengenden, glühenden Hitze und den verheerten Wüsten voll ausgebrannter Asche. Sie kannte weder ihre eigene Macht noch die der Welt, und die Tiefen des Lebens waren für sie ein Meer von Illusionen. Die eheliche Neigung zwischen ihren Eltern war für sie das Ideal der Liebe zwischen Mann und Weib; und sie erwartete, ohne schroffen Übergang oder starke Reibungen selbst eines Tages mit einem geliebten Manne in dasselbe ruhige, angenehme Dasein hinüberzugleiten.
So kam es, daß sie in Martin Eden etwas Neues, ein fremdartiges Wesen sah und daß sie sich die Wirkung, die er auf sie ausübte, mit diesem Neuen, Fremdartigen erklärte. Das war nur natürlich. Ähnliche ungewohnte Gefühle hatte sie beim Anblick wilder Tiere in der Menagerie, bei heftigem Sturm oder beim Anblick eines Blitzes und seines blendenden Zickzacks erlebt. Es war darin etwas vom ungeheuren Weltall, und etwas vom ungeheuren Weltall war auch in ihm. Er kam zu ihr mit einem Hauch der großen Stürme und der unendlichen Räume. Die Glut der Tropensonne leuchtete auf seinem Gesicht, und in seinen schwellenden, geschmeidigen Muskeln war die Lebenskraft der Urzeit. Er trug Narben und Zeichen der geheimnisvollen Welt roher Männer und noch roherer Taten, deren Vorposten jenseits ihres Horizontes begannen. Er war ungezähmt, wild, und im geheimen schmeichelte es ihrer Eitelkeit, daß er wie Wachs in ihren Händen war. Dazu trieb sie der unwillkürliche Wunsch, das Wilde zu zähmen. Das war ganz unbewußt. Und am allerwenigsten wußte sie, daß sie ihn nach dem Bilde ihres Vaters umzuschaffen wünschte, dem Bilde, das sie für das edelste der Welt hielt. Und sie konnte in ihrer Unerfahrenheit nicht erkennen, daß das kosmische Gefühl, das er in ihr erweckte, das mächtigste des Weltalls war, die Liebe, die mit gleicher Gewalt in der ganzen Welt Mann und Weib zueinander zog, die Hirsche in der Brunstzeit zwang, einander zu töten.
Seine schnelle Entwicklung war ihr eine Quelle der Überraschung und des Interesses. Sie entdeckte ungeahnte Feinheiten in ihm, die sich Tag für Tag, wie Blumen in gutem Boden, zu entfalten schienen. Sie las ihm Browning vor und war oft erstaunt, wie eigenartig er strittige Stellen erklärte. Sie begriff nicht, daß seine auf Menschenkenntnis und Lebenserfahrung beruhende Deutung im Gegensatz zu der ihrigen meist die richtige war. Seine Auffassungen erschienen ihr naiv, obwohl sie sich oft vom kühnen Fluge seiner Erkenntnis mitreißen ließ, der seine Bahn hoch zu den Sternen nahm, wohin sie nicht zu folgen vermochte. Sie konnte nur erschauern unter dem Gefühl einer ungeahnten Macht. Dann spielte sie für ihn – nicht mehr gegen ihn – und prüfte sein musikalisches Gefühl, das weit tiefer ging, als sie mit dem ihren loten konnte. Sein Wesen öffnete sich der Musik wie eine Blume der Sonne, und er fand rasch von der Tanzmusik der Arbeiter zu den klassischen Prunkstücken, die sie fast auswendig konnte. Doch verriet er eine demokratische Vorliebe für Wagner, und als sie ihm erst den Schlüssel zum Verständnis der ›Tannhäuser-Ouvertüre‹ gegeben hatte, machte dieses Stück auf ihn einen Eindruck wie keines sonst, das sie spielte. Es schien ganz unmittelbar seinem eigenen Leben zu entsprechen. Seine ganze Vergangenheit war das Venusbergmotiv, während sie ihn mit dem Pilgerchormotiv verschmolz, und aus der ekstatischen Stimmung, in die ihn dies hob, schwebte er immer höher in das mächtige Schattenreich des suchenden Menschengeistes, wo Gut und Böse ewig streiten.
Zuweilen stellte er Fragen, die vorübergehend in ihrer Seele Zweifel erregten, ob ihre Deutung und Auffassung der Musik auch richtig war. Nie aber stellte er Fragen über ihren Gesang. Der war zu sehr sie selber, und er war immer wieder bezaubert von dem göttlichen Klang ihres reinen Soprans. Er konnte es nicht lassen, ihn mit den schwachen Stimmen und dem schrillen Trällern der schlechtgenährten, ungeübten Fabrikarbeiterinnen oder mit dem heiseren Kreischen aus den branntweinrauhen Kehlen der Weiber in den Hafenstädten zu vergleichen. Sie freute sich, wenn sie ihm vorspielen und vorsingen konnte. Es war tatsächlich das erstemal, daß sie Gelegenheit hatte, auf eine Menschenseele zu wirken, und sie arbeitete mit Entzücken in dem weichen Ton, denn sie glaubte, sie forme ihn, und meinte es gut. Im übrigen war das Zusammensein mit ihm beglückend für sie. Er stieß sie nicht ab. Jenes erste Zurückschrecken war in Wirklichkeit nur die Angst vor ihrem eigenen, bisher unbekannten Ich gewesen, und diese Furcht hatte sich jetzt gelegt. Obwohl sie sich dessen nicht bewußt war, enthielt ihr Gefühl für ihn eine Art Besitzerfreude. Dazu übte er eine belebende Wirkung auf sie aus. Ihr Studium war sehr anstrengend, und ihr war gleichsam, als ob sie neue Kräfte erhielte, wenn sie die staubigen Bücher beiseite schob und sich von der frischen Seeluft seines Wesens anwehen ließ. Kraft!
Kraft war es, was sie brauchte, und die gab er ihr in reichem Maße. In die Stube zu treten, wo er sich befand, ihm in der Tür zu begegnen, hieß für sie Erhöhung des Lebensmuts. Und wenn er gegangen war, kehrte sie mit größerem Eifer und frischer Energie an ihre Bücher zurück. Sie kannte zwar ihren Browning, hatte aber nie begriffen, daß es gefährlich ist, mit Seelen zu spielen. Als ihr Interesse für Martin wuchs, wurde es ihr zur Leidenschaft, sein Leben umzuformen.
»Sehen Sie Herrn Butler«, sagte sie eines Nachmittags, als sie mit Grammatik, Arithmetik und Poesie fertig waren. »Seine Chancen für ein Vorwärtskommen waren anfangs verhältnismäßig schlecht. Sein Vater war Bankkassierer gewesen, mußte aber viele Jahre wegen eines Lungenleidens in Arizona leben, und als er starb, stand Herr Butler – Charles Butler heißt er – allein in der Welt. Sein Vater war aus Australien gekommen, und er hatte daher keine Verwandten in Kalifornien. Er begann, in einer Druckerei zu arbeiten – das habe ich ihn oft erzählen hören – und bekam anfangs drei Dollar die Woche. Jetzt hat er ein jährliches Einkommen von mindestens dreißigtausend. Wie er das machte? Er war ehrlich, treu, fleißig und sparsam. Er versagte sich die Freuden, die die meisten Knaben haben. Er machte es sich zur Regel, jede Woche soundsoviel beiseite zu legen, einerlei, was er deswegen entbehren mußte. Natürlich verdiente er bald mehr als drei Dollar wöchentlich, und je größer sein Lohn wurde, desto mehr sparte er.
Er arbeitete am Tage, und abends ging er in die Abendschule. Er hatte den Blick stets auf die Zukunft gerichtet. Später besuchte er die Abendhochschule. Mit siebzehn Jahren verdiente er ausgezeichnet als Setzer, aber er war ehrgeizig. Er wollte Karriere machen, nicht nur sein tägliches Brot verdienen, und er fürchtete sich nicht davor, im Augenblick Opfer zu bringen, um am Ende zu gewinnen. Er entschloß sich für Jura und kam als Bote – denken Sie nur – in Vaters Büro, für einen Wochenlohn von nur vier Dollar. Aber er hatte gelernt, sparsam zu sein, und von den vier Dollar sparte er weiter.«
Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen und die Wirkung auf Martin zu beobachten. Er hörte mit großem Interesse diese Geschichte von den Schwierigkeiten, mit denen Herr Butler in seiner Jugend zu kämpfen gehabt hatte, aber irgend etwas darin erregte seinen Unwillen.
»Es muß natürlich schwer für so einen jungen Kerl gewesen sein«, bemerkte er. »Vier Dollar wöchentlich – wie konnte er denn davon leben? Sie können sich darauf verlassen, daß er keine großen Sprünge machen konnte. Ich selbst bezahle fünf Dollar wöchentlich für Kost und Logis, und Sie können mir glauben, daß beides nicht sehr großartig ist. Er muß ja gelebt haben wie ein Hund. Sein Essen – «
»Er kochte selbst«, unterbrach sie ihn, »auf einem kleinen Petroleumkocher.«
»Sein Essen muß schlimmer gewesen sein als das, was die Leute auf dem ärgsten Hochseeschiff kriegen; kaum auszudenken.«
»Aber sehen Sie sich ihn jetzt an!« rief sie begeistert. »Denken Sie, was er sich bei seinem Einkommen leisten kann! Jetzt hat er ja tausendfach Ersatz für seine früheren Entbehrungen.«
Martin sah sie scharf an.
»Auf eines möchte ich schwören«, sagte er, »nämlich, daß Herr Butler jetzt in seinen fetten Jahren nicht besonders heiter ist. Wenn er seinen Jungenmagen jahrein, jahraus mit solcher Kost gefüttert hat, so möchte ich wetten, daß sein Magen jetzt nicht mehr besonders gut ist.«
Unter seinem forschenden Blick schlug sie die Augen nieder.
»Ich möchte wetten, daß er jetzt einen ganz schlechten Magen hat!« sagte Martin herausfordernd.
»Ja, das hat er«, räumte sie ein. »Aber – «
»Und ich möchte wetten«, fuhr Martin fort, »daß er feierlich und ernst wie eine alte Eule ist und sich aus keinem Vergnügen was macht trotz seiner Dreißigtausend jährlich. Und ich möchte wetten, daß er sich auch nicht freut, wenn er sieht, wie sich andere amüsieren. Habe ich recht?«
Sie nickte zustimmend und erklärte schnell weiter:
»Aber er ist eben ein ganz anderer Mensch. Er ist von Natur aus schüchtern und ernst. So war er immer.«
»Ja, sicher!« stellte Martin fest. »Drei Dollar wöchentlich, vier Dollar wöchentlich, ein junger Bengel, der sich sein Essen selbst auf einem Petroleumkocher macht und Geld spart, den ganzen Tag arbeitet, den ganzen Abend studiert – nur arbeitet, nie spielt oder mal über die Stränge schlägt – da kommen die Dreißigtausend natürlich zu spät.«
Seine einfühlende Phantasie ließ sofort die Tausende von Einzelheiten im Dasein dieses Jungen und seine enge geistige Entwicklung zu einem Mann mit dreißigtausend Dollar jährlich vor seinem inneren Auge aufblitzen. Mit der Schnelligkeit und Weite eines umfassenden Denkens erblickte er Charles Butlers ganzes Leben in dieser Vision.
»Wissen Sie«, fügte er hinzu, »mir tut Herr Butler leid. Er war zu jung, um es besser zu wissen, aber er hat sich selbst um sein Leben betrogen, für dreißigtausend Dollar jährlich, die ihm jetzt auch nichts mehr nützen. Heute können ihm selbst die dreißigtausend nicht mehr das geben, was die zehn Cent, die er beiseite legte, ihm hätten geben können, als er noch jung war – in Form von Bonbons, Erdnüssen oder einem Billett für die Galerie.«
Diese selbständigen Gesichtspunkte waren es gerade, die Ruth erschreckten. Nicht nur, daß sie ihr neu waren und ihren Anschauungen widersprachen, sie fühlte auch stets den wahren Kern darin, und das drohte ihre eigenen Überzeugungen zu verändern oder gar umzustürzen. Wäre sie vierzehn Jahre alt gewesen statt vierundzwanzig, so hätte sie dadurch vielleicht gewandelt werden können. Aber sie war vierundzwanzig Jahre alt, konservativ von Temperament und Erziehung und schon erstarrt in der Lebensform, in der sie geboren und gebildet worden war. Allerdings beunruhigten seine bizarren Urteile sie im ersten Augenblick, aber sie schrieb sie dem Umstand zu, daß er ein ungewöhnlicher Typ war und ein sonderbares Leben geführt hatte, und sie vergaß es bald wieder. Und wenn sie seine Urteile mißbilligte, war doch gleichzeitig in der Kraft, mit der er sie vorbrachte, in seinen blitzenden Augen und seinen ernsten Zügen etwas, das sie tief bewegte und anzog. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß dieser Mann, der aus einer Welt ganz außerhalb ihres Lebenskreises kam, in solchen Augenblicken mit seiner tieferen und weiteren Auffassung sich über ihren Horizont erhob. Ihre Grenzen waren die Grenzen ihres Horizonts, aber begrenzte Geister können die Begrenzung nur bei anderen erkennen. Und daher fand sie ihren eigenen Blick sehr weit, und wo seine Anschauungen den ihren widersprachen, war es ihr nur ein Beweis seiner Begrenzung. Und sie träumte davon, ihn zu lehren, daß er mit ihren Augen sah, und seinen Horizont zu erweitern, bis er dem ihren gleich wurde.
»Aber meine Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte sie. »Mein Vater erzählt, daß Herr Butler wie kein anderer seiner Büroboten je gearbeitet hat. Er war aufs Arbeiten versessen. Er kam nie zu spät und war meistens schon einige Minuten vor der Bürozeit da. Und dennoch war er sparsam mit seiner Zeit. Jede freie Minute benutzte er, um zu studieren. Er lernte Buchhaltung und Maschineschreiben, er nahm Stenographieunterricht und bezahlte ihn, indem er nachts einem Gerichtsreporter diktierte, der Übung brauchte. Er wurde bald Schreiber und machte sich ganz unentbehrlich. Mein Vater schätzte ihn sehr und sah, daß er Karriere machen würde. Auf Vaters Anregung studierte er Jura. Er wurde Rechtsanwalt, und kaum war er wieder im Büro, da nahm Vater ihn als jüngeren Teilhaber auf. Er ist ein großer Mann. Er hat mehrmals die Wahl in den Senat der Vereinigten Staaten abgelehnt, und Vater sagt, daß er Mitglied des Obersten Gerichtshofs werden kann, sobald ein Platz frei wird – und wenn er will. Ein solches Leben ist ein Ansporn für uns alle. Es zeigt uns, daß ein Mann sich hoch über seine Umgebung erheben kann.«
»Ja, er ist ein großer Mann«, sagte Martin ernst.
Aber ihm schien, etwas an der Geschichte beleidigte sein Gefühl für Schönheit und Leben. Er konnte kein Motiv in dem Leben des Herrn Butler finden, das sein Darben und Sparen gerechtfertigt hätte. Wäre Liebe oder Schönheitsdrang der Grund gewesen, so hätte Martin es verstanden. »Gottes erkorener, wahnsinngeschlagener Liebender« durfte alles tun für einen Kuß, aber nicht für dreißigtausend Dollar jährlich. Der Aufstieg Butlers befriedigte ihn nicht. Es war, trotz allem, etwas Jämmerliches daran. Dreißigtausend Dollar jährlich mochten ganz schön sein, aber ein schwacher Magen und die Unfähigkeit, froh zu sein wie andere Menschen, raubten solchem fürstlichen Einkommen doch allen Wert.
Vieles hiervon versuchte er Ruth zu erklären, doch verletzte er sie dadurch nur und zeigte ihr deutlich, daß er weiterer Ummodlung bedurfte. Sie besaß die weit verbreitete Kurzsichtigkeit, die die Menschen glauben läßt, daß ihre Farbe, ihr Glaube und die Politik, die sie für richtig halten, die alleinseligmachenden sind, und daß die anderen über die Welt verstreuten menschlichen Geschöpfe weniger glücklich daran sind als sie selber.
Es war dieselbe Beschränktheit, die jenen alten Juden Gott danken ließ, daß er nicht als Weib geboren war, und die den modernen Missionar zu den äußersten Grenzen der Welt schickt, um Gott zu vertreten; und sie gab auch Ruth den Wunsch ein, diesen Mann, der aus ganz anderen Lebensbereichen kam, so umzubilden, daß er einem Mann ihrer eignen Schicht glich.